Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

7. Sonntag nach Trinitatis, 14. Juli 2002
Predigt über 2. Mose 16, 2-3.11-18 , verfaßt von Hans-Gottlieb Wesenick

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Es murrte die ganze Gemeinde wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: „Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in die Wüste, daß ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben laßt." Und der Herr sprach zu Mose: „Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, daß ich, der HERR, euer Gott bin." Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. Und als der Tau weg war, siehe, da lag's in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: „Man hu?" (zu deutsch: Was ist das?) Denn sie wußten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: „Es ist das Brot, das euch der Herr zu essen gegeben hat. Das ist's aber, was der Herr geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte." Und die Israeliten taten's und sammelten, einer viel, der andere wenig. Aber als man's nach-maß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.

Liebe Gemeinde! „Und immer lockt das Fleisch!" So kann man unsere Geschichte überschreiben. Mit wenigen Worten zeichnet der Verfasser darin die augenblickliche Lage der Israeliten: Sie sind auf der Wanderschaft durch die Wüsten im Sianigebirge, nachdem ihnen der Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten dank Gottes machtvoller Hilfe endlich geglückt ist. Sie erinnern sich gewiß an diese alte Geschichte, liebe Gemeinde, die uns das 2. Buch Mose berichtet.

Josef war tot. Der neue Pharao wußte nichts mehr von ihm. Er bemerkte nur mit zunehmender Besorgnis, daß die Fremden im Lande immer zahlreicher wurden. Sein Mißtrauen wuchs, und seine Sorge vor politischer Unzuverlässigkeit der Fremden im Lande wandelte sich allmählich zu regelrechter Angst vor ihnen. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Drängt sie außerdem noch zu politischem Handeln, dann bleibt fast stets die Menschlichkeit auf der Strecke. Man spürt das bei uns heutzutage recht deutlich in der aktuellen Zuwanderungsdebatte. Über weite Strecken wird sie von Ängsten bestimmt.

Das klassische Instrumentarium der Unterdrückung wird in der alten Geschichte vorgeführt. Zunächst wird die Kontrolle der israelitischen Ziegeleiarbeiter verschärft. Dann werden die Arbeitsnormen heraufgesetzt: sie bekommen das benötigte Stroh nicht mehr gestellt, sondern müssen es selbst beschaffen und trotzdem täglich die gleiche Stückzahl Ziegel fertigen wie vorher, als ihnen gehäckseltes Stroh zugeliefert wurde. Ihre Familien werden von der Staatssicherheit observiert; neugeborene Söhne sollen sofort getötet werden. Zwar sabotieren die Hebammen listig diese grausamen Anordnungen und machen sich lustig vor dem Pharao über die offenbar nicht so stabilen Mütter des ägyptischen Herrenvolkes. Aber gleichwohl wird die Situation der Israeliten immer unerträglicher.

Und es geht ja noch weiter: Nach zahlreichen vergeblichen Anläufen läßt der Pharao die Israeliten schließlich frei. Mose führt sie heraus, und die nachsetzenden ägyptischen Reitertruppen samt dem Pharao ertrinken im Schilfmeer - ein grandioser Erfolg, nur durch Gottes machtvolle Hilfe möglich geworden. Begeistert singen Mose und Mirjam ihre Lob- und Siegeslieder: „Laßt uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt."

Staunen, Freude, Dankbarkeit - das alles liegt inzwischen schon längst wieder in der Vergangenheit. Das Volk Israel ist immer noch auf dem Weg durch die Wüste und ahnt nicht, daß es ihn 40 Jahre lang wird gehen müssen. Ernüchterung hat um sich gegriffen, manchmal Erwachen wie aus einem Traum. Denn besseres Leben kommt noch nicht in Sicht.

Es ist natürlich leicht, das alles heute aus der Perspektive der Zuschauer zu betrachten als eine Geschichte, die sich in einer nun wirklich sehr fernen Vergangenheit abgespielt hat.

