Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

11. Sonntag nach Trinitatis, 11. August 2002
Predigt über 2. Samuel 12, 1-10.13-15a, verfaßt von Hans Joachim Schliep
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Und der HERR sandte Nathan zu David.
Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: ‚Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, daß es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt's wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er's nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war.'
Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: ‚So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat.'
Da sprach Nathan zu David: ‚Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels: >Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazu tun. Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, daß du getan hast, was ihm mißfiel? Uria, den Hethiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs Schwert der Ammoniter. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hethiters, genommen hast, daß sie deine Frau sei.< (...)
Da sprach David zu Nathan: ‚Ich habe gesündigt gegen den HERRN.' Nathan sprach zu David: ‚So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben.'
Und Nathan ging heim.

I.

In wenigen Wochen wählen wir einen neuen Bundestag. Die Regierenden sind Gewählte, keine Erwählten. Die Macht, die sie stellvertretend für uns innehaben, ist auf Zeit verlie-hen und ans Recht gebunden. Also müssen wir, die Wählenden, uns Gedanken machen: Wem vertrauen wir Macht an? Welches moralische Fundament brauchen Menschen, denen wir Macht übertragen? Macht betrifft und verändert die menschliche Existenz. Wer unter die Räder falsch gebrauchter Macht gerät, kann davon ein Lied singen. Es wird ebenso deutlich, wenn Menschen in der Politik scheitern: zu Grunde gerichtet durch poli-tische Gegner oder in Abgründe geraten durch eigene Schuld.
Gleichfalls ist zu überlegen: Nach welchem Standard sollen in Europa die Rechts-, Wirt-schafts- und Sozialsysteme einander angeglichen werden? Und wie steht es in der globa-len Menschengemeinschaft mit den Menschenrechten, z. B. den Rechten der Frauen?

II.

Frühe Lernerfahrungen mit der Macht und dem Recht erzählen die beiden Samuelbücher. Sie berichten davon, wie nach König Sauls Scheitern erst unter David zwischen Mittelmeer und Totem Meer, zwischen Libanon und Sinaiwüste aus einem Verbund eigenwilliger Volksstämme so etwas wie ein Staat entsteht. David verbindet die Landesteile >Israel< und >Juda<, erhebt die alte Kanaaniterstadt Jerusalem zum politisch-religiösen Zentrum, schwört deren vor-israelitische Einwohner auf den neuen Herrscher ein und macht umliegende Völker und Städte tributpflichtig.
Ein beachtliches Werk nach außen. Innen jedoch brechen mit Königtum und Staatlichkeit schwere kulturelle, ethische, rechtliche Konflikte auf. Soll das alte Jahwe-Recht gelten, das zum Beispiel gegen jede Art Gottes-Königtum steht? Soll das kanaanäische Recht gelten, nach dem der König auch Priester ist und eine nahezu unumschränkte Macht hat, das Recht also quasi selbst setzt? Der alte Prophet Samuel hatte vor den Macht- und Rechtsansprüchen eines Königs gewarnt (1. Samuel 8,10-18), das Königtum aber doch mit auf den Weg gebracht.
"Was ist der Wille, was ist das Wesen unseres Gottes?" Auch diese Fragen brechen neu auf. Denn jetzt war Jahwe Staats- und damit noch etwas anderes als begleitender Stammes- und Familiengott. Neue Deutungen mußten erst noch gefunden werden. Deshalb bleibt vieles ungesagt und widersprüchlich. Aber es kündigen sich doch drei grundlegende Unterscheidungen an: die von Macht und Moral, von Politischem und Privatem und von der Person und ihrem Werk.
In dem Gespräch zwischen Nathan und David wird der Blick ganz und gar auf die existentielle Innenansicht gerichtet: auf einen handelnden Menschen, der Macht ausübt. Doch sollen die anderen Betroffenen hier wenigstens erwähnt werden: Batseba, Uria, das namenlose Kind.

III.

