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Woran denken Sie bei Ostern? - von Paul Kluge

Liebe Geschwister,

als am Vorabend eine Freundin gefragt hatte, ob sie über Ostern mit an die Ostsee käme, war ihr klar geworden, wie weit das Jahr schon wieder vorangeschritten war. Dabei hatten manche ihrer Nachbarn noch weihnachtliche Lichterketten in den Fenstern, und die Angebote in den Supermärkten waren auch keine verläßliche Zeitansage. Ostern also. Für Kathrin bedeutete das: Ein Tag weniger Zeit. Und daß die Leserinnen und Leser etwas besonderes erwarteten. Denn Kathrin verantwortete die Wochenendbeilage einer Tageszeitung.

Nun war sie auf dem Weg in die Redaktion und dachte an Ostern. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ...; Ostereier, Osterglocken, Osterlämmer. Vom Osterlachen hatte sie irgendwo mal etwas gelesen. Mal ins Internet gucken, dachte sie und gab wieder etwas Gas. Denn beim Überlegen war sie langsamer geworden - und mal wieder spät dran. Da fiel ihr Blick auf ein großes Plakat: Blauer Himmel mit Wolken, eine Laterne, und oben drüber die Frage: Was denken Sie bei Ostern? Dann noch irgend etwas Kleines, das sie im Vorbeifahren nicht lesen konnte.

Kathrin fuhr in die nächste Nebenstraße, fand zwischen zwei breiten Autos Platz, ihren Winzling quer einzuparken und ging die kurze Strecke zum Plakat zurück. Es war von der Evangelischen Kirche, las sie, und in dem Kleingedruckten waren vier Antworten auf die Frage vorgegeben: Cholesterin, Ferien, Jesu Auferstehung, Langeweile mit der Familie. "Fehlt eigentlich nur noch, daß man bei richtiger Antwort etwas gewinnen kann," dachte sie, ging zu ihrem Auto zurück und fuhr weiter. So eine Umfrage unter Passanten in der Fußgängerzone wäre vielleicht mal was, überlegte sie, und daß sie ihren Volontär damit losschicken könnte. Probehalber wollte sie nachher in der Redaktionskonferenz mal fragen, woran die Kolleginnen und Kollegen bei Ostern dachten. Die aber würden bestimmt zurückfragen, und viel mehr, als daß 'Jesu Auferstehung' die richtige Antwort war, wußte sie auch nicht. Denn viel öfter als zu Weihnachten ging sie nicht in die Kirche, Konfirmanden- und Religionsunterricht lagen lange zurück.

So machte sie trotz Zeitknappheit noch einen kleinen Umweg und klingelte an der Tür eines ihr bekannten Pastors. "Können Sie mir mal eine Bibel leihen?" überfiel sie ihn, "ich bring sie auch bestimmt zurück. Ich bin aber in Eile!" - "Wie immer, aber einen Moment bitte" reagierte der Pastor, ließ sie in der Tür stehen und kam schon bald mit einer Bibel zurück. "Die können Sie behalten, ich hab noch ein paar mehr. Und wenn Sie Fragen haben, rufen Sie mich an." Kathrin bedankte sich und flitzte nun endlich in ihr Büro. Nahm dann, als sie saß und den PC angeschaltet hatte, die Bibel zur Hand und blätterte darin herum. Fand aber keine fette Überschrift wie in ihrer Zeitung. Suchte vergeblich nach einem Stichwortverzeichnis und wollte schon den Pastor anrufen. Doch dann fiel ihr ein, daß zu Weihnachten immer aus dem Lukasevangelium gelesen wurde. Sie entdeckte ein Inhaltsverzeichnis, fand das Lukasevangelium, sah die kleinen Überschriften in den Kapiteln und blätterte sich durch. Schließlich fand sie, kurz vor Ende, die Geschichte:

