Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2002
Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-6, verfaßt von Joachim Goeze
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Exegetische Vorbemerkungen und Entscheidungen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

diese Bilder aus der ersten Christenheit über das Kommen Gottes können zweierlei Wirkung auslösen: die einen sagen: ach, schon wieder verordneter grauer November, anberaumtes Totengedenken und die Mahnung: alles kann aus sein. Gott kommt wie ein Dieb in der Nacht? Wie letztes Jahr, bekannt, wenden wir uns dem boomenden Weihnachtsgeschäft zu - wie letztes Jahr - aber das macht wenigstens noch einen Sinn, andere beschenken zu können und Freude zu geben, wenn denn das mit Geschenken heute noch zu erreichen ist. Tellerand erreicht, weitere Gedanken out, Weiterdenken off.

Die anderen denken erschrocken, ach, schon wieder November,Ende des Kirchenjahres, Ende des Sommers, Ende des Jahres steht bevor. Was, schon wieder Bilanzzeit? Und wie war das mit meiner Bilanz? Und es kann jederzeit zu Ende sein: wie ein Dieb in der Nacht kommt mein Tod. Was steht in den Anzeigen, den schwarzumrandeten: "plötzlich und unerwartet". Wie der Schmerz bei der Geburt kann mein Tag kommen, an dem ich sterbe, weil Gott mein Ende setzt- nichts anderes fühle ich bei diesem Wort: "Tag des Herrn".

Ja, liebe Geschwister Jesu, es ist die Zeit, in der wir an unsere Endlichkeit erinnert werden:" dass mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß (Psalm 39)Wir gehen dahin wie ein Schatten und machen uns viel vergebliche Unruhe, wir sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird."

Paulus formuliert es ebenso drastisch: Wer sich nicht auf Gottes Kommen einstellt, wird schmerzlich überrascht werden. Wer sich den Beschwichtigern anschließt, wer sagt und sich einreden lässt, es ist alles in Ordnung," es ist Friede, es hat keine Gefahr, der wird schnell vom Verderben überfallen."

"Aber", so fährt er fort, dieses so oft zu findende: aber "Ihr, liebe Brüder, (und natürlich Schwestern) ihr seid nicht in der Finsternis, ihr seid Kinder des Lichts", ihr seid nicht vom Dunkel bestimmt sondern "Kinder des Tags". Also kann Gott Euch mit seinem Gerichtstag nicht überraschen, noch müsst ihr vergeblich fliehen.

Eine Breitseite gegen den Pessimismus. Eine Erinnerung, wem wir gehören. Aber das tröstet uns nicht darüber hinweg, dass wir auf den Tod und auf ein Ende unseres Lebens zusteuern. Nichts hilft, das zu verdrängen, Wir sollen und müssen aus diesem Schlaf aufwachen, als gäbe es noch ein zweites Leben. Immer können wir wieder neu anfangen mit Planen, Wollen, Tun und Hoffen, aber die Zeit unseres Lebens vergeht, weil wir endlich sind. Gott setzt uns ein Ende. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Alles andere anzunehmen, ist Illusion, Einbildung Traumgespinst, das uns nicht aufwachen lässt und uns dazu bringt, uns dem Leben und seiner Endlichkeit zu stellen.

Ein älterer Herr sitzt im Wartezimmer des Arztes, die Sprechstundenhilfe übergeht ihn versehentlich, er meldet sich. Jüngere Mitpatienten sagen zu ihm: "na Sie haben doch genug Zeit". Sagt der Mann:" Ich bin 87 und habe gewiß weniger Zeit übrig als Sie alle hier." Gerade weil er sein Ende sieht, nutzt er den Tag.

Andreas Gryphius hat dieses Bewusstsein für die Zeit als Gottesgeschenk wunderbar gefasst:

"Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht."

Exakt das meint diese Aussage des Paulus über die Kinder Gottes, Ihr seid Kinder des Lichts, Kinder des Tags. Das ist wörtlich zu nehmen: auch Jesus hat erinnert: es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Was aber machen wir? Viele von uns sind gefangen: in der Vergangenheit- in der Zukunft, aber wir nutzen die Gegenwart zu wenig: was wir brauchen ist eine neue, durch das Kommen Gottes qualifizierte Gegenwart.

Erst befreit von den Lasten der Vergangenheit, kann ich die Gegenwart nutzen, erst befreit von stummer Trauer und rückwärtsgewandten `hätte, sollte, wäre´ bin ich fähig in meiner berechtigten Trauer einen neuen Anfang mit Gott zu suchen, mich der Gegenwart zuzuwenden, ja befreit auf den Friedhof zu gehen und mit den Meinen dort Erinnerung zu halten, weil ich gerade jetzt ja noch lebe und dankbar über die Erde gehen kann.

Erst befreit von der Sorge um die Zukunft, die mich lähmt und meine Gegenwart verdunkelt, erst abgewehrte Bedenken und Ängste befreien mich für das Tun und Leben des Heutigen, dass ich ganz wach, das Nötige tun kann, ohne mich lähmen zu lassen, was denn daraus werden könnte und wie falsch sich das entwickeln und wie ansehensmindernd sich das auswirken würde.

