Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 4. August 2002
Predigt über 2. Könige 25, 8-12, verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.online-predigten.de)

8 Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem
9 und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer.
10 Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache unterstand, riß die Mauern Jerusalems nieder.
11 Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg;
12 aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück. Amen

Wenn auch Tempel einstürzen, Kulttempel, Kulturtempel, Konsumtempel: Der Bauer bestellt weiterhin seinen Acker, der Weingärtner seinen Weinberg. Denn auch bei neuen Herren kommt - wie bei den alten - erst das Fressen und dann die Moral. Glaube, Hoffnung und Liebe aber leben auch ohne Priester und Tempel in den Herzen der kleinen Leute.

Liebe Geschwister,

aus manchen Texten der Bibel erfahren wir einiges über diejenigen, die nach Babylon in die Gefangenschaft verschleppt wurden. Wie aber mag es denen ergangen sein, die in Jerusalem blieben, den kleinen Leuten, den Randfiguren der Geschichte? Dieser Frage möchte ich heute nachgehen:

Trauer machte sich breit unter den Dagebliebenen, Trauer über die Zerstörung des Tempels, Trauer über die Zerstörung von Häusern und Straßen, Trauer aber vor allem über die Getöteten. Bekannte Persönlichkeiten der Stadt waren zu beklagen, auch Nachbarn und Freunde, vor allem aber Familienangehörige. Männer, Väter und Söhne, die im Kampf gefallen waren; Frauen, Kinder und Alte, die dem Kampf zum Opfer gefallen waren. Die dagebliebenen Überlebenden bestatteten die Toten, auch die toten Feinde. Dann räumten sie auf in der Stadt, beseitigten Schutt, klopften Steine, fanden manches Brauchbare unter den Trümmern. Die leerstehenden Häuser verschlossen sie, damit die Vertrieben das Ihre vorfänden, wenn sie zurückkamen.

Immer wieder aber ergab es sich, daß die Dagebliebenen nicht wußten, was sie tun sollten. Keiner sagte es ihnen, denn die das Sagen hatten, waren alle weggeführt worden. Wenn auch mancher dem einen oder anderen der Entführten sein Schicksal gönnte, darin eine gerechte Strafe für begangene Ungerechtigkeit sah: Sie fühlten sich doch manches mal allein gelassen und ratlos. Denn sie hatten niemanden, bei dem sie sich als Tagelöhner verdingen konnten, keinen, der den in Not geratenen mit Almosen half. Die Sorge um das tägliche Brot wuchs und bestimmte mehr und mehr ihren Alltag.

Sie hielten und feierten den Sabbat nach alter Gewohnheit und so gut sie konnten, gingen auch gelegentlich zum Tempelberg und klagte Jahwe ihr Leid. Haderten mit ihm, weil sie sich von ihm verlassen fühlten. Zweifelten an ihm, weil sein Tempel zerstört war, und weil er das Unglück nicht verhindert hatte. Manche hatten die Mahnungen Jesajas gehört, andere Jeremias noch deutlichere Warnungen. Doch das hatten sie nie auf sich bezogen, sondern immer auf die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Vom Verbleib Jesajas wußte niemand etwas, doch Jeremia war mit den Verbannten gezogen, freiwillig, fast gegen den Willen der Siegermacht. Manche verstanden das nicht, andere bedauerten das und hätten ihn gern als Tröster, auch als Ratgeber in der zerstörten Stadt gehabt.

Die Babylonier hatten unter dem Kommando eines Gedalja einige Offiziere und ein kleines Heer Soldaten zurückgelassen. Sie hatten vor allem die Aufgabe, die entstandenen Kriegskosten aus dem besiegten Land herauszuholen und möglichst noch etwas mehr. Gedalja erwies sich als umgänglich und menschlich, sie legten bald ihre Angst vor Besatzerwillkür ab und richteten sich nach den neuen Herren. Ein Herr war gegangen, ein anderer gekommen, für die kleinen Leute geriet die Welt wieder ein wenig ins Gleichgewicht. Sie bekamen wieder gesagt, was sie zu tun hatten, und das taten sie.

