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Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Reflexion zum 6. Gebot, Traugott Koch

Christlich gesehen lautet die ethische Frage in Bezug auf die Ehe: Wie kann die Liebe in einer Ehe, in der ungeteilten und umfassenden Lebensgemeinschaft zweier unterschiedlicher Menschen, von Dauer sein?

Im erotischen Verlangen unter Menschen liegt bereits der Wunsch und - je erwachsener desto bewußter - hoffentlich auch der Wille, einen anderen Menschen zu finden, für den man nicht nur interessant und anziehend, sondern unaustauschbar und einzigartig ist, der einen mag, so wie man ist, und der sich bei jedem Wiedersehen freut. Menschen wollen die Aufhebung ihrer Isolation in einer Gemeinsamkeit, in der die beiden einander angehören, einer und eine als Erwachsene beim Anderen "daheim", aufgehoben und angenommen ist. Diese so offenkundig menschliche Erwartung ist im Trieb zum Anderen, im sexuellen Begehren, vital mitgegeben, ist er doch ein menschlicher. In der Liebe ist keiner durch irgendeinen Anderen ersetzbar.

Aus dem Begehren, einander anzugehören, finden zwei Menschen zusammen - und beginnen sie, zumindest gewisse Zeiten gemeinsam zu leben. Solange nun zwei Menschen verliebt, verlobt, verheiratet, im Guten, d. i. in einer gemeinsamen Liebe zusammenleben, haben sie den Wunsch und hoffentlich auch den Willen, daß ihre Gemeinsamkeit, ihre gemeinsame Liebe, dauerhaft sei. Schon gar nicht geht jemand eine Ehe bei einem Standesamt und obendrein einer kirchlichen Trauung ein, der nicht den Wunsch und die Absicht nach einer dauerhaften Verbundenheit mit dieser anderen Person hätte. Und doch fürchten alle, eine Krise - hervorgerufen durch angehäufte Mißverständnisse und Enttäuschungen - könnte ihre Verbundenheit, ihre Liebe, zerbrechen. Was also könnte dagegen "helfen" und zur Dauerhaftigkeit beitragen? Anders gesagt: Wie kann es zu einer Verläßlichkeit in einer ungeteilten, das Leben zweier Menschen umfassenden Lebensgemeinschaft kommen?

Verläßlichkeit stellt sich ein, wenn einer oder eine am geliebten Anderen wahrnimmt, was er oder sie an ihm hat. Dann will einer oder eine den Anderen nicht mehr verlieren; dann ist er oder sie dem Anderen verbunden. Jeder der beiden muß das "nur" für sich selbst wollen: Dann ist die Verbundenheit mit dem Anderen für ihn oder für sie verbindlich. M. Jesenská, die Freundin F. Kafkas, hat das so formuliert: "Das größte Versprechen, das Frau und Mann einander geben können, ist der Satz, den man Kindern mit einem Lächeln sagt: ‚Ich geb dich nicht her'. Ist das nicht mehr als ‚Ich werde dich bis in den Tod lieben' oder ‚Ich werde dir ewig treu sein'? Ich geb dich nicht her. Darin liegt alles. Anstand, Wahrhaftigkeit, Heim, Treue, Zugehörigkeit, Entscheidung, Freundschaft. - "Ich gebe dich nicht mehr her": was du auch tust, wie unvollkommen du auch bist, welche Mängel du hast, was die Anderen auch sagen, und obschon du es mir zuweilen schwer machst. So, wie du bist - "ich laß dich nicht fallen", "ich gebe dich nicht auf": einfach weil ich dich liebe.

Eine verläßliche Verbundenheit, die jedem der beiden verbindlich ist, entsteht und besteht nicht ohne Vertrauen. Und das will zeitlebens und immerzu wirklich gelebt und gepflegt werden; denn das ist durch nichts, auch nicht durch die staatliche Rechtsform der Ehe oder durch die kirchliche Trauung garantiert. Wenn es ein wirkliches Vertrauen ist, so wird es ein bedingungsloses sein. Dem wird das nicht schwerfallen, der den Anderen wirklich liebt. Es ist ja keine Liebe, die nicht vorbehaltlos wäre. Und es ist keine Liebe ohne bedingungsloses Vertrauen. - Aber wo nichts als Vertrauen ist, da ist die Gefahr des Verrats nicht fern. Deshalb ist das Vertrauen und das Lieben eines der gewagtesten Unternehmungen von Menschen.

