Göttinger Predigten im Internet | hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Ist der Mensch nur so viel wert, wie er verdient?
Predigt über Genesis 1, 27-31, von Richard Engelhardt

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde,
zum Bilde Gottes schuf er ihn;
und er schuf sie als Mann und Frau.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen:
Seid fruchtbar und mehret euch
und füllt die Erde
und macht sie euch untertan
und herrscht über die Fische im Meer
und über die Vögel unter dem Himmel
und über das Vieh und über alles Getier,
das auf Erden kriecht.
Und Gott sprach:
Seht da,
ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen tragen,
auf der ganzen Erde,
und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen,
zu eurer Speise.
Aber allen Tieren auf der Erde
und allen Vögeln unter dem Himmel
und allem Getier, das auf Erden lebt,
habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben.
Und es geschah so.
Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte,
und siehe, es war sehr gut.
Und es ward Abend und es ward Morgen:
Der sechste Tag.
(Genesis 1, 27-31)

Liebe Gemeinde!

Das war ein grauer Tag Ende November. Die ersten Schneeflocken wirbelten auf die Strasse. Krieg war. Wir Kinder spielten vor dem Haus in unserer mecklenburgischen Kleinstadt und versuchten, mit diesem ersten Schnee etwas anzufangen. Da kam auf der Fahrbahn eine Gruppe von Menschen, Frauen und Kinder, bewacht von Uniformierten mit Gewehren im Arm. Und sie waren barfuss. Barfuss bei dieser Kälte auf dem Kopfsteinpflaster. Niemand von ihnen sagte ein Wort. Ein Mädchen, vielleicht in unserem Alter, sah uns mit grossen Augen an. Das ist jetzt sechzig Jahre her, aber diese Augen haben mich bis heute begleitet. Augen ohne Tränen, ohne Erkennen - Augen eines geschundenen Menschen.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.

Immer wieder haben sich diese Bilder in mein Gedächtnis eingebrannt: Die Bagger, mit denen in Bergen-Belsen die toten Körper in Gruben geschaufelt wurden. Das verbrannte Mädchen, das auf einer Strasse in Vietnam verzweifelt nach Hilfe schreit. Der Junge, der auf einer Kreuzung in Gaza hinter seinem Vater Schutz sucht und erschossen wird. Das kleine Kind, das von seinem Mörder im Wald verscharrt wurde.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.

Gewiss, da sind auch die Bilder der Mörder. Nur - sie sind mir nicht eingeprägt, auch nicht vergessen, nein, aber miteinander vermischt. Sie haben kein eigenes Gesicht in meinen Erinnerungen. Aber sie sind ja da. Sie haben gequält, geschunden, ermordet. Und wenn es mir noch so qualvoll ist: Das Glaubenszeugnis derer, die dieses erste Kapitel des Buches Genesis aufgeschrieben haben, lässt keine Ausnahme zu. Auch die Mörder sind Menschen, Geschöpfe Gottes.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.

Es war eine schwere Zeit für das Volk Israel, als diese Sätze gedacht und aufgeschrieben wurden. Zwar gab es das Gesetz, nach dem das Leben geordnet werden konnte, aber den Tempel gab es nicht mehr. Opfer und Anbetung am heiligen Ort waren nicht mehr möglich. Vielen Menschen kam es so vor, als hätten sich die Götter der Völker ringsum als mächtiger über den Gott Israels, den Gott der Väter erwiesen. Der Glaube, der vorher im Tempelkult seinen Ausdruck fand, musste nun zur Sprache kommen. So machten sich denn fromme Menschen, Priester wohl, daran aufzuschreiben, wie Gott sich in seinem Wirken zeigt. Und so, wie sie sich selbst als Geschöpfe Gottes erlebten, gestanden sie diese Ehre, nach Gottes Bild geschaffen zu sein, allen Menschen zu.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde,
zum Bilde Gottes schuf er ihn;
und schuf sie als Mann und Frau.

Kein Unterschied wird gemacht. Mann und Frau stellen in gleicher Weise das Bild Gottes dar. Und gute und böse Menschen ebenso. Der Erfolgreiche ist Bild Gottes und der Gescheiterte. Das Kind in den Slums von Manila und der Spekulant an der Wall Street. Der Mensch ist nicht, was er darstellt in einer Welt, in der Reichtum und Erfolg zählen und den Mördern die Denkmäler gesetzt werden. Auch nicht nur der ist wahrer Mensch, der für die Gerechtigkeit oder ein anderes Ideal kämpft.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.

Es gibt kein minderwertiges Bild, kein Zerrbild, kein Gegenbild Gottes. Die Menschheit in aller Vielfältigkeit ist Abbild Gottes auf dieser Erde. Dieses Selbstverständnis, Geschöpf Gottes zu sein, lässt keinen Raum für Unterschiede der Geschlechter, der Hautfarbe, der Sprache. Es gibt auch keinen Dämon, der als Gegengott diese gute Ordnung Gottes durch seine Geschöpfe stören könnte. Es gibt keine besseren Menschen, die ein Herrscheramt ausüben könnten, und keine schlechteren, die Sklavendienste zu verrichten hätten.

Und alle diese Menschen sind gesegnete. Sie können die Erde bewohnen. Sie können die Erde gestalten. Sie haben der anderen guten Kreatur, den Fischen und Vögeln und allem anderen Getier voraus, dass sie zum Bilde Gottes geworden sind, Abbild seiner Macht und Grösse. Und dem Segen Gottes folgt der Auftrag: Töten, Vernichten soll nicht sein. Pflanzen und Früchte sollen ihre lebenserhaltende Speise sein. Blut soll nicht fliessen. Weder den Menschen noch den Tieren wird zugestanden, Blut zu vergiessen, von Gott geschaffenes Leben zu zerstören. Töten beschädigt diese gute Schöpfung Gottes, auch wenn es zum Lebensunterhalt scheinbar notwendig ist. Gottes Schöpfung ist Leben in seiner Fülle. "Im Tode gedenkt man Deiner nicht," klagt der Psalmsänger, "wer wird Dir bei den Toten danken?"

Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte,
und siehe, es war sehr gut.

Die Schöpfung ist gut. Sie ist geordnet und schafft in der guten Ordnung Lebensraum für alle Kreatur. Der Mensch als Bild Gottes in der Schöpfung ist sehr gut. Das ist das Glaubensbekenntnis jener frommen Männer, die dieses Kapitel aufgeschrieben haben und jener, die es an den Anfang aller Berichte über die Geschichte der Menschen vor Gott und der Geschichte Gottes mit den Menschen setzten.

Natürlich wussten die Autoren dieses ersten Kapitels der Bibel und diejenigen, die dieses Bekenntnis an den Anfang ihres heiligen Buches von Gott und den Menschen setzten, auch von Leid und Schuld. Unvermittelt nehmen sie nach diesem Bekenntnis des Schöpfergottes, der eine gute Ordnung auf die Erde gibt, die andere Tradition auf, die vom Sündenfall berichtet, von Mord und Totschlag, von Verrat und Zerstörung der guten Ordnung Gottes. Und trotzdem bleibt dieses erste Kapitel der Bibel bestehen. Ein Idealbild, eine Utopie, eine Wunschvorstellung? Vielleicht das alles auch, aber doch zuerst ein unerschütterlicher Glaube an Gott und seine gute Ordnung. Daran, dass es nach Gottes Willen nicht sein soll, wie es auf der Erde zugeht.

Die Frage liegt nahe, warum denn aber Gott dem Menschen nicht zugleich mit der Schöpfung Grenzen gesetzt hat. Er schuf ihn zu seinem Bilde. Er segnete ihn. Er sah sein Werk und es war sehr gut. Warum hindert er nicht, dass der Mensch das Bild Gottes seines Schöpfers verdunkelt? Warum hindert er nicht, dass der Mensch seinen Segen missachtet? Warum hindert er nicht, dass der Mensch das "Sehr gut" brutal pervertiert? Die Priester, die ihrer Bekenntnis zu Gott in einem -wie wir annehmen dürfen - langen und mühsamen Prozess aufschrieben, diese Priester waren zweifelsohne auch Realisten und kannten ihre Welt. Sie kannten die selbstsichere Brutalität in den Gesichtern der Peiniger und die hoffnungslose Trauer derer, die geschunden wurden. Aber die Frage nach dem Warum des Elends auf der Welt ist für sie keine Frage des Glaubens, sondern der Erkenntnis, dass die Menschen die gute Ordnung Gottes einfach nicht begreifen. Sie pervertieren die Macht, die Gott ihnen gab. Sie wollen - wie es wenig später in einer anderen Überlieferung heisst - "sein wie Gott". Und trotz aller schlechten Erfahrungen, die sie damit machen, bleiben die Menschen dabei, die gute Ordnung Gottes für ihre jeweiligen und zumeist kurzfristigen Vorstellungen von eigener Ordnung zu stören und damit zu zerstören. Leid und Elend bis zum grausamsten Mord sind die Folgen.

Das Volk Israel, das sich mit Gott im Bunde weiss, hat diesen unheilvollen menschlichen Weg immer wieder zu korrigieren versucht. Immer wieder hat es auf dem göttlichen Gesetz bestanden und dieses Gesetz gegen alle Widerstände einzuhalten versucht. "Wenn an einem einzigen Tag alle Menschen die Ordnung Gottes, die Thora, einhalten würden, wäre die Erlösung gekommen," so wird es als Gedankengang jüdischer Frömmigkeit überliefert.

Jahrhunderte später nach diesem Bekenntnis von der guten Schöpfung Gottes und nach unendlich vielen Erfahrungen mit Menschenleid und Menschenschuld, nach einer Geschichte, die als immer neue Zusage und Zuwendung Gottes an seine Menschen und immer wieder neuem Verrat an Gott verstanden wird, hören die Menschen eine neue Antwort.

Der Apostel Paulus schreibt sie in seinem Brief an die Gemeinde in Rom so: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrscher noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

Diesen Jesus Christus glauben wir, die wir uns nach ihm Christen nennen, als den neuen Adam. Durch ihn fällt auf das Bekenntnis zur guten Schöpfung Gottes ein neues Licht. Gottes Schöpfung kann als Ausdruck seiner Liebe erkannt werden. Wir Menschen erkennen uns als Kinder Gottes, als seine geliebten Kinder. Damit beginnt die neue Schöpfung. Wir bekennen, dass Gott uns in Jesus Christus das endgültige Zeichen seiner Liebe gegeben hat. Der Theologe Jürgen Moltmann kann von diesem Ansatz her sagen: "Das Christentum lebt davon, dass verborgen in der Gestalt des Gekreuzigten das Reich des Menschensohns schon angebrochen ist und man heute schon aus seinen neuen Möglichkeiten heraus anders leben kann. Im Weg und Geschick Jesu Christi liegt für den Glauben die Vorwegnahme, oder besser: die Vorgabe des kommenden Reiches der menschlichen Menschen mitten in den Weltreichen."

Und Jochen Klepper sagt es in einem seiner Weihnachtslieder so:

"Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid- und schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her."

Amen.

Pastor i.R Richard Engelhardt
19055 Schwerin
August-Bebel-Str.18A
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Fax : 0385-5815431