"Des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande
Israels für ein Sprichwort: "Die Väter haben saure Trauben
gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden"?
So wahr ich lebe, spricht Gott, der HERR. Dies Sprichwort soll nicht mehr
unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir;
die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der
sündigt, soll sterben.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, der
er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und
Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll
an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden,
sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan
hat.
Meinst du, dass ich Gefallen habe am Todes des Gottlosen, spricht Gott,
der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen
und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit
und tut Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte
der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll
nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde,
die er getan hat, soll er sterben.
Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem
Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren
Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von
euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch
ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr
vom Hause Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht
Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben."
Liebe Gemeinde!
Saure Trauben. War es ein "Killer-Gen", das in Robert Steinhäuser
für den mörderischen Sturmlauf von Erfurt verantwortlich zu
machen ist? So fragte die "BILD"-Zeitung.
Oder gibt es eben doch "das Böse" in uns, um uns und überall?
Gibt es gar "den" Bösen, den Teufel, den Satan, den Verführer
und Durcheinanderwerfer?
Irgendetwas oder irgendjemand muss doch verantwortlich für diesen
Schrecken sein! Saure Trauben - stumpfe Zähne.
In den Feuilletons der großen Zeitungen, im Fernsehen, bei psychologischen
Kongressen und anderswo wird nach Erklärungen gefahndet. Das Ungeheuerliche
soll benannt, beschrieben und hergeleitet werden. Vielleicht lässt
sich mit etwas Glück eine Wiederholung verhindern. Welches sind die
Ursachen? Was oder wer ist verantwortlich zu machen? Wer hat Schuld? Wie
ist das Schlimme in Zukunft vielleicht zu verhindern?
"Des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande
Israels für ein Sprichwort: "Die Väter haben saure Trauben
gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden"?
Die Bibel erzählt: Vor 2500 Jahren hat Gott eine vertrauliche Unterhaltung
mit dem Propheten Hesekiel. Es geht um die Fragen nach Verantwortung,
Schuld und den Folgen der Schuld.
Gott erläutert dem Propheten die göttliche Sicht- und Vorgehensweise.
Es läuft auf ein neues Denken der Menschen hinaus: Jeder ist für
die eigenen Taten und ihre Folgen selbst verantwortlich. Punkt.
Das alte Sprichwort, dass der Verzehr der sauren Trauben durch die Väter
(und Mütter) den Kindern die Zähne stumpf machen, soll nicht
mehr gelten. Die Kinder sollen sich damit nicht herausreden können
aus ihrer Verantwortung! Jeder Mensch bleibt für seine Taten selbst
verantwortlich, auch wenn er oder sie sich als Opfer der Eltern weiß.
"Ich war's nicht!" ruft das Schulkind empört, als die
Lehrerin den Dauerredefluss unterbricht. "Ich war's nicht!"
behauptet der Konfirmand, wenn er "erwischt" wird. "Wir
waren's nicht" haben ehemalige Soldaten gesagt, als die Greueltaten
an der östlichen Zivilbevölkerung publik wurden.
Und weiter: "Der war's!" "Fragen Sie doch mal die ..richten
Sie Ihren Blick doch mal auf den .." "Aber was die Russen damals
mit unseren Frauen gemacht haben ..".
Scheinbar endlos ist die Sorge von Menschen, etwa "schuld"
zu sein und obendrein "ertappt", "auf den Zahn gefühlt"
.. Stumpfe Zähne, aha - saure Trauben gegessen .. "Ich war's
nicht! Der Vater war's!"
"So wahr ich lebe, spricht Gott, der HERR. Dies Sprichwort soll
nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören
mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder,
der sündigt, soll sterben".