Es wäre auch nicht schwierig, dieses Bild noch ein wenig weiter auszumalen und dazu an den Stellen, die auf aktuelle Vorgänge unserer Gegenwart passen, mahnend den Zeigefinger zu erheben. Damit blieben wir im Vordergrund, an der Oberfläche unserer Geschichte hängen. Geschichten der Bibel haben mehr zu bieten, auch diese hier. In ihnen kommen stets fundamentale Lebensfragen vor, werden Grundmuster menschlichen Wesens aufgezeichnet. Deshalb wohl gehört diese Geschichte mit hinein in das Glaubensbekenntnis Israels, das nicht müde wird, den Auszug aus Ägypten, die Befreiung aus der Knechtschaft also und die Bewahrung in der Wüste in immer neuen Variationen zu erzählen.

Ich greife einige dieser Grundmuster menschlichen Wesens heraus. Die aus Ägypten geflohenen Israeliten gerieten unversehens in eine Bedrängnis, die noch größer war als jene, der sie gerade entronnen waren: auf dem Weg durch die Wüste bedrohte sie der Hunger. Und sofort schauten sie zurück in die überwundene Vergangenheit. Die erschien ihren Augen nun plötzlich in hellem Licht. Denn zu essen hatten sie ja immer gehabt - ob freilich stets Fleisch-töpfe und Brot die Fülle, wie sie mit knurrenden Mägen jetzt murrend behaupten, das kann man zumindest fragen. Doch Ernährungsprobleme gab es in der Wüste tatsächlich, und Schuldige waren sogleich auch zur Hand: nämlich Mose und Aaron. Sie hatten das ganze Fluchtunternehmen gestartet und als Gottes Rettungstat ausgegeben.

Wir haben gehört, daß diese Probleme gelöst wurden. Die Geschichte ging gut aus. Israel mußte in der Wüste nicht verhungern. Manna und Wachteln sicherten das Überleben. So weit, so gut - beinahe selbstverständlich, zumal die Naturwissenschaft dazu Erklärungen gibt: Wachteln passieren bis heute als Zugvögel von und nach dem Mittelmeer die Sinaiwüste. Wenn sie, vom Flug ermattet, in Scharen auf dem Boden ausruhen, kann man sie relativ leicht mit bloßen Händen fangen. Manna bildet sich aus dem überschüssigen Pflanzensaft, den Schildläuse aus den Zweigen der Manna-Tamariske saugen und als Tropfen absondern, die in der Nachtkühle zu weißlich-gelben Kügelchen verhärten, so daß man sie morgens vom Erdboden auflesen kann. Damit ist freilich das Wunder nicht wegerklärt. Denn Erklärbarkeit und Reiz des Wunderbaren schließen sich nicht automatisch gegenseitig aus. Welche Wunder stecken in Kristallen oder menschlichen Zellen, wenn sie durch ein Mikroskop vielfach vergrößert betrachtet und zugleich auf diese Weise vertieft erklärt werden können! Also: Wachteln und Manna gab es zu essen, Tag für Tag. Darüber staunten auch schon die Alten: Wir werden gerettet! Es gibt zu essen. Jeder konnte sammeln, soviel er brauchte, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

So will also diese Geschichte nun doch vor allem verstanden werden als eine von Gott veranlaßte Rettungstat. Denn der turbulente Auszug aus Ägypten enthält ja so gut wie nichts, was auf sorgfältige Vorbereitung und Planung schließen ließe. Israel erscheint wie eine getriebene Menschenmenge. Und alles, was dann geschieht, geschieht aus göttlicher Initiative. Israel weiß nicht, was am nächsten Tag passieren wird. Es hat keine Ahnung, wie es weiter gehen wird. Und genau dieses Nichtwissen kann einen Menschen fertig machen.

Es ist leicht, auf Gottes Führung zu vertrauen, wenn der Weg in die Zukunft klar umrissen und vorgezeichnet ist. Sind Umwege und Hindernisse und alle Unwägbarkeiten aus dem Weg geräumt, dann spricht man gern von Gottes Voraussicht und Führung und vertraut sich ihm dankbar an. Doch mangelt es an solcher Klarheit und Eindeutigkeit, dann beginnt der große Hader, die bittere Anklage.

