Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Advent, 1. Dezember 2002
Predigt über Matthäus 21, 1-9, verfaßt von Jørgen Demant
(Übersetzung aus dem Dänischen)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

"Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, daß der König der Ehre einziehe!" (Ps. 24).

Wir haben von der hohen Tür gesungen. Jesus reitet durch das Tor nach Jerusalem hörten wir im Evangelium.

Wir deuten unser Leben mit Hilfe von Bildern. Das Tor ist das Bild für diesen Sonntag im Advent. Die Tür oder das Tor ist das Bild für den Übergang, den Zwischenzustand.

Wir kennen Tore und Türen aus unserem eigenen Leben.

Die Tür der Heimat. Die Tür des Übergangs zu der fremden Welt. Man steht in der Tür und ist gefangen von der Erinnerung an das, was in der Heimat war: Geborgenheit, Fürsorge, Bekanntheit. Daß nichts in Frage gestellt wurde. Alles ruht in sich selbst. Die Wände stehen dort, wo sie stehen. Und die Menschen sind so, wie sie immer sind. Wem wird nicht bei dieser Heimattür ein Stich durchs Herz gehen, wenn er über die Schwelle zum Neuen und Unbekannten tritt.

Und dann ist da die Tür der Sehnsucht. Kennt Ihr nicht das Bild vom Mädchen am Fenster. Man sieht sie von hinten. Sie steht auf den Zehen und streckt den Kopf und lehnt sich aus dem Fenster. Und was sieht sie? Ja, wir, die hinter ihr stehen, sehen blauen Himmel und den Teil eines Schiffmastes. Ein Schiff kommt vorbei im Kanal unten. Wir sehen nicht das ganze Schiff, sondern nur ein Teil davon. Genug, um uns selbst das Gefühl zu geben, das das Mädchen hat: Das Gefühl der Sehnsucht und des Fernwehs. Sie hat längst das Bekannte und Heimatliche verlassen. Sie ist draußen im fremden Hafen. In der anderen und freien Welt. Die Sehnsucht ist das Pfand dafür, daß die Verheißung wahr ist: Das Glück ist größer als Du ahnst und träumst. Du wirst größere Dinge sehen. Die Sehnsucht ist mit der Verheißung verlobt. Die Verheißung hat ihre Triebkraft in der Sehnsucht, und sie bewahrt den Sinn für eine andere Sicht des Daseins. Es wird immer ein Schiffsmast hinter dem Fenster und ein blauer Himmel dasein.

Und war da die Frau, die ein Steintor setzte. Das Schicksalstor, eine Steinsäule über sich selbst. Das Tor über der Frau Lots, die sich über die Schulter umsah, um zu sehen, was sie verlassen hatte. Sie konnte das Gebot nicht einhalten, sich nicht umzublicken. Sie war nicht imstande, sich von der Vergangenheit zu lösen. Kreiste um das, was war, und vermochte nicht, den Blick auf etwas anderes Neues zu richten. Ihr Tor steht wie das Tor über dem versteinerten Menschen - des Menschen, der von der Last des Schicksals erdrückt und eingeschlossen wird. Nicht fähig, den Hinterhalt zu überschreiten, in dem sie das Leben eingefangen hat. Das Tor des Gefängnisses.

Und dann ist da das Tor der Liebe. Das Tor, das ich mit einem anderen Menschen bilde. Zwei Menschen einander gegenüber in Wundern und Hingabe, Geben und Nehmen. Im Tor reicht man einander und wird erwidert. In Nähe, die das Leben fließen läßt.

Und schließlich ist da das Tor des Todes. Das Tor zu dem Ort, an dem die Lebensreise aufhört. In einem südjütländischen Dorf besteht die Sitte, wenn der Sarg aus der Kirche hinaus auf den Friedhof getragen wird, um kirchlich beerdigt zu werden, daß man in der Kirchentür stehen bleibt und den Sarg in der Türöffnung am Übergang vom Land der Lebenden zur Stätte der Toten ruhen läßt. An der Schwelle zwischen der Welt der Menschen zum Friedhof läßt man sich den Frieden der Ewigkeit über den Toten senken. Der Tote ist nun nur bei Gott.

Wir errichten Tore in unserem Leben. Große und kleine Tore. Schmale und breite Tore. Königs- und Königinnentore. Traumpforten. Gefängnistore, Liebestore. Pforten des Todes. Wir sind in einer ständigen Bewegung von einem Zustand in den anderen. Von der existentiellen Situation zu der anderen, von Leben zu Leben.

