Und der HERR sandte Nathan zu David.
Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer
in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr
viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines
Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, daß
es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von
seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß,
und er hielt's wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast
kam, brachte er's nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern
zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern
er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu
ihm gekommen war.'
Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu
Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes,
der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das
getan und sein eigenes geschont hat.'
Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR,
der Gott Israels: >Ich habe dich zum König gesalbt über Israel
und habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus
gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben;
und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazu tun. Warum hast
du denn das Wort des HERRN verachtet, daß du getan hast, was ihm
mißfiel? Uria, den Hethiter, hast du erschlagen mit dem Schwert,
seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht
durchs Schwert der Ammoniter. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert
nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hethiters,
genommen hast, daß sie deine Frau sei.< (...)
Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN.'
Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen;
du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese
Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist,
des Todes sterben.'
Und Nathan ging heim.
I.
In wenigen Wochen wählen wir einen neuen Bundestag.
Die Regierenden sind Gewählte, keine Erwählten.
Die Macht, die sie stellvertretend für uns innehaben, ist auf Zeit
verlie-hen und ans Recht gebunden. Also müssen wir, die Wählenden,
uns Gedanken machen: Wem vertrauen wir Macht an? Welches moralische Fundament
brauchen Menschen, denen wir Macht übertragen? Macht betrifft und
verändert die menschliche Existenz. Wer unter die Räder falsch
gebrauchter Macht gerät, kann davon ein Lied singen. Es wird ebenso
deutlich, wenn Menschen in der Politik scheitern: zu Grunde gerichtet
durch poli-tische Gegner oder in Abgründe geraten durch eigene Schuld.
Gleichfalls ist zu überlegen: Nach welchem Standard sollen in Europa
die Rechts-, Wirt-schafts- und Sozialsysteme einander angeglichen werden?
Und wie steht es in der globa-len Menschengemeinschaft mit den Menschenrechten,
z. B. den Rechten der Frauen?
II.
Frühe Lernerfahrungen mit der Macht und dem Recht erzählen
die beiden Samuelbücher. Sie berichten davon, wie nach König
Sauls Scheitern erst unter David zwischen Mittelmeer und Totem Meer, zwischen
Libanon und Sinaiwüste aus einem Verbund eigenwilliger Volksstämme
so etwas wie ein Staat entsteht. David verbindet die Landesteile >Israel<
und >Juda<, erhebt die alte Kanaaniterstadt Jerusalem zum politisch-religiösen
Zentrum, schwört deren vor-israelitische Einwohner auf den neuen
Herrscher ein und macht umliegende Völker und Städte tributpflichtig.
Ein beachtliches Werk nach außen. Innen jedoch brechen mit Königtum
und Staatlichkeit schwere kulturelle, ethische, rechtliche Konflikte auf.
Soll das alte Jahwe-Recht gelten, das zum Beispiel gegen jede Art Gottes-Königtum
steht? Soll das kanaanäische Recht gelten, nach dem der König
auch Priester ist und eine nahezu unumschränkte Macht hat, das Recht
also quasi selbst setzt? Der alte Prophet Samuel hatte vor den Macht-
und Rechtsansprüchen eines Königs gewarnt (1. Samuel 8,10-18),
das Königtum aber doch mit auf den Weg gebracht.
"Was ist der Wille, was ist das Wesen unseres Gottes?" Auch
diese Fragen brechen neu auf. Denn jetzt war Jahwe Staats- und damit noch
etwas anderes als begleitender Stammes- und Familiengott. Neue Deutungen
mußten erst noch gefunden werden. Deshalb bleibt vieles ungesagt
und widersprüchlich. Aber es kündigen sich doch drei grundlegende
Unterscheidungen an: die von Macht und Moral, von Politischem und Privatem
und von der Person und ihrem Werk.
