Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni 2002
Predigt über Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32, verfaßt von Peter Kusenberg

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1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden"?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Liebe Gemeinde,

an Deutlichkeit fehlt es der Botschaft, die der Prophet seinen Hörern sagt, wirklich nicht. Kurz und knapp gefasst, heißt es gleich zu Anfang: jeder, der sündigt, soll sterben. Und weiter: wer umkehrt und Gerechtigkeit übt, soll leben. Welche der beiden Möglichkeiten Gott lieber sähe, zeigt der Schluss: "Ich habe keinen Gefallen am Tod des Sterbenden. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben."

So gesprochen im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt. Jerusalem war zerstört, der Tempel lag in Trümmern. Die Babylonier hatten die Oberschicht des jüdischen Volkes verschleppt und zwangsweise umgesiedelt. All die aufrüttelnden Bußpredigten des Propheten Jeremia waren vergeblich gewesen. Wie hatte er das Volk und seine Herrscher gewarnt: vor fragwürdigen politischen Schachzügen, vor Sittenverfall und Korruption, vor allem aber vor ihrem Liebäugeln mit anderen Göttern.

Doch Jeremia hatte nur taube Ohren gefunden, und so war es zu der Katastrophe gekommen. Jetzt, nach Jahren fern der Heimat im babylonischen Exil, ging ein bitteres Sprichwort um unter den Deportierten: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden." Man gab der Vätergeneration die Schuld für die eigene verzweifelte Lage. Da sie nicht auf Gott und seine Warnung gehört hatten, war die Strafe gekommen, unter der jetzt die Nachkommen zu leiden hatten. - Eine Denkweise, die auf den ersten Blick einleuchtend wirkt.

Aber Schuldfragen zu klären, ist nicht immer einfach, und rasche Schuldzuweisungen bergen die Gefahr, den einen oder anderen Gesichtspunkt außer Acht zu lassen. Für mich gibt es zwei Grundformen der Frage nach Schuld:

Wenn Menschen durch eigenes Verschulden in eine üble Situation geraten, dann liegt meist die Verbindung von Ursache und Wirkung, von Missetat und Strafe klar auf der Hand. Ich sehe ein: ich selbst war es, der einen Fehler gemacht hat, für den ich jetzt wohl oder übel büßen muss.

Ganz anders aber sieht es aus, wenn mich ein Unglück trifft, für das ich nicht selbst verantwortlich bin, wenn ich die Strafe für die Schuld Anderer ausbaden soll. Das sehe ich nicht ein. Wieso ich? Was habe ich damit zu schaffen? Sollen doch die zur Rechenschaft gezogen werden, die verantwortlich sind! Es empört mich, bestraft zu werden, weil Geschwister oder Klassenkameraden etwas ausgefressen haben, oder wenn ich den Kopf für die Fehler der Arbeitskollegen herhalten soll.

Unschuldig in die Rolle des Sündenbockes geraten zu sein - das drückt der Satz aus: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden." Ein Vorwurf liegt darin: Warum müssen wir auslöffeln, was die Eltern uns eingebrockt haben?

Bei denen, die so fragten, lebte auch ein junger Priestersohn namens Hesekiel. Im Anfang des nach ihm benannten Buches, aus dem der Predigttext stammt, beschreibt er, wie Gott ihm in eine gewaltigen Vision erscheint und ihn zum Propheten beruft. "Wächter" und Warner Israels zu sein, ist sein Auftrag. Er soll Seelsorger sein für die Entwurzelten in Babylon. Er soll verhindern, dass ihr Glaube untergeht in der Umgebung fremder Götter und Tempel.

Und nun hört er wieder die Stimme Gottes: "Was habt ihr unter euch für ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne."

Eine klares Wort Gottes an die Deportierten, sich nicht als Leidtragende einer vermeintlichen "Erbschuld" zu sehen, und zugleich eine Erinnerung an die Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber Gott: "Jeder, der sündigt, soll sterben. Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben."

Wie eine solche "Bekehrung", eine Umkehr von der Gottlosigkeit aussieht, ist in den Versen zwischen den einzelnen Abschnitten des Predigttextes beschrieben. Gerecht genannt wird dort, wer keinen anderen Göttern dient und die Gebote hält, der mildtätig ist, Recht und Verträge achtet und keinen Wucher treibt. Verantwortung vor Gott schließt also Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen ein.

"Bekehrt euch, so werdet ihr leben", heißt es am Schluss. Der Weg in die Zukunft, ins Leben besteht im Glauben an Gott und einer sichtbaren Gestalt dieses Glaubens im Alltag.

Kehren wir mit diesem Satz in die Gegenwart zurück.
Stellen wir uns selbst die Frage: Wo hatte ich in der vergangenen Woche das Gefühl, unschuldig als Sündenbock für andere herhalten zu müssen? Oder wem habe ich letzte Woche die Schuld gegeben für etwas, das mir misslungen ist? Denken wir einmal kurz darüber nach…

(kurze Pause)

Liebe Gemeinde,
"vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" beten wir in jedem Gottesdienst. Sonntags, im Chor mit anderen, sagt sich so ein Satz leicht. Aber wie sieht es unter der Woche aus?

Leide ich nicht auch unter jener allzu menschlichen Schwäche, dass ich die Ursache für alles, was schief geht, was dazwischen kommt, was mich ärgert oder unglücklich macht, zuerst einmal woanders und erst ganz zuletzt bei mir selbst suche? Und wehe, wenn es mir gelingt, den "wahren" Schuldigen ausfindig zu machen. Ob im Familienstreit, ob im Straßenverkehr, ob am Arbeitsplatz - der oder die Betreffende hat für eine Weile bestimmt nichts zu lachen. - Von Vergebung ist da wenig zu spüren.

Dass wir in einer Zeit leben, die das Ich in den Mittelpunkt stellt und dem Du oft nur die Rolle von Statisten zuweist, macht das Ganze nicht gerade leichter. Schön sein, stark sein, erfolgreich sein, "gut drauf sein" sind die Markensymbole, die uns tagtäglich eingehämmert werden, in der Werbung, im Fernsehen. Lauter Siegertypen.

Es ist schwer, dagegen anzugehen, ich weiß. Ich bin nicht perfekt wie die geschönten, so genannten Vorbilder. Ich habe meine Schwierigkeiten, Tag für Tag, Aber eins weiß ich:

Mit der Ausrede, dass "die Anderen" Schuld haben an allem, was mein Leben beeinträchtigt, komme ich vielleicht vor mir selbst durch, eine Weile. Möglich, dass ich auch meine Umgebung damit täusche, eine Weile. Aber wie lange kann ich das Gott vormachen?

"Bekehrt euch, so werdet ihr leben." Ein altes, starkes Wort steht dagegen. Lassen wir uns nicht stören von der strengen Redewendung, wir können auch ebenso sagen: "Besinnt euch. Sucht keine Sündenböcke woanders. Überlegt, wo ihr selbst Fehler macht und nehmt euch die Zeit, darüber nachzudenken, ob ihr so seid, dass Gott sich darüber freut."

Ein letztes Mal unserer Predigttext: "Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?"

Könnte es deutlicher sein, auf wessen Seite Gott steht?

Amen.

Peter Kusenberg
Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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