Sieht man auf die Religionsgeschichte, wird man sehen, daß das Tor ein häufig gebrauchtes Bild in fast allen Religionen ist. Es symbolisiert den grundlegenden Gedanken von der menschlichen Existenz: Der Mensch ist ein unfertiges und offenes Wesen. Er wird immer wieder geboren, nämlich geistlich. Der Mensch wird in den meisten Religionen als ein Wesen geschildert, das unterwegs ist. Von einem unvollkommenen zu einem vollkommenen Zustand.

Das Christentum teilt den elementaren Gedanken in dieser religiösen Lebensauffassung. Und fügt dann hinzu: Die uralten Tore erhalten mit Christus eine neue Bedeutung. Die wichtigste ist im Evangelium für den heutigen Sonntag enthalten über den Einzug in Jerusalem. Von Jesus, der auf einem Esel durch eines der Tore Jerusalems reitet.

Jesus inszeniert einen Eselsritt durch ein Tor. Das Tor ist die heilige Stätte. Und im Tor begegnet der Heilige - der Sohn Gottes - den Menschen. Gott auf dem Rücken eines Esels durch das Tor. Zu Menschen in Augenhöhe. Wo das Tor vor Jesus ein Tor für den erhabenen König war, der in Ehrfurcht und Distanz anzubeten ist, können wir nun Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen. In der Nähe der Liebe und der Gegenwart der Nähe.: Wo Du bist, da bin auch ich. Und wo Du bist, bin ich bei Dir mit mir selbst: Du redest und ich höre und antworte. Ich rede und Du hörst und antwortest. Das ist das Verhältnis zwischen Gott und mir nach dem Einzug.

An dem Tage, als Jesus durch das Tor nach Jerusalem reitet, verwandelte sich der Inhalt der Architektur sich nicht wegen eines Umbaus, sondern wegen einer Person: Das Tor der Furcht wurde zu einem Tor die Liebe.

Die Begegnung zwischen Gott und mir im Tor der Gnade oder der Barmherzigkeit entspricht dem. Es geht nicht mehr darum, daß Gott der Erhöhte ist und ich der Niedrige. Wir sind auf Augenhöhe. Christushöhe. Es handelt sich nicht mehr darum, daß der andere Macht hat und ich keine. Wir haben beide Macht - Macht zu geben und zu empfangen.

Advent heißt Kommen. Da ist Bewegung. Unablässig. Unabgeschlossen zwischen Gott und mir, zwischen mir und meinem Nächsten. Kommen in Liebe heißt einander ausgeliefert sein - sich in Offenheit vorbehaltlos hingeben. Auf Gott und den Nächsten hören. Eingehend zuhören und antworten. Das andere Gesicht und seine Sprache lesen. Vorbehaltlos. Ohne Angst und Feigheit.

Was dann mit unseren eigenen Toren, die wir setzen? Verschwinden sie hiermit nach dem Kommen Christi? Nein! Sie sind noch immer die Tore der Heimat, der Sehnsucht, der Scham und der Schuld, die Tore der Liebe und des Todes. Sie stehen auch noch, nachdem Du das Tor der Kirche heute verlassen hast.

Advent bedeutet also Kommen - Bewegung. Sein Kommen zu Dir, Christi Kommen. Und Du kannst zu ihm kommen. Er ist sanftmütig an jedem Tor, wenn Du kommen und ihm begegnen willst. Schreist Du vor Sehnsucht und Fernweh: Er spricht sanftmütig zu Dir, damit Du nicht betrogen wirst. Er spricht verheißungsvolle Worte zu Dir.

Quälen Dich Schuld und die Last der Scham, er sieht in Dir mehr als nur einen Schuldigen. Sieht Dich so, als wäre es das erste Mal, daß er dich seht, wo Du ihn offen sahst, ohne die Augen niederzuschlagen. Am Tor der Liebe zwischen Dir und Deinem Nächsten bemerkst Du ihn gar nicht, denn da ist alles so, wie es sein soll. Um am Tor des Todes kannst Du seiner Gegenwart gewiß sein. Sein und unser Vater nahmen selbst den Stein vom Tor des Todes. Die Osterbotschaft vom Stein, der vom Eingang zum Grabe des Todes gewälzt war, ist Pfand dafür, daß wir heute hier sind, Advent feiern und singen können: Gelobt sei der, der da kommt im Namen des Herrn! Amen.

Jørgen Demant
Hjortekærsvej 74
DK-2800 Lyngby
email: j.demant@wanadoo.dk


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