Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002
Predigt über Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32, verfaßt von Dorothea Zager

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Und des HERRN Wort geschah zu mir:
Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden?
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.

I.
"Es war am 11. Mai 1945" - so erzählt Helmut Gollwitzer, einer der großen Männer unserer Kirche, "Es war am 11. Mai 1945. Wir lagen auf einer böhmischen Wiese in der Maisonne, kauten Grashalme und sprachen über die Zukunft. Die nähere Zukunft, ob es uns wohl gelingen würde, noch über die Moldau zu kommen und der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, und die weitere Zukunft: was aus Deutschland werden würde - also aus uns allen. Während wir so redeten, erhob sich ein Feldwebel, ein großer kräftiger Mann, der bisher schweigend dabei gesessen hatte, und ging über die Wiese in den Wald. Gleich darauf hörten wir einen Schuss, und als wir zu ihm liefen, fanden wir ihn schon nicht mehr lebend vor. Die Kameraden von seiner Gruppe sagten, er habe bis zuletzt unbeirrt an den Führer geglaubt und in den Tagen nach Hitlers Selbstmord immer nur gesagt: Lieber tot, als Sklave. Hinter der Katastrophe gab es nichts mehr, was sich lohnte."

Da gesteht ein Mensch einen Irrtum ein, ja viel mehr noch, liebe Gemeinde: eine Lebens-Niederlage. Alles, vorauf er sich verlassen hatte, voran er glaubt und sich orientiert hatte, bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Zurück bleibt das Wissen: schuldig geworden zu sein. Verwundet und getötet zu haben auf Befehl eines Größenwahnsinnigen.
Dieser Feldwebel, liebe Gemeinde, konnte nicht anders mit seiner Schuld umgehen, als den Tod zu suchen als Ende aller Qual und Schulderkenntnis.

II.
"Ich habe keinen Gefallen am Tod des Schuldigen" spricht Gott, der Herr, "Darum bekehrt Euch, wo werdet ihr leben." Diese Worte sind nicht nur Kernsatz der Hesekielworte, sondern auch Kernsatz unseres christlichen Glaubens: Gott will, dass wir umkehren. Er will eben nicht, dass wir an unserer Schuld zerbrechen und zugrunde gehen.

Die Zeit, in der Hesekiel diese Worte gesagt hat, ist - wie vielleicht manchen von Ihnen bekannt - die Zeit des babylonischen Exils. Die Menschen sitzen in Babylonien und haben alles verloren. Heimat und Tempel. Eine andere Zukunft gibt es für sie dort nicht, als Leben und Sterben in einem fremden Land. Schon so lange sind sie dort, dass bereits eine neue Generation herangewachsen ist, die in der Gefangenschaft geboren wurde.

"Was können wir eigentlich dafür, dass unsere Väter und Großväter Fehler gemacht haben!?", klagt diese Generation jetzt. "Da können wir doch nichts dafür!" Hier gibt es keine "Gnade der späten Geburt" - im Gegenteil! Selbst die späte Geburt bewahrt sie nicht vor Ungnade! "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber unseren Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden." - das meint dieses Bild: Die Menschen der zweiten Generation sitzen in Babylonien, klagen und warten auf das Sterben und fühlen sich - vielleicht sogar zu recht?! - ungerecht behandelt.

In diese Zeit hinein, liebe Freunde, spricht Hesekiel. Und er widerspricht denen, die klagen und sich selbst bemitleiden. "Gott will nicht, dass Ihr untergeht. Gott will, dass Ihr lebt. Aber Ihr müsst umkehren. Ihr müsst Einsicht zeigen. Nur dann werdet Ihr leben!"

Einsicht zeigen? Schuld erkennen? Waren es nicht die Altvorderen, die gesündigt hatten? Wir? Wir machen doch gar nichts falsch! - So oder anders werden die Klagenden auf Hesekiels Anspruch reagiert haben. Was soll denn das heißen: Kehrt um! Sind wir denn überhaupt auf dem falschen Weg?