David steht im vollen Glanz seines Königtums. Wen er sich unterwerfen konnte, hat er sich gefügig gemacht. Nur der Sieg über die Ammoniter steht noch aus, aber doch kurz bevor. Just auf dem Höhepunkt seiner Macht stürzt er ab auf den Tiefpunkt seiner Moral. Sein Königtum, nach außen gesichert, ist gefährdet nach innen - durch ihn selbst. Ein Mann, der nahezu alle Feinde besiegt hat, hat sich nun selbst die bitterste Niederlage beigebracht. Aus dem Gesalbten Gottes wurde ein Kapitalverbrecher.
Auf diese erschreckende Wahrheit bringt Nathan seinen König David. Noch aus Zeiten der alten religiös-politischen Ordnung Jerusalems stammend, bezeugt er nun, daß hinfort der Jahwe-Glaube Davids mit seinen Weisungen und Ansprüchen gilt: Bei aller Machtfülle steht der König, weil unter Gott, niemals wirklich über dem Recht. Vor allem hat irdische Macht kein Recht auf Willkür. Das mosaische Recht ist darauf angelegt, Macht heilsam zu begrenzen.
David, einst ein Söldnerführer, eine Art antiker Guerillero, muß das lernen. Er nahm sich die Frau, noch dazu eine verheiratete, wie er fremde Städte eroberte. Macht darf aber nicht Moral diktieren. Zwischen beiden steht das Recht, das soziale Beziehungen vor persönlichen Machtinteressen schützen soll. David ließ sich erkennbar von ausschließlich persönlichen Motiven leiten, als er in sexueller Begierde und reiner Willkür Bathseba zur Geliebten nahm. Währenddessen kämpfte ihr Ehemann Uria für David gegen die Ammoniter.
Bathseba ist schwanger. Der Ehebruch wird herauskommen. Uria aber läßt sich nicht austricksen. Er hält sich strikt an die Regel, die im Krieg Enthaltsamkeit gebietet. Als David ihn zum Urlaub nach Hause beordert, schläft er bei seinen Soldaten statt bei seiner Frau. So macht er Davids Plan zunichte, Bathsebas Schwangerschaft Uria anzuhängen, statt selbst zu seiner Verantwortung zu stehen. David aber läßt Uria über die Klinge springen. Er sorgt durch seinen skrupellosen Heerführer Joab dafür, daß Uria beim nächsten Kampfeinsatz zu Tode kommt.
Eine Ungeheuerlichkeit gebiert die andere: die persönliche Begierde den Ehebruch, dieser erst den hinterhältigen Vertuschungsversuch, schließlich den Mord. Von Davids unzähligen Liebesaffären ist diese die spektakulärste. Niemals vorher hat der König seine Macht derart schamlos für seine eigenen Interessen und zu Lasten anderer ausgenutzt.

IV.

Mit einem fremden Gast kommt Nathan zu David: mit der Wahrheit. Soll sie die Fesseln lösen, muß sie von außen kommen - besonders wenn jemand die Fäden so gezogen hat, daß sie ihm wie eine Schlinge um den Hals liegen. Nathan kleidet die Wahrheit in ein Gleichnis. Er vermeidet es, im Gestus super-moralischer >political correctness< den König öffentlich bloßzustellen, sein Intimleben anzuprangern und einer sensationslüsternen Menge preiszugeben. Wie Nathan David an die Wahrheit erinnert, macht er aus dem Playboy wieder einen König. Er spricht ihn auf eines Königs vornehmste Aufgabe an: die Schwachen zu schützen und ein gerechtes Urteil im Streitfall zu sprechen. Ginge man doch heute so mit Versagen und Schuld öffentlich um! Nathans Weise der Politikberatung ist beispielhaft, gerade für die Kirche: durch Schärfung der Gewissen keine Politik zu machen, aber Politik möglich zu machen.
Nathan setzt auf Selbsterkenntnis, aus der neue Einsichten und ein anderes Verhalten erwachsen können. In der Kunst der Verfremdung, ohne etwas zu verschweigen, redet er so, wie David es verstehen kann. Zugleich spricht er uns alle an. Den Gegensatz von Arm und Reich verstehen alle. Er ist besonders wirksam. Deshalb ist er vorrangig und weltweit zu überwinden.
Nathan erzählt von einem Reichen, der einem Armen sein einziges Schaf, seinen ganzen, wohlbehüteten Besitz raubt. Einspruch, Euer Ehren! Ist Frauenraub mit Tierraub vergleichbar? Damals war die Frau Eigentum des Mannes, Ehebruch also ein schweres Eigentumsdelikt. Immerhin bereitet Nathan mit einem Wortspiel schon vor, daß David trotz seiner Verblendung aufmerken muß: Der Arme pflegt das Lamm wie eine Tochter, hebräisch "bat"...... "Bath-seba". Und er nährt dieses Lamm an seinem Tisch, hütet es in seinem Schoß. David und Bathseba waren eben alles andere als von Tisch und Bett getrennt.

V.

