Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

7. Sonntag nach Trinitatis, 14. Juli 2002
Predigt über 2. Mose 16, 2-3.11-18 , verfaßt von Rainer Stahl

(-> zu den aktuellen Predigten / www.online-predigten.de)


Liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser,

diese Geschichte ist beides zugleich - merkwürdig fremd und irgendwie bekannt. Mindestens von dem sprichwörtlichen „Manna vom Himmel" haben Sie gewiß schon gehört. Welchen Bezug aber können wir zu dieser Geschichte finden - oder auch zu der folgenden, nach der Mose Wasser aus einem Felsen geschlagen habe (2 Mose 17,1-7)?

Für viele geht es immer wieder darum, daß das Erzählte wirklich geschehen sei. Zumindest, daß es hätte geschehen können. Dafür erinnere ich mich an das Buch von Werner Keller „Und die Bibel hat doch recht", das immer wieder neu herausgegeben wird. Es ist mir in meiner Jugend wirklich wichtig gewesen. Deshalb habe ich die rororo-Ausgabe von 1967, die mir damals aus Westdeutschland geschenkt worden war, noch immer im Bücherschrank. „Manna" ist da etwas ganz Normales, nämlich eine Sekretabsonderung der Tamariskenbäume, weil sie von einer Schildlaus gestochen wurden. Der Einfall der Wachteln ist Folge ihrer Rast beim Vogelzug nach Norden. Und Wasser sammele sich wirklich im Kalkstein, so daß es plötzlich austreten könne, wenn die harte Oberschicht des Felsens abgeschlagen werde.

Jetzt habe ich meine Zweifel, ob solche Erkenntnisse - nehmen wir einmal an, sie seien richtig - den Sinn unserer Erzählungen treffen. Dienen sie wirklich dem Erweis der Möglichkeit des Erzählten? Dann aber würde doch die Bedeutung, die Relevanz sozusagen beschränkt auf die damalige, auf die erzählte Wanderung durch Wüste, Steppe und Felsengebiet! Und vielleicht wäre die Bedeutung zu erwarten bei einem Wanderurlaub auf der Halbinsel Sinai mit einem Reiseunternehmen! Diese Erzählungen aber wollen doch Glaubenshilfe geben für den normalen Weg Israels, unserer jüdischen Schwestern und Brüder zuerst. Dann auch für uns als Christen?!

Bleiben wir zuerst bei unseren jüdischen Schwestern und Brüdern: Was ist die eigentliche Aussage dieser, ihrer Texte? Einmal jede erzählte Konkretion verallgemeinert: Es ist die Glaubenshoffnung, daß die Hilfe Gottes genau in einer Bewegung kommt, die gegensätzlich verläuft zur Normalität.

Normal ist es, daß Brot aus dem Boden wächst, daß Vögel nach oben wegfliegen, daß das Wasser vom Himmel regnet. Hier wird das Wasser aus Felsen gewonnen, fallen Brot und Fleisch vom Himmel.

Damit wird gesagt: Gott hilft gegen alle Erwartungen. Wo wir - geprägt von unseren Blickrichtungen, unseren ideologischen Vorprägungen, unseren scheinbar bewährten Traditionen - festgelegt sind, wird Gott das Oben nach unten, das Unten nach oben kehren und damit Lebenshilfe anbieten. Diese Lebenshilfe wird Hilfe zum Überleben sein, zum Nötigsten, um von Tag zu Tag gehen zu können, nicht zum Luxus. Sie ist nicht Vorratsangebot von „Butterbergen" und Versorgungskassen. Sie ist Bereitstellen des Nötigen. Das zeigt die Einzelheit mit der Menge des „Manna", das jeweils nur für einen Tag genießbar bleibt und lediglich am vorletzten Tag der Woche (unserem Freitag) in doppelter Menge gefunden werden kann, damit es auch über den Sabbat reicht, an dem es frisch bleibt. Ist doch am Sabbat das Sammeln tabu.

Unsere jüdischen Schwestern und Brüder verkündigen mit diesen Geschichten vor allem eines: Gott wird helfen; aber er wird frei bleiben. Gott ist keine Marionette unserer Wünsche. Nicht einmal eine unserer Nöte. Gott - sofern er „Gott" ist - bleibt auch seinen Glaubenden gegenüber souverän und frei. Er hilft anders als wir erwarten. Er hilft vielleicht oft nicht...

An dieser Stelle muß ich den Blick von unseren jüdischen Schwestern und Brüdern lösen. Ich kann nicht für sie reden. Ich kann nicht so tun, als wäre ich Jude und könnte die Frage nach der Hilfe Gottes in der Sho'ah, in der Vernichtung durch die nationalsozialistischen deutschen Verbrecher, beantworten. Oder die Frage nach der Gegenwart Gottes in den Pogromen - selbst noch nach 1945. Oder die Frage nach der Nähe Gottes in Momenten des Schreckens, wenn Selbstmordterroristen israelische Mitmenschen bedrohen - und morden. Da kann ich keine Antworten geben.

Ich kann nur berichten, daß es die Organisation „Amcha" - „Dein Volk" - gibt, die Sho'ah-Opfer und ihre Nachkommen psychologisch und seelsorgerlich betreut. Sie tut einen Dienst, der immer wichtiger wird. Und diesen Dienst können auch wir unterstützen. Wo uns die Worte fehlen, kann solche Hilfe zu einer Form der Antwort werden. Ich selbst gebe solche „stumme" Antwort, seit ich weiß, daß es diese Organisation gibt. Könnte das dann ein wenig „Manna" vom Himmel sein?! En wenig Wasser aus Felsen?!