Hesekiel meint viel mehr als nur die "Schuld der Väter". Schuld heißt: Gottes Willen in dieser Welt zu ignorieren. Und sich damit vom ihm und vom Mitmenschen zu entfernen.
Und Umkehr heißt: Das Gegenteil zu tun, nämlich Gottes Willen in dieser Welt zu verwirklichen.

Und das gilt für alle, für die Väter wie für die Kinder, für die Generation vor dem Exil wie für die in Gefangenschaft geborenen, für die Juden der damaligen Zeit genauso wie für uns heute!

III.
Und genau an diesem Punkt, liebe Freunde, wage ich den Sprung in unser Heute, in unsere eigene Lebenswirklichkeit:
Wissen wir denn eigentlich, was Schuld ist?
Merken wir, wenn wir schuldig werden?
Was ist mir denn überhaupt Richtschnur bei dem, was ich tue?
Was entscheidet darüber, ob mein Handeln gut oder schlecht ist??
Grundsätzlich, liebe Freunde, gibt es ja zwei Möglichkeiten, Schuld zu erfahren: Entweder, wir machen selbst einen Fehler und tun anderen damit weh, oder wir erleben es andersherum, dass andere uns wehtun und an uns schuldig werden. Beides geschieht täglich. Und beides macht uns zu schaffen.

IIIa.
Beginnen wir mit dem ersten.
Ich selbst bin schuldig geworden.
Ich habe jemandem nicht geholfen, als er mich um Hilfe gebeten hatte.
Ich habe jemanden nicht besucht, obwohl ich wusste, dass er sich einsam fühlte.
Ich bin meinen Kindern Zuneigung schuldig geblieben, hatte zuwenig Zeit für sie und zuwenig Interesse an dem, was sie beschäftigte.
Ich habe meinem Partner wehgetan mit Ungeduld oder grundloser Eifersucht, mit Misstrauen oder mit Gleichgültigkeit.
Ich habe Worte gesagt, die unwahr waren, Urteile gefällt, die bösartig waren, und die jetzt nicht mehr zurückzuholen sind.

Liebe Freunde, wir tragen oft schwerer an so etwas, als wir zugeben wollen. Wir liegen wach am Abend im Bett, und es lässt uns keine Ruhe. Wir können es nicht mehr gut machen. Der Partner ist in beredtes Schweigen verfallen. Der Freund trägt mir mein Fehlverhalten nach. Meine Bekannten sprechen über die Sache. Da helfen weder Baldrian noch Entspannungsbäder - Schuld ist ein raues Ruhekissen. Und dass dieser Fehler nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, raubt uns den Schlaf.

Jedem, der das kennt, liebe Gemeinde, sei gesagt:
Wer bereut, dem wird verziehen.

Denn Gott hat keinen Gefallen am Untergang des Schuldigen, sondern will, dass wir leben. Als Christen wissen wir um die Schuldvergebung, wissen wir von der Liebe Gottes und seiner Gnade, die uns Jesus geschenkt hat. Und daran sollen wir uns erinnern in solchen Momenten - abends im Bett, wenn uns die Schuld keine Ruhe lässt:
Ist Gott für uns für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.

Liebe Gemeinde, darauf dürfen wir uns berufen, daran dürfen wir uns ganz festhalten: Gott hat uns vergeben. Gott hat uns freigesprochen. Was also können mir Menschen tun? Wenn sie auch reden und mich verurteilen: Ich weiß, dass Gott mich liebt, und ich werde einen neuen Anfang machen. Diese neue Freiheit eines Christenmenschen, der weiß, dass ihm seine Schuld vergeben ist, hat nichts zu tun mit Hochmut und Stolz. Im Gegenteil: diese neue Freiheit, die in der Demut des Bekennens beginnt, mündet in das Gefühl der Geborgenheit in Gottes Gnade.

IIIb.
Nun gibt es aber noch eine zweite Art, Schuld zu erleben, dann nämlich, wenn wir selbst die Leidtragenden sind:
Mir selbst ist wehgetan worden.

Wie gehe ich als Christ damit um?

