Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2002
Predigt über 1. Korinther 12, 12-27, verfaßt von Dörte Gebhard
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Liebe Gemeinde,

ein Lieblingsbild des Paulus ist der Predigttext für den 21. Sonntag nach Trinitatis. Er hat es sich zwar nachweislich nicht selbst ausgedacht, sondern übernommen, was Griechen lange vor ihm schon überzeugt hatte, verwandelt es aber in sein Eigenes, entfaltet es sehr breit, schreibt davon an die Korinther und - weil es so einleuchtend ist - auch an die Gemeinde in Rom, die er persönlich noch gar nicht kennt.

Ganz offensichtlich ist dieses Bild auch auf offene Augen gestoßen, denn es wurde sofort von seinen Schülern kopiert, es begegnet in gewissen Variationen auch im Epheser- und im Kolosserbrief.

Damit die Freude und auch die Schalkhaftigkeit des Apostels nachvollziehbar wird, lese ich einen längeren Abschnitt aus dem 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes, die Verse 12-27 in der Übersetzung der Guten Nachricht Bibel:

" Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteilbaren Organismus. So ist es auch mit Christus: mit der Gemeinde, die sein Leib ist.

Denn wir alle, Juden wie Griechen, Menschen im Sklavenstand wie Freie, sind in der Taufe durch denselben Geist in den einen Leib, in Christus eingegliedert und auch alle mit demselben Geist erfüllt worden.

Ein Körper besteht nicht aus einem einzigen Teil, sondern aus vielen Teilen.
Wenn der Fuß erklärt: "Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin" - hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?
Oder wenn das Ohr erklärt: "Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht das Auge bin" - hört es damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?

Wie könnte ein Mensch hören, wenn er nur aus Augen bestünde?
Wie könnte er riechen, wenn er nur aus Ohren bestünde?
Nun aber hat Gott im Körper viele Teile geschaffen und hat jedem Teil seinen Platz zugewiesen, so wie er es gewollt hat.

Wenn aber alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib?
Aber nun gibt es viele Teile, und alle gehören zu dem einen Leib.
Das Auge kann nicht zur Hand sagen: "Ich brauche dich nicht!" Und der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: "Ich brauche euch nicht!"
Gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.
Die Teile, die als unansehnlich gelten, kleiden wir mit besonderer Sorgfalt und die unanständigen mit besonderem Anstand.
Die edleren Teile haben das nicht nötig. Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt und hat dafür gesorgt,daß die geringeren Teile besonders geehrt werden.
Denn er wollte, daß es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert.

Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit.
Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.
Ihr alle seid zusammen der Leib von Christus, und als Einzelne seid ihr Teile an diesem Leib."

Liebe Gemeinde,

dieser Lieblings-Leib-Vergleich des Paulus ist eigentlich ein sachliches Vorwort in seinem langen Schreiben an die Korinther, denn kurz darauf folgt einer der großartigsten Texte, das bekannte ‚Hohelied der Liebe'.

Daher sollte man die Verse von der Liebe nicht ohne diesen Vorspruch hören, denn nur dann ist man eigentlich nüchtern genug, die Liebe nicht zu verklären, sich nicht einzubilden, doch schon die Sprache der Engel zu beherrschen, auch nicht in romantische Verzückungen zu verfallen, die der Liebe, die nie vergeht, nicht angemessen sein kann.

Schlichte, aber dennoch humorvolle Worte stehen also vor dem großen Jubel, die die Voraussetzungen der Liebe erklären.

Die Liebe beginnt erst jenseits des Nützlichkeitsdenkens nach dem Motto "Ich brauche dich!", z. B. in dem häufig anzutreffenden Liebesschwur: "Ich brauche dich, denn ohne dich kann ich nicht glücklich sein!" oder andererseits auch: "Ich brauche dich nicht!", "Ich habe solche Hilfe nicht nötig!" Natürlich, ein Auge kann Auge sein ohne ein Ohr, aber was soll schon ein einzelnes Auge?

Brauchen oder nicht Gebrauchtwerden sind keine Argumente für die Zusammengehörigkeit der Einzelteile, sondern nur, daß Gott die vielen Verschiedenen zusammengefügt hat zu einem erst dann überhaupt sinnvollen Ganzen.

Denn er wollte, daß es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert. Statt brauchen, gebraucht oder gar verbraucht werden heißt es, wenn es nach Gott geht: "Was kann ich für dich tun?"

Das sollen nun Auge und Hand zueinander sagen, also zwei, die nicht sowieso schon ineinander verliebt sind, die sich nicht ohnehin schon ganz ähnlich sind und die Welt auf die gleiche Weise wahrnehmen, sondern zwei, die verschiedener gar nicht zu denken sind.

Wir wissen das auch nur zu gut: Die vielen Einzelnen sind nicht ein bißchen unterschiedlich, sondern grundverschieden - und doch sollen sie nach Gottes Willen ein Ganzes, eine Gemeinschaft bilden: gerade, weil sie so unverwechselbar und unvertauschbar sind, weil sie so unvergleichlich charakteristisch sind, gerade, weil die Differenzen so unüberwindlich groß sind, weil jede und jeder einzelne Mensch so einzigartig ist.