Ich muß und ich möchte - liebe Leserinnen, liebe Leser, liebe Schwestern und Brüder - als Christ diese Erzählungen verstehen, sie als Erzählungen lesen, die auch uns als Christen etwas über Gott aufdecken. Ich lade Sie ein, diesem Versuch zu folgen.

Juden und wir Christen glauben an denselben Gott. Was unsere jüdischen Schwestern und Brüder über Gott sich selbst in diesen Erzählungen sagen, das sagen sie auch uns:

Gott bleibt in aller Hilfsbereitschaft, in aller Fürsorge, in aller Barmherzigkeit all' unseren Wünschen und Sorgen und Nöten gegenüber souverän und frei. Gott ist auch für uns Christen gerade nicht der Götze unsere Erwartungen.

Es kann gut sein, daß wir, weil und obwohl wir treue Christen sind und sein wollen, lange Zeiten, lange Phasen nichts von Gott spüren. Daß wir ihm unsere Erwartungen und Hoffnungen vortragen, ihm danken für Glück und gute Wendungen. Daß wir ihm unsere Enttäuschungen und unser Leid klagen, ihn anklagen. - Und‚die Räume hallen wie leer'. Scheinbar kein Hören. Scheinbar kein Antworten. Scheinbar keine Wendung der leidvollen, krisenhaften Situation, in der wir uns fühlen.

Auch für uns als Christen gilt dann, daß die Hilfe Gottes aus Ecken kommen kann, aus denen wir alles andere, nur eben Hilfe nicht erwarten. Also: Brot vom Himmel, Wasser aus Felsen.

Auch für uns als Christen gilt dann, daß die Hilfe Gottes nicht im Überfluß bestehen wird, sondern im Angebot des Lebensnotwendigen. In nicht mehr.

Aber: Und das gilt nun auch: In solchen Angeboten wird sie bestehen. Was ich von jüdischer Seite und für die jüdischen Schwestern und Brüder offen und unkonkret lassen mußte, das muß ich füllen, muß ich konkretisieren für unsere christliche Seite:

Die Christen Roms der ersten Generationen haben eine solche Konkretion überliefert. In ihren Grabanlagen, den Katakomben, haben sie auch Mose dargestellt, wie er Wasser aus dem Felsen schlägt. So im „Cubiculum der Schafe" in den Callist-Katakomben. Sie haben damit ihre Glaubenshoffnung ausgedrückt, daß Gott aus dem Tod Leben erwecken kann. Wie er den gekreuzigten Jesus aus dem Tod auferweckt hat, aus der Grabes-, der Felsenhöhle ins Leben gerufen hat, so wird er auch die Gestorbenen herausrufen ins Leben. Und für diese Hoffnung war ihnen ein Bild das Wasser aus dem Felsen.

Das ist solche souveräne Hilfe Gottes. Der Tod wird nicht erspart - wie wir wünschen würden -, sondern aus dem Tod heraus wird gerettet. Das ist eine Hoffnung, die ich anbieten möchte.

Und ein weiteres: Zur Zeit lese ich ein wenig Briefe von Pawel Florenskij, die dieser aus der Verbannung und Haft an seine Familie geschrieben hat - in den Jahren 1934 bis 1937, bis er im Jahre 1937 zum Tode verurteilt und erschossen wurde - im Oblast Leningradskaja.

Florenskij war Naturwissenschaftler und Priester. Aber in den Briefen durfte er nichts Christliches, nichts Geistliches mitteilen. Wenn er solche Bemerkungen gemacht haben sollte, so sind diese Briefe nicht erhalten, von den Zensoren zurückgehalten und vernichtet.

Seine ganze Lebenshoffnung - obwohl er wußte, daß er nie wieder aus den Lagern und von den Solowki-Inseln würde heimkommen können - wird spürbar an seinen Berichten über die Forschungstätigkeit, solange sie ihm möglich war. Forschungstätigkeit am Dauerfrostboden, an Kristallisationsformen des Eises, an Lebensformen mitten im Winter der Tundra, an Algen aus dem Weißen Meer.

In diesen Berichten wird ein Widerschein deutlich der Hoffnung auf die Treue und Hilfe Gottes - gegen alle Erwartungen. Und an einer Stelle hat er doch einen sehr deutlichen Hinweis auf solche Hoffnung aufklingen lassen können - in einem Brief an seine Frau Anna, geschrieben auf den Solowki-Inseln am 27. Mai 1935. Vielleicht kam diese Andeutung durch, weil er sie in deutscher Sprache geschrieben hat, die die Zensoren nicht verstanden haben, und weil der Zusammenhang ihnen vielleicht wirr vorgekommen ist. Mit diesem Zeugnis darf ich schließen. In Gestalt dieses Zeugnisses darf ich Sie einladen, den Glaubenshoffnungen unserer Texte zu trauen, einladen zu trauen, daß Gott aus dem Unerwarteten, ja aus dem Gegensätzlichen heraus Lebensmut schenkt:

Er erwähnt Erinnerungen aus dem Zusammenleben mit seiner Familie, dann eine Szene mit seinem Sohn, und er schlußfolgert:
„... das Vergangene ist nicht vergangen, es bleibt bestehen, es bleibt ewig... irgendwann offenbart es sich uns - als ewige Gegenwart. Wie das ein Dichter aus dem XVII. Jahrhundert gesagt hat:
'Die Rose, welche hier dein äußres Auge sieht,
Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht'."

Amen.

Evtl. Lied: EG 376,1-3 - „So nimm denn meine Hände..."

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de


(zurück zum Seitenanfang)