Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

16. Sonntag nach Trinitatis, 15. September 2002
Predigt über Hebräer 10, 35f. 39, verfaßt von Hans-Hermann Jantzen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.online-predigten.de)

"Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten."

Liebe Gemeinde,

in diesen Tagen lassen die Erinnerungen an den 11. September vorigen Jahres die Bilder des Schreckens wieder lebendig werden. Durch einen bis dahin unvorstellbaren Terroranschlag wurden die beiden Türme des World Trade Center in New York in Schutt und Asche gelegt. Damals brachen nicht nur zwei Bauwerke zusammen, sondern die Symbole für die wirtschaftliche Macht und Überlegenheit der westlichen Welt. Für viele Menschen ging Grundlegendes in die Brüche: ihre Selbstsicherheit; die Selbstverständlichkeit, den Alltag zu leben; ihr Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Stabilität. Eine Erschütterung, die bis heute anhält. Vor allem viele Nordamerikaner fühlen sich an ihrem Lebensnerv getroffen. Folgerichtig erscheint vielen die Demonstration militärischer Stärke angemessener als Vertrauen.

Erinnern wir uns auch noch, dass in jenen Tagen viele Menschen spontan eine Kirche aufsuchten? Ich war damals zur Visitation im Kirchenkreis Hittfeld unterwegs. Noch am selben Abend wurden in vielen Kirchen Friedensgebete und Bittgottesdienste abgehalten. Die Gotteshäuser waren voll. Die Menschen mussten irgendwo hin mit ihrem Entsetzen; wollten ihre Angst und Klage im Gebet vor Gott bringen. Gut, dass die Gemeinden ihre Kirchentüren weit aufgemacht haben!

Sicher, lange hat das nicht vorgehalten. Nach etwa zwei Wochen ließ die Betroffenheit nach. Das geht auch nicht anders. Betroffenheit lässt sich nicht auf Dauer stellen. Wichtig ist, dass wir als Kirche da sind, wenn uns die Menschen brauchen - so wie auch kürzlich wieder bei der Flutkatastrophe an der Elbe. Dass wir nicht müde werden im Glauben. Dass wir immer wieder darüber nachdenken: woher bekommen wir den langen Atem, den wir zum Glauben brauchen? Wie können wir zerbrochenes Vertrauen wieder gewinnen?

Auf diesem Hintergrund höre ich die Sätze aus dem Hebräerbrief. Hier schreibt einer an eine Gemeinde, die müde geworden ist - müde im Glauben, müde im Vertrauen auf Gottes Verheißungen. Von der anfänglichen Begeisterung und dem Erschrecken über sich selber (beides gehört zum Glauben dazu!) ist nicht mehr viel zu spüren. Zu sehr drücken die Lasten des Alltags, die Angst vor der Zukunft. Zu sehr fördert das Gleichmaß der Tage die Gleichgültigkeit. Wo bleibt denn die versprochene Erneuerung der Welt, die Erlösung von allem Bösen? So kehren immer mehr Menschen der Gemeinde den Rücken und suchen ihr Heil woanders.

"Werft euer Vertrauen nicht weg!" Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie aktuell biblische Sätze sein können. Auch wenn unsere heutigen Gemeinden in vielem ganz anders sind als die Gemeinde, an die sich der Hebräerbrief wendet - an diesem Punkt fühlen wir uns unmittelbar angesprochen. Wir spüren, wie schwer sich das Vertrauen in einen guten Weg der Menschheit durchhalten lässt. Dazu sind auch wir Christen viel zu sehr "Kinder unserer Zeit":

  • Wir ziehen den Kopf ein angesichts zunehmender Gewalt und sind zugleich fasziniert von dem Bösen.
  • Wir misstrauen "denen da oben", den Politikern, den Verantwortlichen in Wirtschaft und Wissenschaft; den Behörden; dem Landeskirchenamt...
  • Wir trauen den großen Institutionen nicht mehr zu, das Problem der Gewalt zu lösen und die Zukunft menschengerecht und menschenwürdig zu gestalten.