Unsere Geschichte läßt noch ahnen, welch heftiger Kampf da entbrannt ist zwischen jenen Männern, die Israel seine Rettung bezeugten, und der Masse des Volkes, die von solcher Rettung nichts wissen wollte. Es ist wirklich starker Tobak, wenn sie Mose und Aaron vorhalten: „Ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, daß ihr diese ganze Gemeinde am Hunger sterben laßt!"

Biblisch verstanden spricht aus diesem maßlosen Vorwurf der Unglaube, und der kann auch uns befallen wie eine Infektionskrankheit. Er beginnt damit, daß wir vergleichen. Das eigene Schicksal wird verglichen mit dem Wohlergehen und den Erfolgen eines anderen, und sogleich ist der Neid zur Stelle. Oder der Mensch vergleicht Gegenwart und Vergangenheit miteinander. Er beschwört „die gute alte Zeit", malt das, was er nicht mehr hat, in schönsten Farben, und so tritt die Düsternis der Gegenwart besonders scharf hervor. Im Verdrängen und Vergessen ist der Mensch Meister - wenn es ihm nur seine momentane Lage erleichtert und ihm ein Ventil schafft, um seine Enttäuschung, seinen Frust und die daraus erwachsenden Aggressionen herauslassen zu können.

Immerhin kann man Israels Murren in der Wüste, seine Rebellion gegen seine Führer und gegen Gott, auch als den Versuch verstehen, mit dem Leben wieder zurechtkommen und ihm einen Sinn abgewinnen zu wollen. Und dabei wird das Volk nicht allein gelassen.

Auffällig ist, daß Mose und Aaron in unserer Geschichte darauf mit keinem Worte eingehen. Wahrscheinlich gibt es darauf auch gar keine Antwort. Selbst wenn der Vergleich sein Recht haben mag: er ist der schärfste Angriff auf Gottes Führung und die radikalste Absage an jedes Gottvertrauen. Dennoch sagt Gott seine Hilfe zu.

Für uns geschieht das vielleicht zu unvermittelt, daß von Gott gesprochen wird. Aber diese Geschichte ist doch wohl der Niederschlag einer Erfahrung, daß und wie Menschen sich in ihrem Leben geführt und gehalten wissen. Vieltausendfach haben Menschen, hat Gottes Volk in der Geschichte erlebt, daß aus der Bedrohung, aus der Not, aus Leid doch ein Schritt nach vorn möglich geworden ist. Wer nur einmal, vielleicht nur ein klein wenig und mit halbem Herzen, versuchte, auf Gott zu vertrauen, der blieb auch dann, als sein Weg ganz dunkel wurde, nicht auf der Strecke. Ohnmacht und Schwäche haben sich zur Gewißheit verwandelt, daß Gott seine Leute nicht im Stich läßt. Hinter diese Erfahrung können wir nicht mehr zurück. Darauf weist die Geschichte von der Wüstenspeisung auch uns hin.

Aber sie will noch mehr zeigen. Mose empfängt Deuteworte, Hinweise für den Neuanfang. In seinen Zeichen begibt sich Gott mit auf den Weg durch die Wüste, durch die Einsamkeit. Jeder kann täglich am Abend und am Morgen erkennen und entdecken, daß Gott an ihm seine Verheißung zum Leben erfüllt. Keiner soll in der Wüste umkommen, auch wenn Ungeborgenheit und Unsicherheit seine täglichen Begleiter sind. Das Volk lernt es, von der Hand in den Mund zu leben. Es braucht sich nicht um morgen zu sorgen, und Wirtschaft auf Vorrat ist hier sowieso nicht möglich. Denn jeder bekommt täglich gerade und genau das, was er braucht: sein Brot für heute, egal, ob er viel oder wenig eingesammelt hat.