Lukas 24, Jesu Auferstehung
(vgl. Mt 28,1-10; Mk 16,1-8; Joh 20,1-10)
1 Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.
2 Sie fanden aber den Stein weggewälzt von dem Grab
3 und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesus nicht.
4 Und als sie darüber bekümmert waren, siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern.
5 Sie aber erschraken und neigten ihr Angesicht zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?
6 Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Gedenkt daran, wie er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war:
7 Der Menschensohn muß überantwortet werden in die Hände der Sünder und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen.
8 Und sie gedachten an seine Worte.
9 Und sie gingen wieder weg vom Grab und verkündigten das alles den elf Jüngern und den andern allen.
10 Es waren aber Maria von Magdala und Johanna und Maria, des Jakobus Mutter, und die andern mit ihnen; die sagten das den Aposteln.
11 Und es erschienen ihnen diese Worte, als wär's Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht.

"Männer!" empörte Kathrin sich, "eine ganze Gruppe von Frauen erzählt, was sie erlebt hat, und dann ist das nur Geschwätz!" Sie entdeckte dann den Hinweis, daß in manchen alten Textzeugen noch ein Zusatz stünde: "Petrus aber machte sich auf und lief zur Gruft; und wie er sich hineinbeugt, sieht er nur die leinenen Binden. Und er ging heim voll Verwunderung über das Geschehene." Das empörte sie noch mehr: Was die Frauen erzählt hatten, sollte dadurch glaubwürdiger werden, daß ein Mann es überprüft?! Kathrin griff nach dem Telephon, um den Pastor anzurufen, ließ es dann aber sein. So weit kannte sie ihn, daß sie seine Antwort erahnen konnte: Die Stellung der Frauen damals hätte es wohl erforderlich gemacht, Männer als Augenzeugen aufzuführen. Dabei wußte Kathrin, daß zumindest nach damaligem römischen Recht die Frauen ein Maß an Gleichberechtigung hatten, wie es heute für manche Kulturen nur wünschenswert sein könnte. "Vielleicht," dachte sie, "handelt es sich hier um einen Schlag gegen die römische Gleichberechtigung der Frauen. Einen kulturellen Unterschied zwischen Europa und der arabischen Welt hat es wohl auch damals schon gegeben. Da müßte mal jemand recherchieren - eine schöne Übung für Volontäre."

Kathrin entdeckte unter der Überschrift des Abschnitts Hinweise auf andere Stellen, suchte und fand diese etwas mühsam, und stellte dann fest, daß in allen vier Evangelien zuerst Frauen am leeren Grab Jesu waren und dann den Jüngern davon erzählten. Das war auch fast der einzige Punkt, in dem die vier sonst recht unterschiedlichen Geschichten übereinstimmten. Es leuchtete Kathrin zwar ein, daß jeder Bericht über ein leeres Grab, über einen verschwundenen Toten immer und überall schwer zu verkaufen ist. In der Zeitung würde eine solche Meldung wohl in der Rubrik "Kurioses" landen. Sie nahm den Duden, las: "Kurios, lateinisch, 1. sorgfältig, aufmerksam, 2. wißbegierig, neugierig," und fand eine solche Meldung dort ganz gut plaziert: Sie macht auf etwas aufmerksam, frau will mehr wissen, wird neugierig. Kathrin nahm sich vor, wenigstens ein Evangelium mal im Zusammenhang zu lesen, um mehr über diesen Jesus zu erfahren. Daß der geholfen hatte, wo er konnte, wußte sie zwar, aber welche Rolle hatten Frauen für ihn gespielt, wer waren die genannten Maria von Magdala, Johanna und Maria, die Mutter des Jakobus, wer waren die andern, namenlosen? Vielleicht hatte der Pastor ja unter seinen vielen Büchern eins, das solche Fragen beantwortete; sie wollte es versuchen.

