Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Advent, 1. Dezember 2002
Predigt über Matthäus 21, 1-11, verfaßt von Paul Kluge
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Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus
2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir!
3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
4 Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
5 "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers."
6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf.
8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
9 Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! (Ps 118,25-26)
10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?
11 Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.

Liebe Schwestern und Brüder,

das, was uns das Matthäus-Evangelium hier berichtet, möchte ich nacherzählen - und zwar aus der Sicht eines Mannes, der in der Geschichte nicht vorkommt, den es aber durchaus gegeben haben kann: Ein Tagelöhner des Bauern, dem der Esel gehörte:

Also, da steht er nun am Rande des Dorfes, steht da seit dem frühen Morgen mit der Eselin seines Bauern und deren Füllen, und weiß eigentlich gar nicht genau, warum er da steht. "Da kommen heute zwei Männer und holen die Tiere," hatte der Bauer ihm gesagt. "Frag sie dann, was sie damit wollen, und wenn sie sagen 'Der Herr braucht sie', dann sind es die richtigen Leute. Mehr brauchst du nicht zu wissen, das wäre nicht gut für dich. Deinen Tagelohn bekommst du wie immer."

Er ist losgezogen, hat die Tiere angebunden und gewartet. Es ist Mittag geworden, und noch immer ist nichts geschehen. Er setzt sich in den Schatten, kramt sein Brot hervor, trinkt ein paar Schluck Wasser und döst ein.

Stimmen dringen in seinen Schlaf, unruhiges Treten der Eselin, ängstliche Rufe des Füllens. Er schüttelt sich wach, die Sonne steht schon tiefer. Zwei Männer machen sich an den Tieren zu schaffen. "He, was wollt ihr?" ruft er sie an, und sie erschrecken, haben ihn wohl gar nicht bemerkt. "Wir sollen sagen: Der Herr braucht sie," ruft ihm der eine zu, ein Draufgängertyp, mit dem er sich besser nicht anlegt. "Ist in Ordnung," antwortet er und schließt die Augen wieder. Aber nicht, um weiter zu schlafen, sondern um die beiden zu täuschen.

Die ziehen mit den Tieren los, was nicht ganz einfach ist, denn die Eselin kennt sie nicht, ist störrisch. Der Tagelöhner wartet ein wenig, dann rappelt er sich auf, geht den beiden Männern und den Tieren nach. Er will wissen, was da vor sich geht, was diese geheimnisvolle und offenbar verabredete Eselsübergabe bedeutet. Er hält sich am Rand der Straße, sucht Deckung hinter Büschen und Bäumen.

Knapp eine Meile ist er gegangen, als er Stimmen hört, ein Gewirr von Stimmen. Es müssen viele Menschen sein, die solch einen Lärm verursachen. Bedrohlich klingt das nicht, eher wie ein Hochzeitszug, fröhlich und zuversichtlich.

Er klettert auf einen Baum, hält Ausschau: Eine Gruppe von vielleicht fünfzig, vielleicht auch hundert Menschen nähert sich, und vorneweg auf einem Esel, auf seinem Esel ein jüngerer Mann, so Anfang bis Mitte dreißig. Das Füllen trabt nebenher wie immer.

So etwas habe ich doch schon mal gehört, denkt er und grübelt. Richtig, in der Synagoge, bei irgendeinem der Propheten ist solch eine Szene beschrieben: Ein siegreicher König zieht ein, hat die Feinde vertrieben, die Großmacht, die das Land ausbeutet und seine Menschen unterdrückt. Der König, der so einzieht, ist ein Friedenskönig; er wird alle Waffen vernichten und den Armen Gerechtigkeit verschaffen. Als sie in der Synagoge über diesen Text diskutierten - er erinnert sich jetzt: der steht bei Sacharja - da hatte einer gemeint: Genau so werden auch die römischen Besatzer aus unserem Land vertrieben, und unser Land wird keine Kolonie mehr sein, sondern frei, und die Bürger sind wieder Herren im eigenen Land.

Den Tagelöhner überläuft es heiß und kalt: Sollte sich dort ein Trupp Freiheitskämpfer nähern und mit ihrem Anführer die Vision des Propheten inszenieren? Sollte zum bevorstehenden Passahfest die große Befreiung aus der Knechtschaft geschehen, nach der sich das ganze Volk sehnt?

Seine Neugier wächst, Angst und Hoffnung kämpfen in ihm, und er sitzt wie gebannt auf dem Baum, als der Zug näher kommt.

Kinder sind auch dabei, laufen vor dem Esel und seinem Reiter her, singen, hüpfen, klatschen in die Hände. Ein größerer Junge läuft vor, genau auf den Baum des Tagelöhner zu, reißt Zweige ab. Zieht an dem Ast, auf dem der Tagelöhner sitzt. Der verliert seinen Halt - und plumpst dem Jungen direkt vor die Füße. Wie in Panik rennt der mit seinen Zweigen davon. Der Mann auf dem Esel bricht in schallendes Gelächter aus, andere lachen mit, und auch der Tagelöhner kann nur noch lachen.

"Komm mit," ruft ihm der auf dem Esel zu, "wir ziehen nach Jerusalem, zum Passahfest," und schon befindet er sich mitten in der Menge. Jemand bietet ihm ein Stück Brot an, ein anderer etwas zu trinken.

Bald schon nähert sich der Zug dem Dörfchen Bethphage, Feigenhausen, erregt Aufsehen zuerst bei den Kindern, die in die Häuser laufen und die Eltern rufen. Die Dorfstraße füllt sich, auch der Bauer, dem die Tiere gehören, erscheint, geht auf den Esel zu - und legt dem Reiter kurz den Arm um die Schulter. "Die müssen sich kennen," denkt der Tagelöhner, "sollte mein Herr zum Widerstand gehören?"