Lebensbrot ist das Brot in der Not. Und dabei wird wieder eine Grunderfahrung des Glaubens gelernt: die Zeichen, daß Gott mit auf dem Weg ist, können so unauffällig sein wie das Manna. Keiner kann Gott den Plan seines Handelns vorschreiben. Wer zu glauben versucht, findet kein Patentrezept für sein Leben und seinen Glauben. Jeder steht mit seinem persönlichen Einsatz für das Gelingen von Glauben ein.

Erfahrungen von Gottes Treue und Nähe sind sehr verschiedenartig, vielfältig, bunt, gewiß auch irgendwo widersprüchlich. Menschen der verschiedenen Zeitepochen haben gelernt, Brüche in ihrer eigenen Lebensgeschichte anzunehmen und an Gottes Wegen nicht irre zu werden. Die Bibel beschreibt sie bei einzelnen Personen wie z. B. Hiob oder Jeremia oder Paulus und natürlich auch in vielen Psalmen. Bis heute wissen Menschen immer wieder eindrucksvoll davon zu erzählen.

Diese Erfahrungen, so bunt sie auch sein mögen, haben eines gemeinsam: wo Menschen auf den Sinnzusammenhang des Lebens vertrauen, da ordnen sich Dunkelheiten und Wüstenzeiten zu Bausteinen auf dem Weg in die Zukunft. Hermann Hesse hat dies einmal so formuliert: „Seltsam, im Nebel zu wandern ... wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt, das unentrinnbar und leise von allen ihn trennt ..." Auch unsere Wege sind zuzeiten von Zweifeln gesäumt, und Ängste wollen uns beherrschen. Sie sind nicht sinnlos.

Aus dieser Geschichte meine ich herauszuhören, daß wir für unsere Einsamkeiten dies lernen sollen: Wo wir versuchen, uns Gottes Führung anzuvertrauen, da wachsen uns ungeahnte Kräfte zu. Wir können den nächsten Schritt tun, auch wenn wir vorher nicht wissen, wo wir ankommen werden. Aber wir werden den Weg nicht verfehlen. Und wo wir ganz schwach werden und zu fallen drohen, da wird uns eine Kraft aufheben und uns weiterhelfen. So vermögen wir am Ende im Vertrauen auf Gott buchstäblich in den Tag hineinzuleben, weil wir wissen: jeder Tag ist so etwas wie ein Fürsorgetag Gottes.

Manchmal erkennen wir das nicht und nehmen seine Güte nicht wahr. Wir werden sie auch immer nur zeichenhaft erfahren. Daran erinnern die Wachteln und das Manna. Gottes Güte sollen wir selbst täglich neu erproben. Aber dann werden wir erfahren: er verläßt uns nicht.

Und das sollten wir dann auch weitersagen, oder, vielleicht besser noch: auch unsererseits denen an die Seite treten, die durch eine Wüste wandern, die angefochten sind und zweifeln, die zu kurz gekommen sind und schwach. Die Verheißung zum Leben will durch uns persönlich weitergetragen sein, gerade da, wo das Fleisch lockt und die Versuchung groß ist, nicht nach vorn zu schreiten, sondern enttäuscht umzukehren. Das nötigt uns gewiß auch oft genug, in Gegensatz zu treten zu dem, was alle tun, und gängigen Anschauungen zu widersprechen. Jochen Klepper schrieb: „Manchmal denkt man, Gott müßte einem in all den Widerständen des Lebens ein sichtbares Zeichen geben, das einem hilft. Aber dies ist eben sein Zeichen, daß er einen durchhalten und es wagen und dulden läßt."

Vor jedem von uns liegt sein Weg, den er zu gehen hat. Wie werden wir uns entscheiden? Wie werden wir uns verhalten? Wo werden wir ankommen? Wir wissen es noch nicht. Aber vertrauensvoll vorwärts zu gehen, das können wir wagen. Denn Gott, unser Herr, geht mit uns. Amen.

Pastor i. R. Hans-Gottlieb Wesenick
Stauffenbergring 33, D-37075 Göttingen
Tel. 0551/2099705, Fax: 2099708;
e-mail: H.-G.Wesenick@t-online.de


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