‚So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat.' David ist empört. Zu Recht. Aber sein Urteil ist überzogen. Der Schafräuber hat nach dem geltenden Recht in der Tat vierfachen Ersatz zu leisten. Das Todesurteil aber wäre Unrecht. Daß David dem Reichen gleich den Tod an den Hals wünscht, zeigt, welche Leidenschaften in ihm stecken, bis hin zu Unbeherrschtheit und Unbedachtsamkeit: der empfindsame Harfenspieler und Psalmsinger kann wenig später brutal explodieren, heitere Herzlichkeit schlägt um in gnadenlose Härte. David - der Mensch in seinen Widersprüchen, beseelt von lauterem Gerechtigkeitssinn und besetzt von bodenloser Gemeinheit, zu jeder Zeit zu allem fähig.
Insgeheim hat David längst verstanden: Die Geschichte vom Reichen, der den Armen um sein Liebstes und Bestes beraubt, ist meine Geschichte. Das Todesurteil trifft den, der es fällt. Denn David ist der Mörder. Nur ihm konnte das Todesurteil gelten. Er hat sich selbst entlarvt.
Wir blicken in Abgründe der menschlichen Seele: Aggression nach außen kann mit Aggression nach innen zusammenhängen, im Haß auf andere kann Selbsthaß hervorbrechen, ein ungerechtfertigtes Strafurteil gegen andere kann eine Selbstbestrafung sein. Dennoch kann in diesem Gewirr aus Emotionen und Obsessionen die Wahrheit ihr befreiendes Wirken vorbereiten.
Durch ein weiteres Wort von außen wird David zur Wahrheit ganz befreit: ‚Du bist der Mann!' Unmißverständlich und eindringlich bahnt sich die Wahrheit durch den Mund eines anderen, durch Nathan, den Weg. Darin erkenne ich ein ganz bestimmtes Bild Gottes von seinen Menschen: In diesem Bild ist Platz für Widersprüche, für Irrtümer und Fehler, für das, was nicht aufgeht, für das Unmögliche, für Versagen und Schuld. Keine/r muß erst vollkommen sein, um Segen und Gnade, Aufgabe und Auftrag zu empfangen.
Diese Hinwendung zum konkreten Menschen spricht aus der Weise, in der Nathan die Wahrheit an den Mann bringt. Deshalb kann David so schnell und knapp seine Schuld eingestehen: Da sprach David zu Nathan: ‚Ich habe gesündigt gegen den HERRN'. Solche Erkenntnis, solches Bekenntnis will ausgesprochen sein vor den Ohren eines anderen, der die Wahrheit sagen und ertragen, der als Zeuge auf- und eintreten kann. Es ist für das private wie das politische Leben wichtig, eine solche Person in der Nähe zu wissen.
David braucht nicht einmal um Vergebung zu bitten. Die Bitte ist schon gesprochen, die Vergebung schon gewährt, weil die Brücke längst gespannt ist über den Sund, der David von Gott trennt.

VI.

Im Angesicht Gottes weiß die Sünde, daß sie Sünde ist. Sie kann sich aussprechen - und wird sich los. Bleibt die Wahrheit bei der Liebe und die Liebe bei der Wahrheit, baut das Eingeständnis der Schuld die Persönlichkeit auf statt sie zu verletzen und zu schädigen. Neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich. Die aber wachsen nicht in den Himmel, sondern bleiben im Rahmen dessen, was einmal begonnen wurde. Einmal Geschehenes wirkt nach. Ist die Schuld vor Gott getilgt, können unter Menschen noch viele Schulden abzutragen sein. Vergebung ist mehr als "Schwamm drüber!". Wird Vergebung wirklich angenommen, setzt sie die Kraft frei, mit den unaufhebbaren Folgen des eigenen Tuns umzugehen. In dieser Kraft stehen die biblischen Erzähler zu David als einem Großen, ohne seine dunklen Schatten zu verschweigen. Ja, mit Schuld leben und Verantwortung üben - das sind im wirklichen Leben zwei Seiten einer Medaille.
Gewiß, es befremdet mich, daß der erste Sohn namenlos bleibt und sterben muß. Hier jedoch wird in einer nun wieder ganz archaischen Sicht klar gemacht: Die Frucht eines Verbrechens, Unrecht hat auf Dauer keinen Bestand. Denn "Gott ... läßt sich nicht zum Tanze führen; er bleibt allzeit eine widerspenstige Wirklichkeit." (Heinz Zahrnt: Das Leben Gottes, München 1997, S. 81)
Folgen zu bedenken, so weit irgend möglich, gehört zur menschlichen Verantwortung, namentlich in der Politik. David scheint bereit, hinfort Verantwortung zu übernehmen. Darum bittet er: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, / und gib mir einen neuen, beständigen Geist. (Psalm 51,12) Um einen neuen Geist empfangen zu können, wird er freigesprochen von dem Urteil, das er sich selbst gefällt hat. Er bleibt am Leben, damit seine Einsicht sein königliches Handeln beeinflußt. Das kann nur geschehen, wenn Spuren in seinem Leben hinterläßt, was er verursacht hat - wie den Tod Urias und fortan auch des ersten Sohnes mit Bathseba. Zu diesen Spuren gehört ebenso, daß - wie Nathan weiter ankündigt (Verse 11+12) - künftig das eigene Haus, die eigenen Söhne gegen sein Königtum sich erheben werden. David muß unter erschwerten Bedingungen regieren. Die innere Bedrohung ist der Spiegel seiner eigenen inneren Gefährdung. Bei den "Royal's" gibt es Probleme wie in vielen anderen Häusern.
Wahrheit und Vergebung führen David zu neuer Einsicht und Mündigkeit. Auch das gehört zur Menschenwürde: Was Menschen wirken und verwirken, gräbt Spuren, zeitigt Folgen, für die wir aber geradestehen und Verantwortung übernehmen können. Da Gott uns auch im Scheitern und Versagen nicht abschreibt, können wir auf Knien liegen und doch aufrecht gehen. Was uns zugemutet wird, wird uns zugetraut. Deshalb können Menschen Politik machen und Demokratie wagen - keine makellose, aber eine zutiefst humane, ohne den Versuch, erst einen neuen Menschen hervorzubringen, ohne den Versuch, die Vergangenheit billig zu entsorgen, sondern in Anerkenntnis von geschehener Schuld. Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen. Es bleibt auf Vergebung angewiesen. Vergebung aber ist nur möglich, wo Glaube und Politik unterschieden bleiben wie Letztes und Vorletztes. Der Glaube kümmert sich um das Heil, die Politik um das Wohl der Menschen.