Die Folge: viele Menschen ziehen sich in ihr privates Schneckenhaus zurück. Sie verlieren den Mut und das Interesse, ihre Welt politisch mit zu gestalten. Sie scheuen davor zurück, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Immer wieder höre ich in den letzten Tagen: "Warum soll ich wählen? Das bringt doch sowieso nichts." Für viele Menschen ist nur noch die persönliche Karriere wichtig. Ein empfindlicher Gradmesser für die Gefühlslage einer Gesellschaft ist die Geburtenrate. Welche Zukunft erwarten wir noch, wenn junge Paare bei uns kaum noch Kinder haben wollen?

"Werft euer Vertrauen nicht weg!" Das Vertrauen ist wie ein zerbrechliches Gefäß. Wenn es erst einmal kaputt ist, ist es schwer wieder zu reparieren. Das ist im Großen genau so wie im Kleinen: einmal das Kind allein gelassen... einmal nicht Wort gehalten... einmal an der Wahrheit vorbeigedrückt... Vertrauen kann man leicht verspielen. Und enttäuschtes Vertrauen ist schwer wieder zu heilen. Wer das erlebt hat, versteht sofort, was gemeint ist: "Werft euer Vertrauen nicht weg!"

Das ist mehr als eine Ermahnung. Das ist eine werbende Liebeserklärung. Wegwerfen kann ich doch nur etwas, was ich noch habe. So höre ich den Satz eher ermutigend, einladend: "Besinnt euch doch auf das, was ihr habt, auf euer größtes ‚Kapital' als christliche Gemeinde! Besinnt euch auf das Grundvertrauen, das euch hält und trägt!" Vertrauen ist ein anderes Wort für Glauben. Wer sonst, wenn nicht wir, verstehen etwas davon! Wir bemühen uns, einander zu vertrauen, weil wir erlebt haben, dass Gott vertrauenswürdiger Grund unseres Lebens ist!

Wie stark diese Erwartung an die Kirche auch heute noch ist, merkt jeder, der im Auftrag der Gemeinde Besuche macht. Ich bin immer wieder erstaunt und beschämt, wie bereitwillig mir die Türen geöffnet werden, wenn ich irgendwo anklopfe oder klingele und sage: "Guten Tag, ich bin Pastor/Pastorin..., ich komme von der Kirchengemeinde..." Viele Menschen bringen uns nach wie vor einen großen Vertrauensvorschuss entgegen, den wir nicht hoch genug schätzen können.

Können wir Christen in einer Gesellschaft, der das Vertrauen verloren zu gehen droht, "Anwälte des Vertrauens" werden? Können wir anderen helfen, ihr Vertrauen wiederzufinden - das Vertrauen zueinander; das Vertrauen in das Leben; das Vertrauen zu Gott?

Ich denke, ja. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns selber ehrlich fragen: Wie steht es um unser Vertrauen, wie steht es um unseren Glauben? Der Hebräerbrief lädt uns ein, uns auf die Grundlage des Glaubens zu besinnen, auf das Vertrauen in Gottes Zusage: "Ich meine es gut mit euch und mit der Welt! Ich will, dass ihr lebt. Darum lasse ich euch nicht allein und gehe mit euch auf allen euern Wegen. Darum gebe ich euch Wegweisung, Orientierung; meine Gebote. Ich trage euch durch Dunkelheit und Leid und führe euch durch alle Todesangst zum Leben." Werft euer Vertrauen nicht weg!

Dieses Grundvertrauen wird nirgendwo so deutlich wie im Leben und Sterben Jesu Christi. Sein Kreuz steht für alle Angst und Schuld, für alles Leid und alle Gottverlassenheit dieser Welt. Die Botschaft von seiner Auferstehung ist das Bekenntnis zu dem Gott des Lebens, der unser Vertrauen verdient, allen dunklen und schweren Erfahrungen zum Trotz. "Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt!" Das Evangelium hat diesen Ton deutlich anklingen lassen. Ostern mitten im September!

