Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2002
Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-6 (7-11), verfaßt von Hans-Gottlieb Wesenick
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1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben;
2 denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
3 Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.
4 Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme.
5 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.
6 So laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein.
[7 Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8 Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.
9 Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schla-fen, wir zugleich mit ihm leben.
11 Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.]

Liebe Gemeinde!

Jetzt im November werden die Tage immer kürzer, die Abende beginnen immer früher, und die Nächte dauern länger. Den Himmel bedecken oft graue Regenwolken, die Sonne hat es schwer. Das legt sich leicht auf unsere Stimmung. Wir sind mehr traurig als fröhlich, mehr bedrückt als zuversichtlich. Wir spüren etwas von der Vergänglichkeit der Welt, wenn wir die abgestorbenen Blätter und trockenen Gräser zu unseren Füßen sehen und die kahlen Bäume in leeren Gärten.

In den vergangenen Sommermonaten haben wir gern gesungen: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit". Das paßt nicht mehr in diese Zeit. Stattdessen könnten wir singen: "Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit ..." Doch dieses Lied steht leider nicht mehr im neuen Ev. Gesangbuch. Im alten Ev. Kirchengesangbuch, aus dem wir es bis vor einigen Jahren gern gesungen haben, war der 1. Strophe eine Fußnote beigegeben: "Sommerzeit" sei ein Bild für "Ewigkeit". Dem Text wie der Melodie war die ausgelassene Freude abzuspüren darüber, "daß Gott wird schön verneuen alles zur Ewigkeit ..." und daß "... all Kreatur soll werden ganz herrlich, schön und klar." So konnte einer singen vor 450 Jahren - obwohl Kaiser Karl V. gerade einen Krieg gegen König Heinrich II. von Frankreich begonnen hatte, der dann vier Jahre dauern sollte - alles andere als erfreuliche Aussichten in jener Zeit. Aber der Dichter Johann Walter hat damals so gesungen. Ich bedaure sehr, daß die frohe, zuversichtliche Stimmung seines Liedes uns in unseren Gottesdiensten nun nicht mehr anstecken kann und wir uns mitten in einer Welt des Vergehens nicht mehr darauf hinweisen lassen können, daß alles im Werden ist und unser Leben bei Gott Zukunft hat.

Damit möchte ich freilich nicht ablenken vom Erschrecken über unsere Todeswelt. Wir wurden von ihr in der letzten Zeit sehr betroffen: der 11. September vor einem Jahr in New York, die Bluttat von Erfurt, das Hochwasser im Sommer, erst vor ein paar Tagen das Erdbeben in Süditalien, die fast täglichen Selbstmordattentate in Israel und die Vergeltungsschläge gegen die Palästinenser, dazu heute die Meldung vom Flugzeugabsturz bei Luxemburg und vom Feuer im Nachtexpress - die düstere November-Stimmung entspricht durchaus der Todeswirklichkeit. Das zweite Lied unseres Gottesdienstes sagt das richtig: "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen."

Wer um einen lieben Menschen trauert, der weiß von enttäuschter und sogar betrogener Hoffnung. Zukunft soll Leben sein, Krankheit soll Heilung finden, Schmerzen sollen Linderung erfahren. Aber dann ist eben doch das Ende gekommen, manchmal völlig unerwartet und plötzlich, und es war nicht mehr möglich, sich wenigstens noch ein Wort zu sagen. Bitter ist diese Endgültigkeit, dieses "Zu spät". Ich kann verstehen, wie da Zweifel an Gottes Güte und Gerechtigkeit Raum gewinnen und auch Enttäuschung nicht ausbleibt über Mitmenschen, die nun doch nicht mehr oder nur selten noch kommen. Ich kann es verstehen, wenn dann einer immer wieder fragt: "Wozu hat er, hat sie, habe ich gelebt? Soll das nun alles gewesen sein?"

Vor zwölf Jahren, ein Jahr nach der Wende, besuchte ich mit einer Gemeindegruppe unsere Partnergemeinde in Chemnitz. Damals haben wir viel gesehen, viel gehört, haben viele Spuren und Zeugnisse gescheiterter Hoffnungen, getäuschter und betrogener Menschen angetroffen, viele Fragen und Selbstzweifel, viel Unsicherheit und Sorge, manches neue Unbehagen und Kopfschütteln wahrgenommen. Muß einer, der dort vierzig Jahre gelebt und gearbeitet hat, diese vier Jahrzehnte seines Lebens nun in den Müll werfen?