In dem Gespräch zwischen Nathan und David wird der Blick ganz und
gar auf die existentielle Innenansicht gerichtet: auf einen handelnden
Menschen, der Macht ausübt. Doch sollen die anderen Betroffenen hier
wenigstens erwähnt werden: Batseba, Uria, das namenlose Kind.
III.
David steht im vollen Glanz seines Königtums. Wen er sich unterwerfen
konnte, hat er sich gefügig gemacht. Nur der Sieg über die Ammoniter
steht noch aus, aber doch kurz bevor. Just auf dem Höhepunkt seiner
Macht stürzt er ab auf den Tiefpunkt seiner Moral. Sein Königtum,
nach außen gesichert, ist gefährdet nach innen - durch ihn
selbst. Ein Mann, der nahezu alle Feinde besiegt hat, hat sich nun selbst
die bitterste Niederlage beigebracht. Aus dem Gesalbten Gottes wurde ein
Kapitalverbrecher.
Auf diese erschreckende Wahrheit bringt Nathan seinen König David.
Noch aus Zeiten der alten religiös-politischen Ordnung Jerusalems
stammend, bezeugt er nun, daß hinfort der Jahwe-Glaube Davids mit
seinen Weisungen und Ansprüchen gilt: Bei aller Machtfülle steht
der König, weil unter Gott, niemals wirklich über dem Recht.
Vor allem hat irdische Macht kein Recht auf Willkür. Das mosaische
Recht ist darauf angelegt, Macht heilsam zu begrenzen.
David, einst ein Söldnerführer, eine Art antiker Guerillero,
muß das lernen. Er nahm sich die Frau, noch dazu eine verheiratete,
wie er fremde Städte eroberte. Macht darf aber nicht Moral diktieren.
Zwischen beiden steht das Recht, das soziale Beziehungen vor persönlichen
Machtinteressen schützen soll. David ließ sich erkennbar von
ausschließlich persönlichen Motiven leiten, als er in sexueller
Begierde und reiner Willkür Bathseba zur Geliebten nahm. Währenddessen
kämpfte ihr Ehemann Uria für David gegen die Ammoniter.
Bathseba ist schwanger. Der Ehebruch wird herauskommen. Uria aber läßt
sich nicht austricksen. Er hält sich strikt an die Regel, die im
Krieg Enthaltsamkeit gebietet. Als David ihn zum Urlaub nach Hause beordert,
schläft er bei seinen Soldaten statt bei seiner Frau. So macht er
Davids Plan zunichte, Bathsebas Schwangerschaft Uria anzuhängen,
statt selbst zu seiner Verantwortung zu stehen. David aber läßt
Uria über die Klinge springen. Er sorgt durch seinen skrupellosen
Heerführer Joab dafür, daß Uria beim nächsten Kampfeinsatz
zu Tode kommt.
Eine Ungeheuerlichkeit gebiert die andere: die persönliche Begierde
den Ehebruch, dieser erst den hinterhältigen Vertuschungsversuch,
schließlich den Mord. Von Davids unzähligen Liebesaffären
ist diese die spektakulärste. Niemals vorher hat der König seine
Macht derart schamlos für seine eigenen Interessen und zu Lasten
anderer ausgenutzt.
IV.
Mit einem fremden Gast kommt Nathan zu David: mit der Wahrheit. Soll
sie die Fesseln lösen, muß sie von außen kommen - besonders
wenn jemand die Fäden so gezogen hat, daß sie ihm wie eine
Schlinge um den Hals liegen. Nathan kleidet die Wahrheit in ein Gleichnis.
Er vermeidet es, im Gestus super-moralischer >political correctness<
den König öffentlich bloßzustellen, sein Intimleben anzuprangern
und einer sensationslüsternen Menge preiszugeben. Wie Nathan David
an die Wahrheit erinnert, macht er aus dem Playboy wieder einen König.
Er spricht ihn auf eines Königs vornehmste Aufgabe an: die Schwachen
zu schützen und ein gerechtes Urteil im Streitfall zu sprechen. Ginge
man doch heute so mit Versagen und Schuld öffentlich um! Nathans
Weise der Politikberatung ist beispielhaft, gerade für die Kirche:
durch Schärfung der Gewissen keine Politik zu machen, aber Politik
möglich zu machen.
