Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Advent, 8. Dezember 2002
Predigt über Lukas 21, 25-33, verfaßt von Hans-Hermann Jantzen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde,

die Körpersprache verrät viel über einen Menschen. Wer aufrecht und mit offenem Blick unter die Menschen geht, ist in der Regel 'gut drauf' und mit sich und der Welt im Reinen. Wer gebeugt durch die Gegend geht und die Schultern hängen lässt, ist vermutlich unzufrieden oder von Sorgen geplagt. Wer seinem Gesprächspartner mit gesenktem Blick gegenüber steht und nicht wagt, ihm in die Augen zu schauen, hat Angst vor sich selber und anderen.

Wer fröhlich und mit sich und der Welt im Reinen ist, wird aufrecht und mit offenem Blick unter die Menschen gehen. Wer unzufrieden oder von Sorgen geplagt ist, geht eher gebeugt und lässt die Schultern hängen. Wer Angst vor sich selber und anderen hat, hält den Blick gesenkt und wagt es nicht, seinem Gegenüber in die Augen zu schauen.

Die Botschaft des 2. Adventssonntags ist eindeutig: "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!" Mir ist es wichtig, diesen Satz an den Anfang zu stellen, damit die Zielrichtung klar ist. Die vorhergehenden Sätze in diesem 21. Kapitel des Lukasevangeliums sind ja eher dazu angetan, den Kopf einzuziehen und sich wegzuducken. In düsteren Farben malt der Evangelist die Zeichen der Zeit an die Wand. Eine Zeit voller Angst und Schrecken. Der Tempel in Jerusalem ist von den römischen Truppen zerstört worden. Die junge Christengemeinde muss sich auf schlimmste Verfolgungen gefasst machen. Erdbeben und Hungersnöte gehen durch die Nachrichten. Alles das nimmt Lukas auf und verwebt es mit gängigen jüdischen Endzeitvorstellungen zu seiner sog. "Kleinen Apokalypse", die er Jesus als Predigt in den Mund legt. Und als es gerade so richtig dicke kommt: "...und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde!" (V. 26a), da plötzlich diese überraschende Wende: "Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht." So spricht einer, der weiter sieht als das, was vor Augen liegt. Der sich die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nicht kaputt machen lässt. So spricht einer, der nicht Angst machen und einschüchtern, sondern Mut machen will, Mut zum Leben, Mut zur verantwortlichen Gestaltung dieser Welt.

Damals wie heute haben apokalyptische Szenarien für viele Menschen etwas Faszinierendes. Wie gebannt starren sie auf die Zeichen des Niedergangs und empfinden dabei ein wohliges Schaudern. Entsprechende Filme haben großen Zulauf. Einschlägige Bücher bescheren den Verlagen hohe Auflagen. Wen wundert's, dass sich in unserer Gesellschaft eine gedrückte, depressive Grundstimmung breit macht. Jammern und Klagen stehen hoch im Kurs. Manchmal mischt sich auch eine zynische Lust am Untergang darunter. So habe ich die Aktion von NDR 2 vor zwei Wochen empfunden. Da wurde der Totensonntag zum 1. Advent erklärt. Ab sofort 5 Adventssonntage, 5 Kerzen auf dem Adventskranz, 25 % mehr Glühwein, 25 % mehr Kaufrausch... Einmal abgesehen von der eigenartigen Mathematik: es war durchaus nicht so klar, dass es sich um Satire handelte, wie die Programmmacher die vielen empörten Anrufer glauben machen wollten. Viele Geschäftsleute, die in der Sendung interviewt wurden, nahmen die Idee jedenfalls begierig auf. So sollte man auch nicht im Spaß mit unserer Gedenk- und Feiertagskultur umgehen. Und wenn sich als wahr herausstellt, was man aus Redaktionskreisen hören kann, dass die nächste Aktion "Ostereier am Karfreitag" bereits geplant ist, dann kann ich nur sagen: Lasst uns NDR 2 boykottieren! Solche öffentlich-rechtlichen Sender brauchen wir nicht.

Ob nun Lust am Untergang oder Verbreitung von Angst und Schrecken; Zynismus oder Depression: wie anders ist doch die Botschaft des Advent! "Augen auf, Kopf hoch!" So ließe sich die Ausrichtung der Predigt Jesu auf den Punkt bringen. "Augen auf! Kopf hoch!" Und damit gibt er der lähmenden apokalyptischen Stimmung seiner und unserer Zeit einen ganz neuen Akzent. "Bei allem Chaos und Verfall; in allen Veränderungen und Umbrüchen könnt ihr wachen Auges und erhobenen Hauptes die Welt als Gottes Welt wahrnehmen und sie im Sinne Gottes gestalten. Nicht die Hände in den Schoß legen und abwarten, ist die Devise, sondern sich einmischen. Mischt euch ein! Setzt Gerechtigkeit und Nächstenliebe auf die Tagesordnung der Welt. Gottes Reich hat schon angefangen, hier mitten unter euch! Und auch wenn alles um euch her vergeht, das bleibt, das hat Bestand: Ihr seid Gottes geliebte Kinder! Selig seid ihr! Euer Hunger und Durst nach Leben wird gestillt; ihr werdet getröstet; eure Schuld wird vergeben; Gott wird sich mit euch versöhnen und mitten unter euch wohnen."