Im Zentrum von Chemnitz steht ein riesiger Bronzekopf von Karl Marx. Ein russischer Bildhauer hat diese Monumentalplastik gearbeitet, und die Stadväter mußten einst auf Befehl der Partei viel Geld für dieses Werk aufwenden, das die Leute nur "den Nischel" nennen, den "Nichts". Nach der Wende wurde lebhaft diskutiert: Soll der Nischel nun bleiben, oder soll er fort? Die einen sagten: "Bloß weg damit! Sein System ist kaputt. Was soll er hier noch?" Die anderen sagten: "Nein, laßt ihn stehen! Erstens kostet es unsere Stadt wieder sehr viel Geld, ihn zu beseitigen; das wird jetzt dringend für viele lebenswichtige Notwendigkeiten gebraucht. Zweitens können wir doch nicht einfach diese vierzig Jahre unserer Geschichte ungeschehen machen. Das tun wir aber, wenn wir den Nischel verschrotten. Laßt ihn nur stehen, als Denk-Mal!" Die Chemnitzer haben sich entschieden, ihn stehen zu lassen, und ich hätte es auch so gemacht; aber ich habe nicht vierzig Jahre in Chemnitz gelebt.

Immerhin: Diese Frage nach der Zukunft des Nischel habe ich seinerzeit als Symbol dafür empfunden, wie Menschen hin- und hergerissen werden angesichts eines Zusammenbruchs bisher geltender Ordnungen und Orientierungen, selbst wenn sie ihnen nicht anhingen, aber sich doch ihr Leben unter ihnen einrichten mußten. Deutlich war, wie schwer es vielen wurde, neue Orientierungen zu finden und zu erkennen. Resignation blieb da nicht fern.

Resignation gibt es freilich auch heute. Steht erneut ein Krieg am Persischen Golf bevor? Können wir denn gar nichts tun, damit es dort nicht zum Äußersten kommt, zu einem Krieg, dessen Wirkungen und Folgen gar nicht abzuschätzen sind? Oder brauchen wir uns da nicht zu sorgen? Betrifft uns das alles nicht? Ob wir es wollen oder nicht: wir sind ja mit verwickelt in diesen Konflikt. Bündnisverpflichtungen sind einzulösen, eine Spezialeinheit der Bundeswehr ist mit Minenräumen dort beschäftigt, und im Verborgenen werden undurchsichtige Geschäfte abgewickelt. Auch da tut sich eine Todeswelt auf. Doch wenn ich das so sage, muß ich aufpassen, daß ich selbst dabei nicht gleich wieder überheblich werde.

Liebe Gemeinde, vielleicht können Sie sich hineindenken in solche Beobachtungen und Erfahrungen, bei denen wir keinen Ausweg sehen. So vieles erscheint hoffnungslos, macht uns sprachlos, lähmt uns. Zuweilen kann man wirklich jegliche Lust und Freude am Leben verlieren und dann nur noch ein dunkles Loch vor sich sehen. Das macht uns müde und bitter.

"Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit ..." - der Ton will eigentlich nicht recht hineinpassen in diese Gedanken und Stimmungen. Aber eigentlich will er nur darauf hinweisen, daß unser Leben nicht im Dunkeln bleiben soll. Er will uns wecken aus unserer Müdigkeit und Gelähmtheit, damit wir wieder zu wachen und beweglichen Menschen werden. Freilich geht das nicht auf die beliebte Melodie: "Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai," die auffordert: Kopf hoch, nicht mehr dran denken! Nein, das ist kein Trost. Da wird das Leben so hingenommen wie der Kreislauf der Natur, das ewige, unabänderliche Werden und Vergehen. Und in meiner Trostlosigkeit werde ich nicht verstanden. Aber wir wollen uns doch verstehen, wollen es jedenfalls versuchen, und wollen Tod und Leiden keinesfalls verharmlosen. Ich bleibe dabei, daß es stimmt: "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen."

Aber dennoch "Herzlich tut mich erfreuen"? Wie das? Weil ich dagegen behaupte: "Mitten wir im Tode sind mit dem Leben umfangen." Leben ist nämlich mehr als das, was wir vor Augen haben. Es ist das Leben, was Gott gemeint hat, wenn Jesus vom Reiche Gottes sprach, vom Himmelreich. Unser Leben ist nicht ein Kreislauf, ist nicht ewige Wiederkehr, sondern es ist ein Weg mit einem Ziel. Und das Ziel ist das Reich Gottes. Wir sind noch nicht angekommen. Immer noch sind wir unterwegs. Und auf diesem Wege dürfen wir träumen. Ja, ich möchte Sie ermuntern, zu träumen und dabei ganz wach zu sein. Ich möchte Sie ermuntern, Ihre Augen nicht zu schließen, sondern sie weit zu öffnen vor dem, was kommt, und für den, der kommt - sich die Sehnsucht nach einem sinnvollen, erfüllten Leben, nach dem Himmel zu erlauben.