Nathan setzt auf Selbsterkenntnis, aus der neue Einsichten und ein anderes
Verhalten erwachsen können. In der Kunst der Verfremdung, ohne etwas
zu verschweigen, redet er so, wie David es verstehen kann. Zugleich spricht
er uns alle an. Den Gegensatz von Arm und Reich verstehen alle. Er ist
besonders wirksam. Deshalb ist er vorrangig und weltweit zu überwinden.
Nathan erzählt von einem Reichen, der einem Armen sein einziges Schaf,
seinen ganzen, wohlbehüteten Besitz raubt. Einspruch, Euer Ehren!
Ist Frauenraub mit Tierraub vergleichbar? Damals war die Frau Eigentum
des Mannes, Ehebruch also ein schweres Eigentumsdelikt. Immerhin bereitet
Nathan mit einem Wortspiel schon vor, daß David trotz seiner Verblendung
aufmerken muß: Der Arme pflegt das Lamm wie eine Tochter, hebräisch
"bat"...... "Bath-seba". Und er nährt dieses
Lamm an seinem Tisch, hütet es in seinem Schoß. David und Bathseba
waren eben alles andere als von Tisch und Bett getrennt.
V.
So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der
das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan
und sein eigenes geschont hat.' David ist empört. Zu Recht. Aber
sein Urteil ist überzogen. Der Schafräuber hat nach dem geltenden
Recht in der Tat vierfachen Ersatz zu leisten. Das Todesurteil aber wäre
Unrecht. Daß David dem Reichen gleich den Tod an den Hals wünscht,
zeigt, welche Leidenschaften in ihm stecken, bis hin zu Unbeherrschtheit
und Unbedachtsamkeit: der empfindsame Harfenspieler und Psalmsinger kann
wenig später brutal explodieren, heitere Herzlichkeit schlägt
um in gnadenlose Härte. David - der Mensch in seinen Widersprüchen,
beseelt von lauterem Gerechtigkeitssinn und besetzt von bodenloser Gemeinheit,
zu jeder Zeit zu allem fähig.
Insgeheim hat David längst verstanden: Die Geschichte vom Reichen,
der den Armen um sein Liebstes und Bestes beraubt, ist meine Geschichte.
Das Todesurteil trifft den, der es fällt. Denn David ist der Mörder.
Nur ihm konnte das Todesurteil gelten. Er hat sich selbst entlarvt.
Wir blicken in Abgründe der menschlichen Seele: Aggression nach außen
kann mit Aggression nach innen zusammenhängen, im Haß auf andere
kann Selbsthaß hervorbrechen, ein ungerechtfertigtes Strafurteil
gegen andere kann eine Selbstbestrafung sein. Dennoch kann in diesem Gewirr
aus Emotionen und Obsessionen die Wahrheit ihr befreiendes Wirken vorbereiten.
Durch ein weiteres Wort von außen wird David zur Wahrheit ganz befreit:
Du bist der Mann!' Unmißverständlich und eindringlich
bahnt sich die Wahrheit durch den Mund eines anderen, durch Nathan, den
Weg. Darin erkenne ich ein ganz bestimmtes Bild Gottes von seinen Menschen:
In diesem Bild ist Platz für Widersprüche, für Irrtümer
und Fehler, für das, was nicht aufgeht, für das Unmögliche,
für Versagen und Schuld. Keine/r muß erst vollkommen sein,
um Segen und Gnade, Aufgabe und Auftrag zu empfangen.