Jedes Individuum ist einzigartig, aber eben nicht allein. Keinen Menschen gibt es ohne menschliche Gemeinschaft und kein einziger kann als einzelner Christ sein, davon ist Paulus fest überzeugt.

Wenn der Fuß erklärt: "Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin" - hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?

Wenn der Fuß seinen Dienst verweigert, gehört er dennoch dazu, aber es leidet das Ganze, wenn er wieder fest auftritt, freuen sich alle.

Keiner muß für sich allein Christ sein.

Aber wenn ich die lange Reihe unserer Vorbilder im Glauben im Geiste einmal abwandere, dann kommen mir unwillkürlich erst einmal lauter christliche Einzelkämpfer in den Sinn, etwa Franz von Assisi, Johann Hinrich Wichern, Friedrich von Bodelschwingh, Albert Schweitzer und Dietrich Bonhoeffer; im Rheinland auch noch Theodor Fliedner und Paul Schneider ...

Insgesamt ist dann eine riesige Menschenmenge beieinander, weil Ihnen jetzt noch ganz andere Namen einfallen, aber jeder scheint für sich gewesen zu sein, gewirkt zu haben in seiner Zeit, an seiner besonderen Stelle, mit seiner individuellen Berufung und Begabung. Oft wagten sie viel und kannten wenig Furcht, standen auf, scheinbar allein gegen den Rest der Welt.

Aber Paulus behauptet steif und fest, daß niemand allein Christ sein kann und so war es auch bei diesen allen:

Was wäre aus Franz von Assisi geworden, wenn niemand mit ihm sein Leben in Armut und Bescheidenheit geteilt hätte? Wie hätte Wichern sein Werk der Inneren Mission im vorletzten Jahrhundert beginnen sollen, wenn niemand sich für seine Ideen begeistert hätte? Gäbe es die Betheler Anstalten immer noch, wenn Bodelschwingh nicht einen Sohn gehabt hätte, der sein begonnenes Werk kontinuierlich fortgeführte? Albert Schweitzer hätte nichts tun können, ohne unzählige Krankenschwestern und Pfleger, deren Namen heute niemand mehr kennt. Bonhoeffer wußte noch in seinen schwersten Stunden um die Unterstützung vieler Freunde und Verwandter. Theodor Fliedner konnte vieles beginnen, weil er zweimal eine Frau fand, die sein Werk kongenial unterstützte. Paul Schneider, der Prediger von Buchenwald, erlebte noch im KZ, daß es mit Gottes Hilfe noch Gemeinschaft unter Menschen angesichts der Hölle auf Erden gibt.

Auch die großen Einzelkämpfer, zu denen ja auch Paulus gehört, sind aufgehoben in der Gemeinde der Christen und nicht auf sich allein gestellt, wie selbständig und wegweisend für die vielen sie auch wirken mögen.

Der christliche Glaube ist von vornherein auf Gemeinschaft angelegt; zu betonen ist: von vornherein. "Die Kirche entsteht nicht durch den Zusammenschluß von Menschen, sondern macht diesen erst möglich." (H. Conzelmann)

Die Gemeinschaft ist von Gott geschenkt, nicht von Menschen hervorgebracht.

Denn wir alle, Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie, sind in der Taufe durch denselben Geist in den einen Leib, in Christus eingegliedert und auch alle mit demselben Geist erfüllt worden.

An diesen Grund für unser Zusammensein, auch heute morgen, glauben wir, nicht selten gegen den Augenschein, der ein gegenteiliges Bild nahelegt:

Das kirchliche ‚Wir-Gefühl' in unserem Gesichtskreis ist stark kulturell und gesellschaftlich bestimmt: wir sprechen dieselbe Sprache, feiern unsere Feste auf ähnliche Weisen, uns verbinden viele Gewohnheiten, altbekannte Lieder, Traditionen und eine gemeinsame Geschichte. Deshalb liegt es nahe, daß wir uns auch sonst für so ähnlich und gleichartig halten, daß wir meinen, wir könnten Gemeinschaft selbst unter uns herstellen.

Paulus aber bohrt schon bei den Korinthern ein hartes Brett, wenn er ihnen klarzumachen versucht: Ihr seid euch gar nicht ähnlich untereinander, ihr könntet verschiedener gar nicht sein. Aber gerade weil ihr so unterschiedlich seid, weil ihr nicht zu verwechseln seid als Gottes Geschöpfe, seid ihr füreinander so gut, hat Gott euch zu seiner Gemeinde zusammengerufen.

Diese von Gott gestiftete Gemeinschaft ist wie der menschliche Körper etwas Großes und Wunderbares und versteht sich nicht von selbst.

Daß es die christliche Gemeinde auf der ganzen Welt gibt, haben wir nicht uns selbst zu verdanken.