VII.

Und Nathan ging heim. So lapidar können Lebensabschnitte enden. Und so trocken kann die Bibel sein. Sie sagt, wer der Mensch ist. Sie erzählt keine frommen Märchen und fordert keinen moralischen Idealismus. Sie verkündigt nur, daß Gott diesen Menschen, gerade diesen zugleich gottvollen und gottlosen, an Leidenschaft und Tod verkauften Menschen erwählt hat und erlösen wird. Gott billigt keine Untat und rechtfertigt das Böse nicht. Aber Gott rückt es zurecht - mitten im Menschlichen, auch durch die mit Dreck am Stecken. Begreifen werde ich es niemals. Aber wenn ich mich dagegen wehre, verschließe ich mich dem Auftrag Gottes, Leben mitzugestalten und mitzuverantworten.
Weiteres bleibt Nathan nicht zu sagen. Der Prophet hat dem König - und damit uns allen - den Spiegel vor Augen gehalten. David hat sein Unrecht erkannt und seine Schuld bekannt. Doch Nathan hat ihm im Namen Gottes neues Leben zugesprochen. Der schuldig gewordene David bleibt verschont. Seine Tat wird verurteilt, David selbst freigesprochen. Kein Mensch ist für sein Sein verantwortlich, aber für seine Taten.
An David erkenne ich, wie Machtgebrauch Gott berührt. An David erkenne ich, wie ich vor Gott dastehe: als einer, der am liebsten seinem Vater im Himmel einen Tempel auf Erden bauen möchte, zugleich als einer, der in der Stunde der Versuchung Gottes Weisungen in den Wind schlägt; als einer, der mit Leidenschaft auf bessere Verhältnisse aus ist, aber in gewissen Augenblicken von den Mächten der Leidenschaft besessen alles aufs Spiel setzt. Politiker/innen sind solche Menschen - wie alle anderen auch. Regierende wie Regierte müssen wissen, daß Menschen ohne Ausnahme in Schuld geraten - und wer diese Schuld vergeben kann. Aus der Vergebung wirklich zu leben, ist mehr wert als alle Grundwerte-Programme.
Nathan geht heim, weil allein Gott die Geschichte durch einen Menschen wie David weiterführen kann, dem so offensichtlich "der menschliche Makel" (Philip Roth) anhaftet, der, noch einmal davongekommen, jetzt mit den Schatten in seiner Seele und mit dem Glanz der Gnade umzugehen hat.
In den nächsten Jahren, beim gnadenlosen und gemeinen Kampf um Davids Nachfolge, wird Nathan oft den Atem angehalten haben. Wie doch selbst bei diesen gottesfürchtigen Leuten Gott ganz ausgeschaltet schien! Und wie Gott dennoch durch diese "Mischung aus Irrtum und Gewalt" hindurch, die nach Goethe die Geschichte ist, die Geschicke seiner Menschheit lenkt. Ein verborgener Gott, doch ganz gegenwärtig. Eine Geschichte, die nur äußerst schwer mit Gott und noch schwerer ohne Gott zu denken ist.
Ob Nathan, auf dem Weg nach Hause, noch ein Gebet durch den Kopf ging? '>HERR, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.< Vergib ihnen auch dann, wenn sie wissen, was sie tun, und es dennoch tun.'!
Wir jedenfalls, seit wir Davids Geschichte kennen, sind keine Unwissenden mehr.

Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax: 0511-52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de


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