Wie könnte die aussehen? Für Trauernde hat es der Kirchenvater Hieronymus einmal so gesagt: "Wir wollen nicht trauern, daß wir ihn (nämlich unseren geliebten Nächsten) verloren haben, sondern dankbar sein dafür, daß wir ihn gehabt haben, ja, auch jetzt noch besitzen. Denn wer heimkehrt zum Herrn, bleibt in der Gottesfamilie und ist nur vorausgegangen." Dankbar die geschenkte Gemeinschaft, die gemeinsame Wegstrecke durch das Leben in der Erinnerung bewahren und nun entschlossen weitergehen, unterwegs bleiben und sich den Aufgaben zuwenden, die der Herr uns Tag für Tag stellt - ich denke, das ist Leben, das den Tod überwindet, wenn auch unter Tränen. Es hofft nicht auf Menschen, sondern auf den lebendigen Herrn, der den Tod überwunden hat.

Psalm 126 beginnt er mit dem Satz: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden." Dieser wie auch die folgenden Sätze müssen aber als Rückblick in die Vergangenheit verstanden und übersetzt werden: "Als Gott, der Herr, unser Schicksal wendete und uns freiließ, da waren wir wie die Träumenden". Gemeint ist die Entlassung der Israeliten aus der Verbannung in Babylon vor etwa 2.500 Jahren, und dazu sagt der Psalm: "Der Herr hat Großes an uns getan; des waren wir froh." In der Heimat dagegen finden die Rückkehrer eine trostlose Lage vor: ein vom Krieg zerstörtes Land, brachliegende, verwilderte Äcker und Weinberge, die Wirtschaft am Boden, keine geregelte Rechtspflege. Statt Licht überall Dunkelheit, statt Heil vielfältiges Unheil. Resignation und Hoffnungslosigkeit greifen um sich. In dieser Lage bittet der Psalm: "Wende nun, Herr, unser Schicksal aufs neue. Du gibst den Bächen im Südland Wasser, wenn sie trocken sind. Gib nun auch uns Leben aus deiner Kraft!"

Diesen Psalm hat damals die Chemnitzer Pastorin Ursula Pöche übertragen und dabei ihre Erfahrungen und ihre Bitten im Jahr nach der Wende aufgenommen. Einige Sätze daraus möchte ich vorlesen:
"Der Herr hat Großes an uns getan. Mit unserer Vernunft können wir es nicht fassen. ...
Nun merken wir, daß wir vor einem Scherbenhaufen stehen in allen Bereichen unseres Lebens.
Wir merken, daß es noch viel zu tun gibt, aber manches noch blockiert wird. Wir bitten wieder: Gott, unser Herr, wende unser Schicksal.
Laß uns Verantwortung in der Freiheit wahrnehmen.
Laß uns Solidarität üben mit den Schwachen, mit den Alten und Arbeitslosen, mit den Ausländern und am Rande Lebenden.
Laß uns nicht vergessen, was du Großes an uns getan hast. ...
Mit einer großen Hoffnung säen wir und wissen, daß du mit dabei bist. Eines Tages werden wir mit Jubel die Ernte einbringen und alle Mühsal vergessen haben. Bis dahin brauchen wir viel Geduld. Herr, unser Gott, auch da hoffen wir auf dich."

Liebe Gemeinde, von solcher Hoffnung haben wir uns damals anstecken und ermutigen lassen, auch wenn sie wie ein Traum, wie eine Vision war. Ich denke freilich, daß wir solche Hoffnung auch heute brauchen in unserer Todeswelt!

Denn wir bleiben ja in ihr unterwegs. Nur müssen wir uns zum Glück nicht selbst ins Licht stellen. Wir stehen bereits im Licht und sehen klar - weil Christus in unserer Taufe uns versprochen hat, alle Tage bei uns zu sein als Licht der Welt. Wir gehen immer noch durch Niederlagen, und wir werden alle auf dieser Erde sterben. Und doch haben wir bereits Teil am Reiche Gottes, das unterwegs ist zu uns und kommt. Jeder Tag kann so sein, als bräche es herein, unberechenbar wie ein Dieb in der Nacht, erwartet und doch plötzlich, wie die Wehen eine Schwangere überfallen. Indem wir uns von Gottes Reich und seiner Zukunft bestimmen lassen, bleiben wir der Erde treu und unserer Gegenwart. Indem wir uns auf Gottes Reich einlassen, werden wir auferstehen aus dem täglichen Tod, aus Resignation und Hoffnungslosigkeit, aus Müdigkeit und Bitterkeit. Auch im November gibt es übrigens zuweilen und unverhofft Tage mit herrlichem Sonnenschein und strahlend blauem Himmel - ein Vorscheinen der Ewigkeit. Amen.

Als Arbeitshilfe verwendet:
Gottesdienstpraxis Serie A, VI. Perikopenreihe Bd. 3, Gütersloh 1990, S. 130 ff (Günter Berndt)

Hans-Gottlieb Wesenick
Pastor i. R.
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
H.G.Wesenick@t-online.de


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