Das neue Denken klingt nicht verlockend. Was hat man denn davon, ehrlich
zu sagen: "Ich war's"? Warum soll man denn zugeben, dass die
eigene Wehrmacht auch und manchmal zuerst Schreckliches getan hat, ehe
dann die furchtbare Rache kam? Wenn man dann doch nur in die Sünderecke
gestellt wird .. wenn dann die anderen Mitschuldigen fein raus sind und
sich eines ins Fäustchen grinsen, dass man selber so blöd war,
den Fehler, das Versagen, die Schuld zuzugeben? Und wenn wirklich unvorstellbares
Leid einverwoben ist: Warum sollen wir als ehemalige Sudeten-Deutsche
auf irgendein Recht und auf eine Entschuldigung verzichten, wenn doch
die tschechische Seite zynisch über unseren Schmerz hinweggeht? Warum
sollen wir uns mit der Schuld der Deutschen Wehrmacht befassen, wenn die
Untaten der Roten Armee anscheinend ungesühnt bleiben oder gar gerechtfertigt
werden?
Warum, fragt sich der Selbstmordattentäter in Ramallah schon gar
nicht mehr, soll ich israelische Soldaten oder Zivilisten unterscheiden?
Und er fragt nicht mehr: Warum soll ich sie - ob Soldaten oder Zivilisten
- als Menschen ansehen, als Mitmenschen? Und er fragt auch nicht mehr:
Was gibt es für mich noch und anderes zu leben?
Für einen, der "Ich war's nicht!" zur bestimmenden Haltung
seiner Seele gemacht hat, waren es eben die "anderen", war es
immer der "Feind". Dann gibt es da nichts mehr zu fragen. Wie
in jeder Bürgerkriegs- und Kriegssituation gibt es nur schwarz oder
weiß, "die oder ich?". Es gibt dann keinen wirklichen
Lichtblick, keinen Ausblick in Alternativen. Es gibt so kein menschliches
Leben als Aufbruch und Wachstum, als Freiheit und in Liebe zu erfüllen,
mit Hoffnung auf Vollendung in einem Gott, in einem Himmel. Wo "Ich
war's nicht!" in einer Seele Hauptwohnsitz hat, vermindert sich menschliches
Leben. Es verschwindet. Es ist tot und wirkt Tod. "Denn siehe, alle
Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie
die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben".
Es klingt nicht gerade verlockend, was Hesekiel da von Gott "hört",
neu begreift als göttlichen "Einfall" versteht. Aber es
ist realistisch. Es ist die Beschreibung von Tatsächlichem. So geht
es zu in der Welt.
Der Prophet leistet unter göttlicher Inspiration ein Stück Verstehen
der Wirklichkeit. Das Volk Israel soll sich nicht herausreden aus der
eigenen Verantwortung und Schuld. Die Menschen sollen in sich gehen und
nachforschen, ob sie sterben oder lieber leben wollen. Schon das ist eine
grundlegende Entscheidung:
"Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt,
und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt
ihr sterben, ihr vom Hause Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod
des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr
leben."
Sigmund Freud dachte über einen "Todestrieb" im Menschen
nach. Das Boulevard-Blatt spricht vom "Killer-Gen". Manche Gläubige
sprechen wieder vom Teufel. Nach 250 Jahren Aufklärung und moderner
Naturwissenschaft, nach Psychoanalyse und moderner Bibelauslegung hält
das Unfassbare wieder Einzug in unser Fühlen und Denken. Menschen
fühlen ein Grauen vor Kräften, die sie nicht in den Griff kriegen.
Strahlender Atommüll auf Jahrtausende, schleichende Vergiftung der
Lebensgrundlagen, Weltbürgerkriegssituation spätestens seit
dem 11.9.2001 und immer wieder kleine und größere Skandale
im Lebensmittelbereich .. Menschen sind zugeschüttet mit schlechten
Nachrichten, verängstigt und überfordert. "Was soll man
denn da machen?" "Da kann man doch nichts machen!" "Und
die da oben machen ja doch, was sie wollen" "Und was immer sie
machen - es ist für den Wahlkampf; es ist wegen der 18 % oder der
Mehrheit; es ist Show; es ist Volksverdummung; es ist Selbstbedienung;
es ist Narzissmus von Eitlen ..". "Es ist vergeblich" ..
Was, lieber Hesekiel, der du uns so treffsicher auf unsere Ausflüchte
hingewiesen hast, sollen uns deine Worte da helfen?
