Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin
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"Unser Vater im Himmel, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden!"
Nydeggpredigt am 28. Oktober 2001

Liebe Gemeinde, zunächst sagt uns Jesus mit der dritten Bitte des Unservaters etwas über den Himmel. Der Himmel ist der Ort und die Zeit, wo Gottes Wille heute schon geschieht. Dabei stossen wir freilich sofort an die Grenzen menschlicher Vorstellung; denn "Ort" und "Zeit" sind Kategorien, Rahmenbedingungen menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung. Ausserhalb von Orten und Zeiten können wir uns nichts vorstellen; unser ganzes Denken und Sprechen ist begrenzt durch Raum und Zeit. Gott aber und sein Wirken ist nicht begrenzt durch Raum und Zeit. Es umfasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verbindet sie miteinander. Der Himmel ist, wo Gottes Wille heute geschieht, so wie er im Anfang geschehen ist und in Zukunft und sich vollenden wird.

Man könnte auch sagen: Der Himmel ist die uns noch verborgene Seite der Wirklichkeit. Und das, liebe Gemeinde, ist doch die grosse und befreiende Perspektive des Glaubens: Unsere Erde, auf der Gottes Wille noch nicht geschieht, wie er im Himmel schon geschieht, und auf der es deshalb so viel Not und Leid, Gewalt und Angst gibt, diese Erde ist nicht das Ganze, nicht alles. Sie ist umgeben vom Himmel, von der unsichtbaren Welt Gottes.

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Jesus, der uns das Unservater-Gebet gelehrt hat, hat mitten der Realität der Erde gelebt aus der verborgenen Wirklichkeit des Himmels und im Vertrauen auf sie. Und so ist in seinem Leben, in seinen Worten und Taten, in seinem Sterben und Auferstehen Gottes Wille auch auf der Erde geschehen, wie er im Himmel geschieht. Und so hat er in diese Erde den Keim einer unzerstörbaren Hoffnung gelegt. Er hat gezeigt und gelebt, dass das, was uns unmöglich scheint, möglich ist: Gottes Wille kann auf Erden geschehen wie im Himmel!

Wer zusammen mit Jesus betet: "Unser Vater im Himmel, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden", der stiehlt sich nicht aus der eigenen Verantwortung. Die Bitte nimmt ihn selber in Pflicht. Man kann ja nicht im Ernst um etwas beten, wofür man nicht selber auch einsteht. Wenn wir darum beten, dass Gottes Wille auf der Erde geschieht, dann machen wir uns zu Gottes Verbündeten, zu seinen Bundesgenosse, seinen Freunden und Freundinnen, die selber das grösste Interesse haben, dass sein Wille geschieht. Der Wille des Vaters im Himmel wird seinen Kindern auf Erden zum Herzensanliegen, zur Lebensmotivation. Wer im Ernst so betet, der sagt damit doch: Wir wollen, dass dein Wille auf Erden geschieht, und wir werden tun, was in unseren Kräften und Möglichkeiten ist, damit dein Wille geschieht.

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Damit wird auch ein Missverständnis ausgeräumt, das die dritte Bitte des Unservaters oft begleitet und das seinen Niederschlag in christlicher Erbauungsliteratur und im Gesangbuch gefunden hat. Es ist das fatale Missverständnis, diese Bitte habe das ergebungsvolle Hinnehmen aller nur denkbaren Schicksalsschläge zur Folge, das Missverständnis, das Unglück, Katastrophen, Kriege, Verkehrsunfälle, Krankheiten, den Tod von Kindern usw. als unerforschlichen Willen Gottes hinnimmt. Das Missverständnis, gegen das zum Beispiel Kurt Marti in seinen "Leichenreden" österlichen Protest eingelegt hat:

"dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
dass gustav e. lips
durch einen Verkehrsunfall starb

erstens war er zu jung
zweitens seiner frau ein zärtlicher mann
drittens zwei kindern ein lustiger vater
viertens den freunden ein guter freund
fünftens erfüllt von guten ideen
.....
dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
dass einige von euch dachten
es habe ihm solches gefallen

im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand:
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips

Die Bitte, dass Gottes Wille auf Erden geschehe, wie sie im Himmel schon geschieht, hat also wohl mit Protest und Widerstand mehr zu tun als mit frommem Akzeptieren von Zuständen und Ereignissen, die Menschen bedrücken, krank machen und am Leben verhindern. Als Jesus im Garten Getsemane im Wissen darum, was auf ihn zukam, betete: "Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe!", hat er sich gerade nicht passiv in ein unabänderliches Schicksal gefügt - er hat seinen Weg gewählt: den Einspruch gegen Menschengewalt ohne Gegengewalt, den Einsatz des Lebens für das Leben.