Aber darüber nun in Resignation oder pessimistische Gedanken zu verfallen, ist nicht im Sinne des Apostels. Der Geist Gottes, von dem wir alle erfüllt sind - sonst wären wir jetzt nicht hier - "richtet auf, er drückt nicht nieder, etwa indem er uns vor Augen führen würde, wie schlecht die Wirklichkeit ist. Letzteres ist nach Paulus nicht Sache des Geistes ..." (Lutz Mohaupt).

Christinnen und Christen sind gänzlich verschieden; mit Beispielen kann ich hier sparen. Aber das Verschiedene ist nicht furchtbar, sondern sehr gut. Der Glaube nimmt in jedem Menschen eine ganz besondere Gestalt an. So wie Sie, jede und jeder einzelne von Ihnen, vom Glauben anderen Menschen erzählt, tut das niemand sonst auf der Welt. Kein anderer kann mit Ihrer Lebenserfahrung sagen, warum er auf Gott hofft und vertraut. Niemand betet so wie Sie. In dieser unendlichen Vielfalt gibt es kein Richtig und kein Falsch, kein Besser und kein Schlechter, sondern nur das Lob der Verschiedenheit. Es ist sehr gut, daß es am Gemeindeleib Kopf und Herz, Hand und Fuß, Bauch und Rückgrat gibt.

Daher ist die christliche Gemeinschaft auch angewiesen auf jeden Menschen.

Manche ziehen sich zurück und sagen sich: Die anderen können es einfach nicht. Sie machen es nicht gut.
Im Bilde des Paulus gesprochen, wäre das gerade so, als wenn das Auge sagte:
"Ich will nicht mehr dazugehören, weil das Ohr so extrem schlecht sieht, weil die Hand gar nichts erkennt und das Herz so furchtbar blind ist."

Dennoch leidet die Gemeinschaft immer wieder an den Übertreibungen und Einseitigkeiten, die keinem Einzelnen guttun. Schier endlos und berühmt ist der Streit zwischen Kopf und Herz, wem mehr zu gehorchen sei. (Augenblicklich scheint sich der Kopf durch PISA leichte Vorteile in der allgemeinen Diskussion verschafft zu haben.)

Gegenwärtig halten viele das Auge für das Allerwichtigste, alle wollen Auge sein und das Auge wird davon sehr eingebildet und hochmütig.

Wir leben in einer Mediengesellschaft; alles, was in unserer Gesellschaft passiert, muß also beäugt werden. In der Flut des Gesehenen geht nur noch wenig zu Herzen und der Kopf scheint manches Mal noch weiter entfernt.

Daraus entsteht dieser allseits bekannte, paradoxe Zustand: Alle sind Augen, denn alle können theoretisch alles sehen, jeden Unfrieden in der Welt, jede Umweltkatastrophe, alle sehen auch das Problem, aber wie dankbar sind wir denen, die bereit sind, Füße zu sein und sich auf den Weg der Problemlösung zu machen.

Alle sind ganz Ohren, haben das Neueste schon erfahren. Aber es braucht ebenso viele Hände, um die vielen schlechten Nachrichten, die täglich auf uns einströmen, zum Guten zu wandeln.

Ein einzelner ist darauf angewiesen, daß es alle anderen auch gibt, es braucht jeden Menschen, damit sich die Gemeinschaft bewegen und entwickeln kann.

Keiner ist überflüssig, keiner ist zuviel.

Jesus lehrt in seiner Bergpredigt: Liebt eure Feinde! - so haben wir in der Evangeliumslesung gehört. Jesus war viel zu realistisch, um zu sagen: "Macht sie zu euren Freunden!" Nein, liebt sie schon als Feinde, nicht erst, wenn sie - vielleicht - eure Freunde geworden sind. Diese steile Forderung will ich in das Bild des Paulus übersetzen:

Liebt am Gemeindeleib auch die Komischen, die Sonderbaren, die euch nicht passen, die langen Nasen, die rosarot sehenden Augen, die großen Mundwerke, die viel zu kurzen Arme, die viel zu großen Füße, auf denen manche leben und was sonst noch alles beschwerlich werden kann im Laufe der Weltzeit.

Vor allen Dingen: Versucht nicht, euch gleich und gleicher zu machen. Klont euch nicht gegenseitig! Denn es ist nicht auszudenken, was sonst für Ungetüme entstehen: womöglich nur noch voller Augen und Ohren, aber nicht mehr mit Händen und Füßen.

Paulus stellt die provokante Frage: Sind nicht gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, besonders wichtig?

An diesen Körperteilen erkennen wir das Wesentliche: Alle sind auf einander angewiesen. Die stärkeren können es vielleicht verbergen, aber darin sind sie gerade nicht not-wendig zum Besseren, im Gegenteil. Daher schreibt Paulus am Schluß:

Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt und hat dafür gesorgt,daß die geringeren Teile besonders geehrt werden.
Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit.
Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.

Und der Friede Gottes, der Liebe stiftet unter den Verschiedenen, der höher ist als all unsere Vernunft, stärke und bewahre Kopf und Herz, Hand und Fuß und alle unsere Sinne in Christus Jesus

Amen.

Dr. Dörte Gebhard
Evang. theol. Fakultät der
Rhein. Fr. W. - Universität Bonn
doerte.gebhard@web.de

 


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