Selbst enttäuschte Liebe und fraglich gewordenes Vertrauen können sich erneuern in der Selbsterinnerung an die Erfahrung gemeinsamer Liebe, die doch in sich selbst mehr ist, dichter und ungleich verbindender ist als jeder mit seiner immer wieder eintretenden Enttäuschung für sich. In solcher Selbstbesinnung ist einem Menschen die Liebe selbst verbindlich und verpflichtend geworden. Denn: ist sie ihm ein "Schatz", so wird er achtsam auf sie sein und sie erhalten wollen.

Die Verbindlichkeit einer ungeteilten Lebensgemeinschaft, einer Ehe, und also die Verpflichtung für einander und zur Treue liegt also in ihrer Gemeinsamkeit, in ihrer gemeinsamen, sie verbindenden Liebe selbst. Darum ist die Verpflichtung in einer Ehe keine von außen auferlegte Norm, sondern eine selbst gewollte, eine Selbstverpflichtung, die einer oder eine, bleibt er oder sie nur in der Liebe oder erinnert er oder sie sich neu ihrer Liebe, gar nicht als Last empfindet. Jene Verpflichtung wird in Liebe gelebt als Selbstverständlichkeit.

Was trägt zur Dauer einer liebevollen Gemeinsamkeit in einer ehelichen Lebensgemeinschaft bei? Antwort: Wenn Menschen darauf vertrauen, ja daran glauben, daß die Liebe selbst sich auch für ihre Lebensgemeinschaft wieder und wieder erneuern kann. Vertrauen sie der Selbsterneuerungsfähigkeit der Liebe, so stellt sich diese ganz gewiß - als Wunder der Liebe - von selbst ein. So war es ja zwischen ihnen schon immer und von Anfang an: die Liebe stellt sich von selber ein. Man muß sie "nur" empfangen, freudig empfangen, und bei sich einlassen. Wir "machen" sie nicht, setzen sie auch nicht aus uns heraus und verfügen über sie nicht. Noch einmal: Man muß sie "kommen" lassen und so innigst und ernsthaft selber wollen. Denn der ihr Verschlossene sperrt sie aus.

Was zwei Menschen verbindet, ist nichts Handgreifliches, natürlich auch nicht die Sexualität an sich. Sondern das ist ein Geist, der eine Geist der Gemeinsamkeit, der Liebe - und darin selbstverständlich auch die sexuelle Intimität. Wo nun die beiden, sie und er, sich darin bejaht und anerkannt finden, da sind sie in Wahrheit frei und frei miteinander einig, eines Sinns, auch wenn sie zuweilen in dieser oder jener Hinsicht unterschiedlicher Ansicht sind. Es ist im Leben von Menschen nichts Freundlicheres. Leben nun beide auf diese ihre Gemeinsamkeit, auf diesen Geist der Liebe, hin, so ist keiner auf den Anderen fixiert und wird von ihm alles erwarten. Es ist dann mehr "im Spiel" als die beiden. Ihre Gemeinsamkeit und der Geist, der sie trägt und bewegt, ist unausschöpfbar mehr noch und hoffentlich auch stärker noch als jeder für sich allein. Die beiden mögen sich nur auf ihn besinnen. Erkennen sie, was ihre Gemeinsamkeit bildet, erhält und entwickelt, so erkennen sie den Schatz, der im Miteinander mitten unter ihnen ist, sie verbindet und umfängt. Und indem sie auf ihn achthaben, ihn in diesem Sinne hüten, bleibt er bei ihnen, zerrinnt er ihnen nicht. Eine lebendige Mitte ist so ihre gemeinsame Liebe, die zwischen ihnen sich abspielt und sie lebendig hält.

Erkennen sie das, glauben sie daran und halten sie das fest, so erkennen sie, daß der Geist alles Guten, Gottes Geist, in ihrem endlichen Lieben bei ihnen ist. Es ist der Geist Gottes, der unter ihnen lebendig ist, der sich und sie erneuert, indem er sie zu neuer Zuwendung erweckt und sie so bestärkt. Im Glück der liebenden Vereinigung und in allem gegenseitigen Sichverstehen und so in ihrem Zusammengehören ist er bei ihnen: sie dazu inspirierend, die Dauerhaftigkeit ihrer Liebe zueinander selbst zu wollen.

Die bedingungslose Liebe zweier Menschen hat ihre größte Stärke im Geist der unerschöpflichen, nicht aufgebenden Liebe, also in dem Geist, der Gott selber ist. Darauf können zwei Menschen miteinander ihr Leben aufbauen und zuversichtlich frei zu leben wagen.

Prof. Dr. Traugott Koch
Institut für Systematische Theologie
Universität Hamburg
E-Mail: ISyTh-FB01@uni-hamburg.de


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