Der Volontär erschien, doch bevor Kathrin ihn mit Recherche und Umfrage beauftragen konnte, erinnerte er sie an die Redaktionskonferenz. Wie immer dominierten die Männer mit ihrer Lautstärke, kämpften ihre Revierkämpfe, argumentierten nicht selten unter der Gürtellinie und lachten gemeinsam über die eine und andere Anzüglichkeit. Wie immer kamen Kolleginnen ohne eigenes Ressort kaum zu Wort, die mit redaktioneller Verantwortung kaum zur Geltung. Als eine Praktikantin einen Vorschlag machte, nannte der Chef das "dummer Geschwätz," und Kathrin dachte an die Frauen vom Grab. "Woran denken Sie bei Ostern?" fragte sie unvermittelt. Stille, verlegene Stille. "Fußballturniere, Amateure, Holzhacker," polterte der Sportredakteur, der Lokalredakteur fürchtete wieder ein paar mehr "Discoleichen," wie er die verunglückten Jugendlichen nannte, der Politikchef wollte sich ein paar Tage Urlaub leisten und die Kulturredakteurin freute sich auf die Matthäuspassion am Karfreitag. "Ich fahr zu meiner Tochter," erzählte der Chefredakteur, "mein Enkelkind wird getauft. Find ich schön, Taufe zu Ostern. Hat viel miteinander zu tun." Er machte eine Pause, und als keiner etwas sagte, fuhr er fort: "Ich war mal in Ephesus. Da gibt es vor den Ruinen einer alten Kirche ein Taufbecken, in den Boden gemauert, mit zwei Treppen. Der Täufling wurde an das Becken geführt, erklärte seine Bereitschaft zur Taufe, legte seine Kleider ab und stieg ins Wasser. Tauchte drei mal unter, steig an der anderen Seite wieder heraus und bekam neue Kleider angelegt. Der alte Heide war - symbolisch - gestorben und ein neuer Mensch, ein Christ, stieg aus dem Tod. Das Taufbecken sozusagen als Grab, und Taufe als symbolisches Nachvollziehen des Ostergeschehens." - "Nun predigt er wieder," zischelte der Sportredakteur zur Kulturredakteurin. Für die aber war das neu und interessant. Könnte sie vielleicht für die Rezension der Matthäuspassion verwenden: Tod und Auferstehung als Symbol für Vergehen und Werden in der Natur, für Krankheit und Genesung (dabei dachte sie an ihre krebskranke Mutter), für Gefangensein und Befreiung, für dunkle Zeiten, nach denen es wieder hell wird wie in ihrer neuen Beziehung nach der dramatischen Scheidung.

Die Praktikantin stellte eine Flasche Sekt auf den Tisch: "Zu meinem Abschied." Dann verteilte sie die Gläser. "Mir bitte nicht," bat der Lokalredakteur, und als die Praktikantin etwas erstaunt guckte, erklärte er, er sei Alkoholiker, aber nach einem Entzug seit Jahren trocken. Das sei damals für ihn auch wie eine Auferstehung von den Toten gewesen, "wie Weihnachten und Ostern an einem Tag: neu geboren und auferstanden."

"Warum wollen Sie das überhaupt wissen, woran wir bei Ostern denken, was geht Sie das eigentlich an?" fragte der Sportredakteur, und Kathrin erzählte, daß sie für die Osterausgabe Straßenpassanten befragen wolle, aber wohl nur Frauen. Den Einwurf "Typisch" des Politikchefs überhörte sie und fuhr fort: "Ich bin da auf etwas gestoßen, das ich herausfinden will. Warum nämlich Frauen von Männern nicht ernst genommen werden, wenn sie etwas Wichtiges, Aufregendes zu sagen haben." - "Was hat das denn mit Ostern zu tun?" wollte der Volontär wissen. Kathrin reichte ihm die aufgeschlagene Bibel: "Da, lesen Sie selber. Am besten laut, damit alle das hören."

Es war das erste mal, daß in der Redaktionskonferenz aus der Bibel vorgelesen wurde. Und dann diskutierten alle heftig, bis der Chef seine Leute wieder an die Arbeit erinnerte. Doch er freute sich über die Anregungen, denn als ordinierter Ältestenprediger würde er im Taufgottesdienst seines Enkelkindes die Predigt halten. "Geben Sie mir dann bitte das Ergebnis Ihrer Umfrage," bat er Kathrin und beendete die Sitzung.

Amen

Paul Kluge, Magdeburg
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de