Diese Hinwendung zum konkreten Menschen spricht aus der Weise, in der
Nathan die Wahrheit an den Mann bringt. Deshalb kann David so schnell
und knapp seine Schuld eingestehen: Da sprach David zu Nathan: Ich
habe gesündigt gegen den HERRN'. Solche Erkenntnis, solches Bekenntnis
will ausgesprochen sein vor den Ohren eines anderen, der die Wahrheit
sagen und ertragen, der als Zeuge auf- und eintreten kann. Es ist für
das private wie das politische Leben wichtig, eine solche Person in der
Nähe zu wissen.
David braucht nicht einmal um Vergebung zu bitten. Die Bitte ist schon
gesprochen, die Vergebung schon gewährt, weil die Brücke längst
gespannt ist über den Sund, der David von Gott trennt.
VI.
Im Angesicht Gottes weiß die Sünde, daß sie Sünde
ist. Sie kann sich aussprechen - und wird sich los. Bleibt die Wahrheit
bei der Liebe und die Liebe bei der Wahrheit, baut das Eingeständnis
der Schuld die Persönlichkeit auf statt sie zu verletzen und zu schädigen.
Neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich. Die
aber wachsen nicht in den Himmel, sondern bleiben im Rahmen dessen, was
einmal begonnen wurde. Einmal Geschehenes wirkt nach. Ist die Schuld vor
Gott getilgt, können unter Menschen noch viele Schulden abzutragen
sein. Vergebung ist mehr als "Schwamm drüber!". Wird Vergebung
wirklich angenommen, setzt sie die Kraft frei, mit den unaufhebbaren Folgen
des eigenen Tuns umzugehen. In dieser Kraft stehen die biblischen Erzähler
zu David als einem Großen, ohne seine dunklen Schatten zu verschweigen.
Ja, mit Schuld leben und Verantwortung üben - das sind im wirklichen
Leben zwei Seiten einer Medaille.
Gewiß, es befremdet mich, daß der erste Sohn namenlos bleibt
und sterben muß. Hier jedoch wird in einer nun wieder ganz archaischen
Sicht klar gemacht: Die Frucht eines Verbrechens, Unrecht hat auf Dauer
keinen Bestand. Denn "Gott ... läßt sich nicht zum Tanze
führen; er bleibt allzeit eine widerspenstige Wirklichkeit."
(Heinz Zahrnt: Das Leben Gottes, München 1997, S. 81)
Folgen zu bedenken, so weit irgend möglich, gehört zur menschlichen
Verantwortung, namentlich in der Politik. David scheint bereit, hinfort
Verantwortung zu übernehmen. Darum bittet er: Schaffe in mir,
Gott, ein reines Herz, / und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
(Psalm 51,12) Um einen neuen Geist empfangen zu können, wird
er freigesprochen von dem Urteil, das er sich selbst gefällt hat.
Er bleibt am Leben, damit seine Einsicht sein königliches Handeln
beeinflußt. Das kann nur geschehen, wenn Spuren in seinem Leben
hinterläßt, was er verursacht hat - wie den Tod Urias und fortan
auch des ersten Sohnes mit Bathseba. Zu diesen Spuren gehört ebenso,
daß - wie Nathan weiter ankündigt (Verse 11+12) - künftig
das eigene Haus, die eigenen Söhne gegen sein Königtum sich
erheben werden. David muß unter erschwerten Bedingungen regieren.
Die innere Bedrohung ist der Spiegel seiner eigenen inneren Gefährdung.
Bei den "Royal's" gibt es Probleme wie in vielen anderen Häusern.
Wahrheit und Vergebung führen David zu neuer Einsicht und Mündigkeit.
Auch das gehört zur Menschenwürde: Was Menschen wirken und verwirken,
gräbt Spuren, zeitigt Folgen, für die wir aber geradestehen
und Verantwortung übernehmen können. Da Gott uns auch im Scheitern
und Versagen nicht abschreibt, können wir auf Knien liegen und doch
aufrecht gehen. Was uns zugemutet wird, wird uns zugetraut. Deshalb können
Menschen Politik machen und Demokratie wagen - keine makellose, aber eine
zutiefst humane, ohne den Versuch, erst einen neuen Menschen hervorzubringen,
ohne den Versuch, die Vergangenheit billig zu entsorgen, sondern in Anerkenntnis
von geschehener Schuld. Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen
machen. Es bleibt auf Vergebung angewiesen. Vergebung aber ist nur möglich,
wo Glaube und Politik unterschieden bleiben wie Letztes und Vorletztes.