*

Wer darum betete, dass Gottes Will auf Erden geschehe, der setzt sich selber dafür ein, dass die Bitte in Erfüllung geht. Er wird zum Erfüllungsgehilfen Gottes (in diesem Zusammenhang mag das Wort "Erfüllungsgehilfe" vielleicht rehabilitiert werden). Und das legt nun ein anderes, wohl noch fataleres Missverständnis nahe. Denn wie oft geben Menschen das, was sie wollen, ihre eigenen Ansprüche, Pläne und Absichten, als Gottes Wille aus. Sie verfolgen ihre eigenen - persönlichen, politischen, nationalen, ethnischen, wirtschaftlichen - Interessen und sehen sich dabei als Vollstrecker göttlichen Willens. Es ist die Versuchung, der wohl jede Religionsgemeinschaft ausgesetzt und leider auch erlegen ist, die christliche nicht ausgenommen. Man denke an die Kreuzzüge des Mittelalters, an Inquisition und Glaubenskriege, an die Verknüpfung von Mission mit kolonialer Ausbeutung, an Nordirland, an die Taliban, an christlichen, jüdischen, muslimischen, an jedweden religiösen Fundamentalismus. Selbst in biblischen Schriften, weil auch sie von Menschen geschrieben wurden, finden sich die Spuren dieses Missbrauchs. Wo immer Menschen und Menschengemeinschaften ihre eigenen Macht- und Besitzansprüche an Gottes Wille ausgeben und als dessen Vollstrecker agieren, werden Religionen intolerant und lebensfeindlich. Gott wird zum menschenfressenden Götzen.

Auch gegen dieses Missverständnis und diesen Missbrauch ist Jesus mit seinem Wort und seiner Tat, mit seinem ganzen Leben eingetreten. Er hat sich mit seiner eigenen Religion kritisch auseinandergesetzt. Er hat klar unterschieden zwischen dem befreienden, versöhnenden und lebensfreundlichen Willen des himmlischen Vaters und dem, was die religiösen Autoritäten seiner Zeit daraus gemacht haben. Er hat die Menschen herausgerufen und ihnen herausgeholfen aus den Zwängen einer Angst machenden Religion. Er hat sie befähigt, ihre eigene Sprache wiederzufinden, aufrecht und ohne Angst im leben zu stehen. Er hat sie befreit aus den vielen Behinderungen und Besessenheiten, denen sie ausgeliefert waren. Er hat sie, und die Kleinen und Armen zuerst, ermutigt und ermächtigt, sich als geliebte Kinder, als Töchter und Söhne des himmlischen Vaters zu sehen. Er hat ihnen verkündet und vorgelebt, dass Gott ein Freund des Lebens ist. Er hat ihnen verkündet und vorgelebt, dass Gottes Macht und Wille die Macht der Liebe ist, und dass diese Macht Menschen und Verhältnisse verwanden und erneuern kann.

Und vor allem hat jesus verkündet und vorgelebt, dass der Wille des himmlischen Vaters nicht nur im Himmel geschieht, dass er auch auf Erden geschehen und sich verwirklichen kann. Er hat die Resignation und Herzensträgheit, die sich damit abfindet, dass Menschen und Verhältnisse nun halt eben so sind, wie sie sind, das Vertrauen entgegengehalten, dass der Himmel, in dem Gottes Wille schon in Kraft ist, nicht weit, weit weg ist, hoch über den Köpfen und Wolken oder in irgendeiner fernen Zukunft, sondern dass er ganz nahe ist, dass die Menschenerde im Einflussbereich des Himmels ist.

*

"Unser Vater im Himmel" hat Jesus seinen Gott angeredet: "Abba", lieber Vater, hat er ihn zärtlich in seiner aramäischen Muttersprache angerufen. Er ist ein Wort des Vertrauen und der Freundschaft. Der Vater und der Sohn, der Vater und die Söhne und Töchter haben die gleichen Interessen. Sie machen gemeinsame Sache. Sie stehen für einander. Es ist des Vaters Wille, dass die Kinder Zukunft haben. Sein Wille ist auch ihr Wille. Sie wollen, dass des Vaters wille geschieht. Sie bitten ihn darum. Sie bestärken und ermutigen ihn, zu tun und zu vollenden, was sein Wille ist. Sie trauen es ihm zu, muten es ihm zu. Er ist für sie da, und so sie sind für ihn da. Und sie tragen dazu bei, was in ihren Kräften und Möglichkeiten liegt, dass der will des Vaters geschieht: "wie im Himmel, so auf Erden".

Vater im Himmel,
mit unsrem Willen und Tun geraten wir immer wieder ins Ausweglose.
Selbst wenn wir das Gute wollen, verstricken wir uns in Widersprüche.
Unsere Wünsche, Absichten und Pläne sind oft so ich-bezogen,
dienen dem Frieden nicht und haben keine Zukunft.
Wir haben in diesen Wochen erfahren, wie menschliches Wollen und Planen,
Tun und Unterlassen die Erde an den Rand des Abgrunds bringt.
Deshalb bitten wir dich, dass doch dein Wille geschehe,
deine Gedanken des Friedens sich unter uns Menschen
und für alles, was lebt, sich verwirklichen.
Hilf uns, dass wir dir nicht wie trotzige Kinder
Mit unseren eigennützigen Plänen und Absichten im Weg stehen,
sondern als erwachsene Söhne und Töchter
Verantwortung übernehmen füreinander und für deine Schöpfung.
Lass uns zu unserem Wollen und Vollbringen werden.
Lass uns einstimmen in deine Freude an allem Geschaffenen.
Lass uns einstimmen in deinen Willen zum Leben.

Jesus, dein Sohn, hat deinen Willen verkündet.
Er hat ihn getan, gelebt, vollbracht.
Mit ihm zusammen bitten wir dich alle:

Unser Vater im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

(Für das Gebet waren mir Formulierungn von Hermann-Josef Venetz hilfreich)

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern.
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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