Der Junge mit den Zweigen hat sich nach vorn gedrängt, fängt an, das frühlingsfrische Grün auf den Weg zu streuen. Das steckt an, kein Baum, kein Strauch ist mehr vor den Kindern sicher; die rupfen und streuen, rupfen und streuen, bis ein grüner Teppich entsteht.

Da kommt auch die Frau des Bauern, in der Hand die Zither, auf der sie so gern spielt. Sie fängt an ein Lied zu singen, eine Stelle aus einem langen Lied nur, singt die Stelle immer wieder, bis alle einstimmen: "Hosianna dem Sohn Davids, gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, Hosianna in der Höhe."

Dieses Lied ist auch dem Tagelöhner gut bekannt: Ein Psalm, der von der Macht Gottes singt und von der Ohnmacht der Fürsten und Könige, vom Sieg der Unterdrückten über die Unterdrücker; ein Psalm, der von Freiheit singt und von Gerechtigkeit, vom verworfenen Stein, der zum Eckstein wird.

Sie singen das Lied jetzt von Anfang an, laut stimmt er in den Gesang mit ein. Neben ihm geht nun sein Bauer, sie sehen sich an, lachen einander zu, haken sich unter. Singend ziehen sie in Richtung Jerusalem, und es scheint, daß ganz Bethphage sich in den Zug eingereiht hat. Je näher sie der Stadt kommen, um so größer wird der Zug, und immer wieder singen sie den Psalm von Freiheit und Gerechtigkeit, die Gott für sein Volk will: Hosianna dem Sohn Davids! Hilf doch, Gott in der Höhe, gib Heil deinem Volk, Vater im Himmel! Schaffe Freiheit den Unterjochten, den Armen Gerechtigkeit. Du bist König, und dir gehört die Herrschaft!

Als sie sich der Stadt nähern, sind die Tore noch geöffnet, singend ziehen sie ein, sogar der Zöllner vom Tor schließt sich ihnen an. Und kein römischer Soldat weit und breit. "Das verheißt nichts Gutes," denkt der Tagelöhner, aber sein Bauer hakt ihn fester unter, beide singen noch etwas lauter und ziehen weiter, ziehen mit der Schar von nun vielen hunderten geradewegs zum Tempel.

Die städtische Bevölkerung Jerusalems guckt leicht verwundert. Es ist zwar nichts ungewöhnliches, daß einfaches Landvolk zum Passahfest nach Jerusalem wallfahrtet, und das sind schon manchmal merkwürdige Gestalten. Aber solch einen Aufzug haben sie noch nicht erlebt. Der Mann auf dem Esel - sie alle erkennen die Symbolkraft. Und der Psalm verstärkt sie noch. "Wer ist das?" fragen sie die einziehenden Leute und zeigen auf den Mann auf dem Esel. "Jesus von Nazareth, der Prophet aus Galiläa," heißt die Antwort, und bibelfeste Frager verstehen: "Aus Galiläa kommt der Friedefürst, und das Volk, das im Finstern wandelt, wird ein großes Licht sehen." So hatte es Jesaja verheißen. Doch bevor sie weiterfragen können, hat die Menge sie mitgerissen, und bald singen auch sie: Hosianna dem Sohn Davids! Hilf doch, Gott in der Höhe, gib Heil deinem Volk, Vater im Himmel! Schaffe Freiheit den Unterjochten, den Armen Gerechtigkeit.

Amen

Gebet:
Liturg: Großer Herr, o starker König, die Erinnerung an deinen Einzug in unsre Welt macht uns schmerzlich deutlich, wie wenige Menschen dich als König anerkennen und nach deinem Recht zu leben bereit sind. Krieg und Gewalt sind ebenso an der Tagesordnung wie Not und Elend. Menschen werden in ihren Rechten beschnitten und in ihrer Würde verletzt. Für deine Menschheit bitten wir dich:

Gemeinde: Laß uns den Weg der Gerechtigkeit gehn. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme (in mehreren Ausgaben des EG zu finden)

Liturg: Großer Herr, o starker König, die Erinnerung an deinen Einzug in unsre Herzen macht uns schmerzlich deutlich, wie wenig wir dich als König anerkennen und nach deinem Recht zu leben bereit sind: Neid und Mißgunst sind bei uns ebenso an der Tagesordnung wie Zorn und Gehässigkeit. Gern übervorteilen wir andre und drängen uns vor. Für uns selbst bitten wir dich:

Gemeinde: Laß uns den Weg der Gerechtigkeit gehn. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.

Liturg: Großer Gott, o starker König, dein Einzug erinnert uns daran, daß du zu den Unterdrückten und Entrechteten gekommen bist und kommen willst, um den Armen Gerechtigkeit zu verschaffen und alles, was recht ist. Hilf, das auch die heute eröffnete neue Aktion "Brot für die Welt" mit unserer Hilfe den Armen wieder Hoffnung und Zuversicht gibt, ihr Leben in Würde führen zu können. Für diese Menschen bitten wir dich:

Gemeinde: Laß uns den Weg der Gerechtigkeit gehn. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.

Liedvorschlag:
Nun jauchzet all, ihr Frommen, EG 9; Mit Ernst, o Menschenkinder, EG 10; Wie soll ich dich empfangen, EG 11; Tochter Zion, EG 13; Dein König kommt in niedern Hüllen, EG 14; Nun saget Dank, EG 294

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der
Kirchenprovinz Sachsen
Postfach 54, 39028 Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de

 


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