Ein guter Freund, dem ich vertraut hatte, hat mich enttäuscht.
Ich habe jemandem etwas anvertraut unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und höre: Er hat mein Vertrauen missbraucht. Meine Eingeständnisse kommen mir plötzlich von Dritten zu Ohren.
Ich habe um Hilfe gebeten, aber ich bin allein gelassen worden.
Ich habe meinem Partner mein ganzes Leben gewidmet und viel Kraft und Liebe in unsere Beziehung investiert - und nun ist er gegangen. Und ich bin allein.
Über solchen Erfahrungen liegt man zwar keine Nächte wach, aber - viel schlimmer noch - man trägt sie tagtäglich wie eine stumme, schwere Last mit sich herum. Ein Schmerz, eine Enttäuschung, der nicht mehr aufhören will. Und in ganz schwachen Stunden wünscht man, dem, der uns wehgetan hat, das Schlimmste an den Hals.
"Ich habe kein Gefallen am Untergang des Schuldigen, spricht Gott, darum bekehrt Euch, so werdet ihr leben."

Jetzt sind also wir dran, selbst zu Vergebenden zu werden.

Liebe Gemeinde, niemand - auch Gott nicht - erwartet von uns, dass wir Menschen vergeben, die nicht im Geringsten bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Christ sein heißt nicht: fünf gerade sein zu lassen und alle Demütigungen klaglos hinzunehmen. Im Gegenteil: Es ist gerade unsere Aufgabe als Christen, dass wir uns gegenseitig liebevoll aber auch bestimmt auf Fehlentscheidungen und schuldiges Verhalten hinweisen.

Wenn aber einer eingesehen und bereut hat, wenn einer zur Umkehr bereit ist und mit seinem Gott ins Reine gekommen ist, haben wir kein Recht mehr, ihn weiterhin zu verurteilen.

Wenn Gott Schuld vergibt, dürfen auch wir sie nicht mehr nachtragen. Auch wir müssen dann zu Vergebenden werden - auch wenn das oft unglaublich schwer fällt, liebe Gemeinde. Nicht umsonst essen wir beim Abendmahl von einem Brot und trinken wir aus einem Kelch! Es geht beim Abendmahl nämlich nicht nur um die Vergebung unserer Schuld durch Gott, sondern auch um unsere Gemeinschaft - d.h. um unsere Bereitschaft, uns auch gegenseitig zu verzeihen.

Auch wenn es uns schwer fällt, sollten wir es dennoch versuchen:
- dem Freund, der uns enttäuscht hat, vorsichtig wieder neues Vertrauen zu schenken,
- dem Menschen, der schlecht über mich gesprochen hat, wieder die Hand zu reichen,
- dem Nachbarn, der mir nicht geholfen hat, erneut um Hilfe zu bitten,
- dem Partner, der mich allein gelassen hat, ohne Bitterkeit seine Freiheit zurückzugeben.
Wer weiß, liebe Gemeinde, ob nicht wir es in Kürze selbst sind, die die Gnade Gottes wieder brauchen und die Vergebung der anderen?

Wohl dem, der dann die 5. Bitte des Vaterunsers mit Überzeugung und Wahrhaftigkeit aufsprechen kann: "Vergib mir meine Schuld - so wie ich auch meinen Schuldigern vergeben habe."

Amen.

Dorothea Zager, Wachenheim
E-Mail: DWZager@t-online.de

Vorschläge zur Liturgie:
WOCHENSPRUCH
Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lk 19,10)
EINGANGSLIED
EG 409,1-8: Gott liebt diese Welt
EG 274,1-5: Der Herr ist mein getreuer Hirt
EINGANGSWORT
Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides; daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.
Ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören.
Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.
(Jer 29,11-14a)
SCHRIFTLESUNG
Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-10)
WOCHENLIED
EG 353,1-4: Jesus nimmt die Sünder an
LIED NACH DER PREDIGT
EG 234: So wahr ich leben, spricht dein Gott
EG 615: Kehret um
EG 612,1-3: Fürchte dich nicht
SCHLUSSLIED
EG 355,1+3+5: Mir ist Erbarmung widerfahren


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