Der Glaube kümmert sich um das Heil, die Politik um das Wohl der
Menschen.
VII.
Und Nathan ging heim. So lapidar können Lebensabschnitte
enden. Und so trocken kann die Bibel sein. Sie sagt, wer der Mensch ist.
Sie erzählt keine frommen Märchen und fordert keinen moralischen
Idealismus. Sie verkündigt nur, daß Gott diesen Menschen, gerade
diesen zugleich gottvollen und gottlosen, an Leidenschaft und Tod verkauften
Menschen erwählt hat und erlösen wird. Gott billigt keine Untat
und rechtfertigt das Böse nicht. Aber Gott rückt es zurecht
- mitten im Menschlichen, auch durch die mit Dreck am Stecken. Begreifen
werde ich es niemals. Aber wenn ich mich dagegen wehre, verschließe
ich mich dem Auftrag Gottes, Leben mitzugestalten und mitzuverantworten.
Weiteres bleibt Nathan nicht zu sagen. Der Prophet hat dem König
- und damit uns allen - den Spiegel vor Augen gehalten. David hat sein
Unrecht erkannt und seine Schuld bekannt. Doch Nathan hat ihm im Namen
Gottes neues Leben zugesprochen. Der schuldig gewordene David bleibt verschont.
Seine Tat wird verurteilt, David selbst freigesprochen. Kein Mensch ist
für sein Sein verantwortlich, aber für seine Taten.
An David erkenne ich, wie Machtgebrauch Gott berührt. An David erkenne
ich, wie ich vor Gott dastehe: als einer, der am liebsten seinem Vater
im Himmel einen Tempel auf Erden bauen möchte, zugleich als einer,
der in der Stunde der Versuchung Gottes Weisungen in den Wind schlägt;
als einer, der mit Leidenschaft auf bessere Verhältnisse aus ist,
aber in gewissen Augenblicken von den Mächten der Leidenschaft besessen
alles aufs Spiel setzt. Politiker/innen sind solche Menschen - wie alle
anderen auch. Regierende wie Regierte müssen wissen, daß Menschen
ohne Ausnahme in Schuld geraten - und wer diese Schuld vergeben kann.
Aus der Vergebung wirklich zu leben, ist mehr wert als alle Grundwerte-Programme.
Nathan geht heim, weil allein Gott die Geschichte durch einen Menschen
wie David weiterführen kann, dem so offensichtlich "der menschliche
Makel" (Philip Roth) anhaftet, der, noch einmal davongekommen, jetzt
mit den Schatten in seiner Seele und mit dem Glanz der Gnade umzugehen
hat.
In den nächsten Jahren, beim gnadenlosen und gemeinen Kampf um Davids
Nachfolge, wird Nathan oft den Atem angehalten haben. Wie doch selbst
bei diesen gottesfürchtigen Leuten Gott ganz ausgeschaltet schien!
Und wie Gott dennoch durch diese "Mischung aus Irrtum und Gewalt"
hindurch, die nach Goethe die Geschichte ist, die Geschicke seiner Menschheit
lenkt. Ein verborgener Gott, doch ganz gegenwärtig. Eine Geschichte,
die nur äußerst schwer mit Gott und noch schwerer ohne Gott
zu denken ist.
Ob Nathan, auf dem Weg nach Hause, noch ein Gebet durch den Kopf ging?
'>HERR, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.< Vergib
ihnen auch dann, wenn sie wissen, was sie tun, und es dennoch tun.'!
Wir jedenfalls, seit wir Davids Geschichte kennen, sind keine Unwissenden
mehr.
Amen.
Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax: 0511-52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de
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