Und doch: Irgendwie war alles anders. Wenn kein Priester, kein Levit den Gottesdienst hielt - wie sollten sie ihrem Gott opfern, wie sein Wort hören - und vor allem: Wo sollten sie das tun, wo doch der Tempel zerstört war. Hatte Gott sich vollends von ihnen abgewandt, daß sie nicht mehr zu ihm kommen konnten? Was hatten sie, die kleinen Leute, denn Böses getan, daß er sie so sehr strafte! Und was konnten sie tun, um ihn wieder zu versöhnen? Vor jedem Fest, vor jedem Opfertag, vor jedem Sabbat stellten Menschen sich und anderen diese Fragen.

Die Babylonier konnten diese Fragen nicht beantworten und nicht sagen, was hier zu tun war. So fragten sie schließlich die wenigen Alten, die noch in der Stadt waren. Die zuckten zunächst auch nur mit den Schultern, mit solchen Fragen hatten sie sich nie befaßt. Dafür hatte es Priester gegeben, die das gelernt hatten. Doch als Älteste mußten sie sich den Fragen stellen und Antworten finden. Das war alter Brauch und gute Sitte. Über reichlich Lebens- und Glaubenserfahrung verfügten sie ja, und so sahen sie es ein: Sie mußten dafür sorgen, daß auch die Enkel Gott, wie sie ihn fanden, fänden.

Lesen konnten sie nicht, doch sie kannten viele Geschichten: Von der Erschaffung der Welt, von Adam und Eva, von Kain und Abel, von Abraham, Isaak und Jakob, Geschichten über Joseph und seine Brüder, über Mose, Josua und die Richter, über David und Salomo und manche anderen. Diese Geschichten wollten sie weitererzählen und damit zeigen, wie Gott sein Volk durch alle Zeiten und deren Wirrnisse geführt und bewahrt hatte. Und Lieder kannten sie, Trostlieder, Hoffnungslieder, Mutmachlieder, auch Klagelieder und Bußlieder. Die wollten sie mit ihren alten, rostigen Stimmen singen.

Lieder und Geschichten, das wußten sie aus eigener und langer Erfahrung, bleiben besser im Gedächtnis als manches, was die Priester und Propheten an klugen Gedanken gesagt hatten. Die hatten sie oft schon beim "Amen" vergessen. Die Lieder aber und Geschichten ihrer eigenen Kindheit kannten sie immer noch, konnten sie singen und erzählen. Und das wollte sie tun.

Weil sie nur wenige waren und nicht in jede Familie gehen konnten, suchten und fanden sie eine leerstehende Halle, luden dorthin die Menschen, vor allem die Kinder, ein. Doch auch die Erwachsenen kamen, kamen in immer größerer Zahl. Denn sie merkten, welche Kraft, welche Ermutigung und welcher Trost von diesen Geschichten und Liedern, aber auch von den Alten selbst ausging. Niemand störte sich daran, daß die von den Priestern festgelegte Ordnung gelegentlich durcheinander geriet; die war Menschenwerk und also ohnehin veränderbar.

Eines Tages geschah etwas Besonderes: Einer der Alten hatte von der Landnahme in Kanaa erzählt, von dem manchmal friedlichen, manchmal feindlichen Verhältnis zu den Philistern und davon, wie das Volk Gottes sich dort niedergelassen hatte, wo niemand wohnte. Da war ein junger Mann aufgestanden und hatte gefragt, was eigentlich mit den brach liegenden Äckern und Weingärten der Verschleppten geschehen solle. Schließlich seien Getreide und Trauben reif zur Ernte, und die Menschen in der Stadt litten Hunger. "Ist es erlaubt," hatte er gefragt, "das Land zu nehmen und zu ernten, wo man nicht gesät hat?"

Der Alte blickte Hilfe suchend zu seinen Altersgenossen, doch die blickten alle zum Fußboden. Ein allgemeines Gemurmel setzte ein, wurde allmählich lauter. "Wir zahlen für den Krieg des Königs, da können wir auch von seinen Feldern ernten," rief jemand laut dazwischen, und "Wenn Land brach liegt, verkommt es," ein anderer. "Wir wohnen in elenden Hütten, und die Häuser der Reichen stehen leer!" war ein Dritter zu hören und erntete Beifall. Dem Alten wurde unwohl; er hatte nicht damit gerechnet, daß man die alten Geschichten so beim Wort nehmen könnte. "Du sollst nicht stehlen, heißt es im Gebot," rief er in die Menge. und jemand rief zurück: "Wir stehlen nicht, wir halten in Stand. Wenn sie zurückkommen, bekommen sie alles wieder." Wieder Beifall, und der Alte schwieg, weil er nicht weiter wußte.