Solch ein Vertrauen ist kein erreichbarer Zustand; kein Besitz, den man haben und festhalten kann. Glauben, Vertrauen, das ist ein Prozess, ein Unterwegssein. Vertrauen, das muss ich ausprobieren, das muss ich leben. Dann werde ich die Kraft spüren, die davon ausgeht. Dass ich gerade auch dann glauben darf, wenn ich schwach bin; wenn ich versage und schuldig werde; wenn ich zweifele und nicht weiter weiß: darin liegt die Stärke unseres Glaubens. Das macht die Gemeinschaft der Glaubenden stark. Darauf wollen wir uns immer neu besinnen und unser Vertrauen nicht leichtfertig wegwerfen.

Zwei hilfreiche Stichworte gibt uns der Hebräerbrief noch an die Hand:

1. Geduld habt ihr nötig! Vertrauen kann man nicht verordnen, das muss wachsen. Und das geht manchmal nur sehr langsam. Viele Versuche, viele vertrauensbildende Maßnahmen sind nötig, bevor Menschen, die sich misstrauisch gegenüberstehen, wieder aufeinander zu gehen.
Ich denke an eine Konfliktberatung. Die Situation war völlig verfahren. Einer traute dem andern nicht über den Weg. Erst nach vielen Gesprächen und nachdem wir miteinander die Hände gefaltet hatten, konnten sich die Kontrahenten wieder in die Augen schauen und sich die Hand reichen. Geduld habt ihr nötig...

Oder ich denke an manche Kinderbibelwoche oder Jugendfreizeit: was für eine Freude und Ermutigung mitzuerleben, wie da auf einmal ein Raum des Vertrauens entsteht! Gemeinsam singen und beten, hören und spielen; einander annehmen und kritisch begleiten im Geiste Jesu, das schafft den Nährboden für Vertrauen, für Glauben. Wir tun gut daran, den Samen dafür sorgfältig in das Leben unserer Kinder und Jugendlichen einzupflanzen! Manchmal merken wir erst Jahre später, wo die Saat aufgeht. Geduld habt ihr nötig...

2. Bei allem Vertrauen geht es darum, "Gottes Willen zu tun". Der Glaube, das Vertrauen zu Gott macht uns nicht zu passiv Wartenden, sondern zu Tätern des Wortes. Glaube will praktisch gelebt werden - in unserm kirchlichen und politischen Alltag. Wer sich selber von Gott getragen weiß, der kann auch andern Vertrauen entgegenbringen. Ich sehe eine wichtige Aufgabe der christlichen Gemeinde darin, verschiedenen Menschen und Gruppen unserer Gesellschaft zusammen zu führen, damit sie wieder miteinander reden, Vorurteile überwinden und gegenseitige Achtung voreinander lernen.

"Werft euer Vertrauen nicht weg!...Denn wir gehören zu denen, die glauben und die Seele erretten." So schließen die Zeilen des Predigtabschnitts. Als christliche Gemeinde können wir viel dazu tun, verlorengegangenes Vertrauen wieder zu gewinnen, indem wir untereinander Vertrauen pflegen und nach außen vertrauenswürdig sind. Das ist ein hohes Gut. Die Kirche, jede Gemeinde, wir alle tun gut daran, sehr sorgfältig damit umzugehen, damit niemand sein Vertrauen wegwerfen muss. Das ist unsere Stärke als christliche Gemeinde, mit der wir der weit verbreiteten Hilf- und Ratlosigkeit in unserer Gesellschaft zuversichtlich entgegen treten können. Die Menschen warten darauf, dass ihnen jemand hilft, "ihre Seele zu retten", sich selbst wiederzufinden im Vertrauen auf Gott. Auch und gerade in Zeiten, in denen Drohgebärden, Gewalt und Zurschaustellung von Macht den Ton angeben und jegliches Vertrauen schon im Keim ersticken. Darum: "Werft euer Vertrauen nicht weg!" Wir sind es der Welt schuldig.

Amen.

Hans-Hermann Jantzen, Landessuperintendent in Lüneburg
Hasenburger Weg 67, 21335 Lüneburg
E-Mail: Hans-Hermann.Jantzen@evlka.de


(zurück zum Seitenanfang)