Dem Leben sich stellen in seiner Endlichkeit und Gegenwärtigkeit, eine neue Tugend, die der Achtsamkeit nämlich entwickeln und befreit von Gestern und morgen am Tage Gottes heute leben, ach, wenn ich doch die Freiheit dafür finden könnte.

Das meinen unsere ernsten Bilder vom Tag des Herrn, der kommt wie der Schmerz und wie ein Dieb in der Nacht unaufhaltbar und durch noch so viel Sorge nicht abzuwenden: also achtsam, wach sein und die Gegenwart nutzen, in Gottes Tag hineinleben : er wird's schon machen, denn ich bin sein Kind - mitten im Gedanken der Trauer und des trüben lähmenden Novembers mit seinem Todesgedenken und Vergeblichkeitserfahrungen und der Befürchtung eines sinnlos gelebten Lebens, das ein plötzliches Ende mit Schrecken findet, unerfüllt und unbeweint, allein und einsam und ohne Beistand auf Erden und im Himmel.

Aufwachen, du bist Gotteskind und lebst in seinem Licht, also sei wach und nutze den Tag.
Anthony de Mello, ein christlicher Mystiker aus Indien erzählt folgende Aufwachgeschichte:
Vor einiger Zeit hörte ich im Radio die Geschichte von einem Mann, der an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:"Jim, wach auf!" Jim ruft zurück:"Ich mag nicht aufstehen, Papa."

Darauf der Vater laut:"Steh auf, du musst in die Schule"."Ich will heut nicht zur Schule gehen"

"Warum denn nicht?" "Aus drei Gründen", sagt Jim. "Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehn."

"So," erwidert der Vater, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst:

Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt und drittens bist du der Klassenlehrer, also aufwachen! (Anthony de Mello: Zeiten des Glücks. Herder Spektrum Bd.5009)

Es ist eine schöne Geschichte aber mit doppeltem Boden. Da will ja einer nicht nur nicht erwachsen werden, sondern hat vielleicht erkannt, dass er in falschem Zug sitzt.

Manchmal meine ich bei den vielen Klagen, die ich höre, dass es vielen Menschen geht wie dem Fahrgast, der erkannt hat, er fährt in die falsche Richtung. Aber jedes Mal, wenn der Zug hält und er in den Gegenzug wechseln müsste, sagt er sich, ach, hier ist es so schön warm und gemütlich, jetzt will ich nicht aussteigen, und wieder geht's weiter die `falsche´Richtung.

Wer sich einreden lässt, es ist alles in Ordnung, "es hat keine Gefahr, wird schnell vom Verderben überfallen."

Kind des Tags zu sein, hieße also um im Bild zu bleiben, wechseln solange es Zeit ist, Gottes Sonne scheint in jeder Richtung, wach und nüchtern sein, heißt also sehr wohl bedenken, was ich tue und wohin es führt und was ich unterlasse und was das für Folgen hat. Und in d e r Hinsicht finde ich nun wieder, dass die Warnungen der Zukunftsforscher von der Mehrheit zu wenig ernst genommen werden. Solcher Mehrheitsmeinung zu widerstehen, da braucht es, denke ich, Mut zum Sein im Lichte Gottes: eine neue Achtsamkeit vor Mitmensch und Schöpfung.

Ein wenig mehr Gottesfurcht und weniger Furcht vor Ansehensverlust -das zu bedenken bewirkt dann auch eine neue Entscheidungsqualität für mein Tun und Lassen. Und das hat nicht nur Einfluß auf den einzelnen, sondern könnte durchaus auch gesellschaftliche Folgen haben - sich vorzustellen, dass unsere politischen Bedenkenträger angesichts der zu erwartenden ökologischen Katastrophen zu wachem Handeln finden würden! Christen müssen sich und andere dazu ermuntern können gerade dann, wenn sie nicht falschen Frieden und Sicherheit mitausrufen, sondern sich nüchtern dem Tun des Gerechten stellen.

Ich schließe mit einem Bericht über eine evangelische Bruderschaft, die vor zwölf Jahren begonnen hat, ganz nüchtern das "Bete und Arbeite" des Benedikt im alten Zisterzienserkloster Dambeck neu zu leben. Seit zehn Jahren nehmen die evangelisch- benediktinischen JosephsBrüder Tschernobylgeschädigte, behinderte Kinder ganzjährig jeweils für sechs Wochen auf, holen sie aus der Umgebung von Kiew ab, bringen Sie wieder zurück und nehmen neue wieder mit. Der Leiter der Universitätskinderklinik kümmert sich um die Auswahl und sorgt für die Visa. Die Deutschen betreiben ökologische Landwirtschaft auf einem Klosterhof und nähren ihre Gäste leiblich mit chemiearmer Nahrung und geistlich mit täglicher Andacht und gemeinsamem Leben. Durch Geduld und Freundlichkeit lernen die durch Leukämie und Anämie Geschwächten, dass ihre Hilfe gewünscht wird. Wenn beim Tischdecken zum Beispiel etwas kaputt geht, wird nicht geschimpft,die eigenen Fähigkeiten werden geweckt. Durch gespendete Fahrräder wird die Bewegung gefördert und die eingeschränkte Gelenkigkeit geübt. Wenn die Kinder eingeladen werden, nach Rostock,Hannover,Lüneburg ,Wolfsburg und Berlin in diesem Jahr, merken sie, dass sie,anders als oft zu `Hause´wo sie über sind, willkommen sind und beschenkt werden. Sogar in die Autostadt nach Wolfsburg wurden sie von VW eingeladen und bekamen im Mai durch das Werk einen Bus geschenkt, mit dem sie zum Bewegungsbad gefahren werden. Kleidung wird geschenkt durch Spender, auch die Familien in der Ukraine können mitversorgt werden -alles aus unserem Überfluß ohne jede offizielle kirchliche Hilfe.