Ein anderer Alter stand auf, bezog sich auf die Landnahme unter Josua und daß das Land dem Volk verheißen war, nicht einzelnen Menschen. "Dies Land ist mein Land, hat Gott gesagt," rief er, "darum sollt ihr es bebauen und bewahren. Und das wollen wir tun. Und auch die Häuser wollen wir in Stand halten, und was zerstört ist, wieder aufbauen. Denn wenn unsere Brüder zurückkommen, sollen sie zu Hause sein können." - "Und wenn sie nicht wiederkommen, ist es schade um die Häuser," ließ sich jemand vernehmen, es war ein Viehhirt, und fuhr fort: "Seit Josuas Zeiten lebt meine Familie in Zelten. Haben wir nicht auch ein Recht auf ein festes Haus, das bei Regen trocken bleibt und bei Sturm nicht wegweht? Und wo steht geschrieben, daß wir bei Kälte frieren müssen? Hat Gott nicht Milch und Honig für alle versprochen? Ich such mir jetzt ein Haus und zieh mit meiner Familie ein!"

Der Viehhirte ging, und nach ihm gingen fast alle, auch die Kinder. Sie ahnten, das aufregende Veränderungen anstanden, Veränderungen, die etwas mit den Geschichten und Liedern der Alten zu tun hatten. Die Kinder wußten nicht genau, was es war, aber es würde für sie gut sein. Das spürten sie.

Einige Alte blieben zurück, ein wenig verwirrt über das Geschehene, aber nicht unzufrieden. "Hätten die Leute auf die Propheten gehört, gäbe es bei uns keine Armut," meinte einer, und ein anderer bestätigte: "Den Krieg mit Babylon hätte es auch nicht gegeben und keine Verschleppung." - "Aber hinterher ist man immer schlauer," stellte ein dritter fest, "laßt uns gehen und aufpassen, daß es kein Hauen und Stechen gibt bei denen da draußen. Sie sind erstens Menschen und zweitens Gläubige, nicht umgekehrt." Doch draußen war alles ruhig, und bald lief das Leben wieder in geordneten Bahnen. Die immer regiert worden waren, regierten sich nun selbst. Soweit Babylon das zuließ, doch Babylon war weit weg. Denn es fanden sich unter den kleinen Leuten welche, die konnten, was sie zuvor hatten machen lassen. Und die Alten unterwiesen die Kinder im Glauben, was die Kinder dann im Alter genau so machen würden.

Amen

Gebet:
Gott, es ist gut zu wissen, daß es nicht Häuser und Türme sind und auch nicht die Schätze aus Kult-, Kultur- und Konsumtempeln, die deine Gegenwart sichern. Und es sind auch nicht die Großen der Welt, nicht die Hohen Priester aus Politik und Wirtschaft. Du lebst in den vielen kleinen Leuten weiter, die ihre Pflichten still erfüllen und auf ihre Art dafür sorgen, daß alles weitergeht: Die Leute von der Müllabfuhr und von der Straßenreinigung, die vielen Helferinnen und Helfer in Verkehr und Transport, ...(gemeindebezogen ergänzen). Wir danken für ihren Dienst und bitten dich: Behüte du sie vor Unfall und Gefahr. Wir bitten dich, gib den Alten unter ihnen Mut, den Kindern von dir zu erzählen und den Glauben an dich lebendig zu halten.

Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Gott Jesu von Nazareth: An diesem Sonntag bitten wir dich besonders für dein Volk Israel. Es gab beängstigende Diskussionen in unserem Land, und das Land, in dem du dich deinem Volk und der ganzen Welt offenbart hast, leidet unter brutaler Gewalt. Laß uns Menschen erkennen, was uns im Glauben verbindet, laß uns auf deinen Frieden hoffen, laß uns deine Liebe leben.

Liedvorschläge:
Ich will, solang ich lebe, EG 276; Wenn der Herr einst die Gefangnen, EG 298; Alles ist an Gottes Segen, EG 352; In Gottes Namen, EG 494; Ich sing in Ewigkeit von des Erbarmers Huld, EG RWL 622

Paul Kluge, Provinzialpfarrer
Im Diakonischen Werk der
Kirchenprovinz Sachsen e. V.,
Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)