Und so zielt unser Predigtabschnitt auf den ermutigenden Satz: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht." Wenn man den griechischen Urtext genau liest, muss man das im Deutschen eher noch verstärken: "Meine Worte werden ganz gewiss nicht vergehen!" Die Worte Jesu - wie das Wort Gottes in der Bibel - sind nicht bloße Worte, Schall und Rauch, sondern setzen eine neue Wirklichkeit. "Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch!" Da klingt mit, was wir aus einem anderen 21. Kapitel (Offb. des Joh.) kennen: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen... Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!"

Liebe Gemeinde, hören Sie den anderen Zungenschlag? Spüren Sie den neuen Geist, der in solcher Art Apokalypse weht? Es geht Jesus nicht um Zukunftserwartung, schon gar nicht um Zukunftsangst. Er gibt seinen Freunden kein endzeitliches Programm an die Hand. Es geht ihm um Jetzterwartung. Jetzt ist das Himmelreich da! Jetzt ist der Tag des Heils! Kopf hoch und Augen auf, damit ihr ihn nicht verpasst.

Ist das nicht bloß Pfeifen im dunklen Wald? Hab ich nur die rosarote Brille des Berufspredigers aufgesetzt? Sehe ich denn nicht die Zeichen an den Wänden unserer Zeit? Die Sprenggürtel der Selbstmordattentäter; die Panzer, die alles platt machen; die Spur der maroden Öltanker auf den Weltmeeren, die Tod an unsere Strände spült; der Tabakqualm, für den bald nicht mehr geworben werden darf, der aber das Staatssäckel ansehnlich füllt - Zeichen einer irrsinnigen Welt mit Leichengeruch. Terror und Gewalt; Fremdenhass; Habgier und Egoismus - das kann doch nur in den Untergang führen. Wo bleibt die Erlösung? Wo sind die Zeichen der neuen Welt?

"Er sagte ihnen aber ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst ihr, dass das Reich Gottes nahe ist." Der Feigenbaum, bekannt dafür, dass er zuerst Blüten und dann Blätter treibt; der Sommer, der in Palästina ziemlich schlagartig kommt: ein anschauliches Bild dafür, dass es darauf ankommt, acht zu geben, aufzupassen, wann es so weit ist; wo sich Zeichen des beginnenden Gottesreiches zeigen.

Die Blüten können klein und unscheinbar sein: das unvermutete Lächeln in der vorweihnachtlichen Hektik; ein stiller Händedruck und ein Gebet am Krankenbett; die warme Suppe und das Gespräch in der Herberge zur Heimat; die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Konfirmanden plötzlich die Geschichte vom verlorenen Sohn lesen. Es gibt nicht nur Zeichen des Untergangs. Auch für Gottes versöhnendes und rettendes Handeln gibt es Zeichen. Augen auf und Kopf hoch! Denn Gott ist nahe. So feiern wir Advent als Fest des kommenden Gottes. Als Fest der nahenden Erlösung. Als Fest des Lebens.

Von einem besonderen Fest des Lebens erzählte kürzlich unsere Landesbischöfin vor der Synode. Als sie im Sommer dieses Jahres das evangelische Hospital Lilienthal besuchte, führte eine Theatergruppe schwer Behinderter das Stück "Räuber Hotzenplotz" auf. Räuber Hotzenplotz rast im elektrischen Rollstuhl auf die Großmutter zu und ruft: "Gib die Kaffeemühle her!" Die Großmutter brüllt zurück: "Nee, die kriegst du nicht!" Räuber Hotzenplotz, verunsichert: "Mann, ich bin doch nicht blöd!", Da ruft Seppel von der Seite: "Na klar bist du blöd, Birgit!" Großes Gelächter im Publikum. Räuber Hotzenplotz entwendet nun der Großmutter fast gewalttätig die Kaffeemühle und rast mit dem Rollstuhl wütend davon. Kasper taucht auf und fragt: "Großmutter, hat der Räuber Hotzenplotz etwa die Kaffeemühle geklaut?" Die Großmutter verschränkt die Arme und sagt verärgert: "Nee, das war Birgit." Die Heiterkeit im Publikum erreicht schließlich ihren Höhepunkt, als Kasper und Seppl gefangen sind und die Großmutter bitten: "Du musst uns retten!" und die sich weigert: "Denkste, Puppe!" So endete die Vorstellung mit tosendem Beifall.

Ein Fest des Lebens. Ein Fest unbändiger Lebenslust bei denen, denen auch in unserm Land schon einmal das Recht auf Leben abgesprochen wurde. Eine Blüte am Feigenbaum. Zeichen des herannahenden Gottesreiches. Adventliches Zeichen mitten im Sommer. "Wenn aber dies anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht."

Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent in Lüneburg
Hasenburger Weg 67
21335 Lüneburg
Hans-Hermann.Jantzen@evlka.de

 


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