"Wie machen Sie das "Wunder von Dambeck"? wird dann oft gefragt, wenn nach sechs Wochen statt antriebsarmer, geduckter Kinder lebensmutige mit blanken Augen unternehmungsfreudig aus der Altmark zurückkehren.

Das wissen die Brüder oft selber nicht, weil sie immer neu lernen müssen, Gott nimmt ihnen alle Sorgen um diese Aufgabe ab, daß sie alles vergessen können, ausser zu gucken, dass sie leben und lieben wollen. (Ev.benediktinische Josephsbruderschaft Bruder Jens Kloster Dambeck Amt Dambeck bei Altensalzwedel; berichtet auch gern in der Gemeinde und macht sie wach)

Und das Licht, das alles sorgenvolle Dunkel erleuchtet, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Exegetische Vorbemerkungen und Entscheidungen

Naherwartung des Wiederkommens Christi in der ersten Christenheit :die berühmte Schilderung des Zuges der Erlösten in Kap.4 des Thess. und die heutige Fortschreibung des Gegenwärtigen einschließlich der Sucht, alles Vergängliche überspielen zu wollen, bilden einen starken gegensätzlichen Erwartungs- und Gefühlsrahmen für die Aufnahme dieses Textes durch die Predigthörerinnen und -hörer.

Textpredigt hieße m.E. das Motiv: der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht, "plötzlich und unerwartet", existentiell aufzunehmen. Damit folgen wir ja auch dem paulinischen Erklärungs-und Begründungsmodus im Zusammenhang: Kap.4 gut bultmannianisch das `Dass´ der Wiederkunft Christi für die Lebenden und die Toten und Kap.5 das `Wie´: plötzlich und unerwartet für die Leserinnen und Leser dieses Briefes heute wie damals. Die Fülle der Bilder:Gott kommt "wie der Schmerz eine Gebärende überfällt" und "wie ein Dieb in der Nacht" begründen die Erinnerung an den Status der Christen: Ihr aber seid Kinder des Lichts. Eine Zuschreibung, die der Dalai Lama gesagt haben könnte und die doch paulinisches und jesuanisches Urgestein ist.(Zur historischen Verbindung Indien-Christentum: siehe TRE Art.Indien; Zu inhaltlichen Übereinstimmungen :Christliches ZenZentrum Bad Wurzach; paulinisch: Seinsaussage, gegen Assoziationen VI z.St.wo Iring Fetscher dies als "Beschwörung" ansieht; jesuanisch: universal gemeint: Ihr seid das Licht der Welt gegen Predigtstudien VI, 2, 1995 B z.St., die das elitär auffasst.)

Die Seinsaussage: Ihr seid Kinder des Lichts begründet also gut paulinisch als Indikativ die Mahnung, wach und nüchtern zu sein und vom Schlaf aufzuwachen, um als Kinder des Lichts zu leben und so erleuchtet zu werden- ohne Furcht vom Dieb ergriffen zu werden.

Die Situation im Gottesdienst gegen Ende des Kirchenjahres, das bereits vom Weihnachtstrubel umspült wird und so die Tendenz fördert, den grauen November mit seinen Todesgedenken von Allerseelen über Volkstrauertag bis Toten- oder Ewigkeitssonntag zu überspielen, sieht also schwarz aus. Wer will schon gern was hören über sein Ende? Und innerchristlich traditionell gesprochen: Ist nicht der Sonntag `der Tag des Herrn´? Geht uns vergangene Naherwartung überhaupt noch etwas an? Wenn ich nach einer Tür zum Verständnis suche, finde ich eher die individuelle als die kosmische geöffnet. An globale Katastrophenmeldungen haben wir uns doch schon so gewöhnt, dass Gott in manchen Gedanken nur noch als Schützer des Bestehenden vorkommt. Gleichzeitig treibt viele ein Gefühl der Unsicherheit um, dass die Verhältnisse unseres Lebens so sich nicht fortsetzen lassen, dass wir aufwachen und uns ändern müssen. In diese soziale und individuelle Gefühlslage trifft die Botschaft: Ihr seid Kinder des Lichts gerade in dunkler Zeit als Zusage Gottes, um den Imperativ, aufzuwachen, zu begründen.

Das soll die Predigt entfalten.

Dr. Joachim Goeze, Wolfsburg
joachim.goeze@web.de


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