Was, lieber Gott, der du uns nach unseren eigenen Taten leben oder sterben
lassen willst, soll uns da retten, wenn wir doch gar nichts Entscheidendes
tun können? Denn es ist doch wahr, dass wir kaum Einfluss auf die
Atomlobby haben (trotz Wählerstimme und Öko-Strom). Es ist doch
wahr, dass man nicht jedes Frühstücksei selber untersuchen kann,
ob da irgendein Gift drin ist oder nicht. Es stimmt doch, dass wir von
den schlechten Nachrichten buchstäblich niedergedrückt werden,
so dass uns politisch kaum noch was einfällt als überholte Rezepte.
Es ist doch leider wahr, dass oft aus dem Rennen ist, wer zu schnell eigene
Schwäche und Versagen zugibt.
Was wäre denn, o Gott, wenn die Sudetendeutschen die Kriegsschuld
Hitler-Deutschlands noch einmal deutlich zugäben? Ja, würden
dann die Tschechen die Benesch-Dekrete zurücknehmen? - Unvorstellbar,
aber ..
Was wäre denn, wenn die Lehrerkollegien unserer Schulen sich in neuer
Weise zu Wort meldeten? Ein Gefühlsgemisch: Wir fühlen uns allein
gelassen; wir fühlen uns überfordert; wir fühlen uns missbraucht
als Erzieher der Kinder; wir fühlen uns an den Pranger gestellt -
und: Wir haben selber Fehler gemacht; wir können unsere guten Leistungen
gelassen dokumentieren; wir haben Freude an (den meisten) Kindern; wir
fühlen uns mitverantwortlich für alle Kinder; wir haben ein
paar Ideen, was verbessert werden kann; wir bitten um Mithilfe. - Ja,
wie wäre das?
Und wenn die Politiker noch deutlicher vom Herzen her sprächen.
Wenn sie dem Volk ihre Ratlosigkeit sagen könnten. Wenn sie sagen
könnten: Die Gesundheitskasse ist bald leer - die Lösung liegt
wohl in einer Vereinfachung und einer Belastung aller betroffenen Patienten,
Kunden, Ärzte und Kassen. Stellen wir uns vor: Niemand von den konkurrierenden
Parteien würde das wahlkämpferisch ausnutzen; niemand würde
sagen: Mit uns gibt es eine Lösung, die keinem weh tut .. Welch eine
"absurde" Idee?
Ja, was wäre, wenn wir als Verbraucher(-innen) neu durchrechneten,
welche Art Nahrung wir uns leisten wollen und können? Und auf was
wollen wir verzichten? Und welchem Mitmenschen könnten meine Fähigkeiten
auch einmal "umsonst" zukommen?
Was wäre, wenn wir - über den Propheten hinaus - im Namen des
Jesus unsere Grenzen sähen? "Werft von euch alle eure Übertretungen,
die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist."
Das eben können wir nicht. Wir haben erkannt und bekennen, dass wir
uns kein neues Herz, keinen neuen Geist "machen" können.
Das Projekt ist weltgeschichtlich mehrfach gescheitert im millionenfachen
Massenmord. Wir können es nicht. Wir strecken uns aus nach einem
neuen Herzen und einem neuen Geist. Wir gestehen unsere Unfähigkeit.
"Wir waren's". "Wir sind es.". "Hier sind wir".
Mit unseren Erfolgen und Niederlagen. Mit unseren Schmerzen und unserem
Glück. Mit unserer Verantwortung und Schuld, mit unserer Ohnmacht
und Ratlosigkeit. "Hier sind wir". Hier sind wir mit unseren
ungeklärten Gefühlen, mit unseren Möglichkeiten, entsetzliches
Leid anzurichten und glücklich zu machen. Hier sind wir - notorisch
Flüchtige und Lügner zu eigenen Gunsten. Hier sind wir - mit
der unausrottbaren Sehnsucht nach Wahrheit und Liebe.
Stumpf sind unsere Zähne. Doch locken die süßen Trauben.
Amen.
Bernd Vogel
E-Mail: Bernd.Vogel@evlka.de
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