Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juni 2002
Predigt über 5. Mose 6, 4-9, verfaßt von Ulrich Braun

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Noch einmal - mit Gefühl

Predigttext: 5. Mose 6, 4-9
Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore.

Liebe Gemeinde!

Dass wer nicht hören will, ersatz- oder gar strafweise fühlen soll, ist eine altbekannte Erziehungsweisheit. Ob der drohende Unterton darin so erziehungsweise ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall markiert der Satz die Unterscheidung zweier Grundformen des Lernens: dem Lernen durch Belehrung und dem Lernen aus Erfahrung - vorzugsweise schmerzlicher.
Nun ist das Lernen aus Erfahrung ja etwas durchaus Erstrebenswertes. Pädagogische Lehrbücher und Studien von Pestalozzi über Hilbert Meyer bis zur Pisa-Studie wissen Schülerorientierung und Erfahrungsbezug zu rühmen. Obiger Unterton aber kündet von einer Art des Lernens, die uns aus den reformpädagogischen Blütenträumen reißt: dem Lernen aus Furcht.

Für den Fall des Lern-Misserfolgs werden durchaus unangenehme Folgen in Aussicht gestellt. Im günstigen Fall ist in den ungünstigen Erfahrungsfolgen noch ein Bezug zum eigentlichen Lerngegenstand erkennbar. Wer zum Beispiel trotz Warnung auf die heiße Herdplatte fasst, wird eine überaus lehrreiche Erfahrung machen. Im ungünstigen Fall aber ist dieser Bezug sehr viel weitläufiger. Den Zusammenhang von Speisekammerfreveln und schmerzenden Hinterteilen mussten Generationen von ertappten und versohlten Naschkatzen erst mühsam herstellen.

Wenn die Strafe für solcherlei Vergehen mit einiger Zuverlässigkeit erfolgt, ist ein gewisser Lernerfolg über die Zeit nicht ganz auszuschließen. Der Lernerfolg jedoch muss von den Bestraften allererst konstruiert werden - was eine gewisse Unsicherheit in Hinsicht auf seinen Inhalt birgt: Besteht der Lernerfolg nun in der Einsicht in die Verwerflichkeit des eigenen Tuns, oder nur darin, sich fortan nicht mehr erwischen zu lassen?

Genug der pädagogischen Aufwärmübungen. Der Predigttext aus dem fünften Mosebuch bietet all die skizzierten Schwierigkeiten - und noch mehr. Höre Israel! Es sind die Wort gewordenen Anführungszeichen vor der entscheidenden Mitteilung: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft!

Das also ist die Mitteilung. Sie gilt es zu hören und - wie es gleich im nächsten Vers heißen wird - zu Herzen zu nehmen. Allein: es fragt sich, was der fühlen soll, dem das mitgeteilte Wissen nicht genügen und nicht auf direktem Wege zu Herzen gehen will.

Der unmittelbare Erfahrungszusammenhang wie etwa bei der heißen Herdplatte bietet sich nicht an. Es werden die konstruierten Zusammenhänge sein müssen. Die Bibel ist voll davon.

Israel hat seine politischen und militärischen Katastrophen stets so gedeutet. Der Verlust der eigenständigen Staatlichkeit: Strafe für den Eigensinn. Die Zerstörung des Tempels: Vergeltung für die Gottvergessenheit des Volkes. Das babylonische Exil: eine bittere Lektion für religiöse Gleichgültigkeit. Weil ihr nicht habt hören wollen, so hat Gott euch eben fühlen lassen und euch eine Lektion erteilt. So wird es bei den Propheten klingen.

Aber zurück zu der Lektion des kleinen Abschnitts aus dem fünften Mosebuch. Lernziel ist offenkundig, Gott zu lieben. Wie soll das gehen? Lernen vom bloßen Hören ist schon schwierig genug. Und nun soll es auch noch um Liebe gehen. Was kann man über sie vom Hören, gar vom Hörensagen lernen?

An den endlosen Versuchen des Schlagergeschäfts lässt sich die Aussichtslosigkeit des Unternehmens gut studieren. Wer länger als eins Komma drei Sekunden über die Zeile von den Schmetterlingen im Bauch nachdenkt, wird wissen, was ich meine. Und da geht es nur um ganz herkömmliche Verliebtheit.

Die Liebe zu Gott als Lektion vom Hörensagen ist schon schwer genug. Um das pädagogische Desaster komplett zu machen, folgt die Strafandrohung nur wenige Verse nach unserem Abschnitt: Du sollst nicht andern Göttern nachfolgen, --- denn der Herr, dein Gott, ist ein eifernder Gott in deiner Mitte -, dass nicht der Zorn des Herrn, deines Gottes entbrenne und dich vertilge von der Erde.

Aber im Ernst: So unpädagogisch kann man selbst in grauer Vorzeit nicht von Gott gesprochen haben. Hat man auch nicht - was zu sehen ist, wenn man den kleinen Abschnitt in seinen Zusammenhang einordnet. Da ist er so etwas wie das Ausrufezeichen nach den zehn Geboten. Er steht am Ende eines Abschnitts, in dem die Erfahrungen Israels mit seinem Gott noch einmal zusammengefasst werden.

So gesehen ist unser Text nicht die Lektion selber, sondern ihre Zusammenfassung, etwas wie eine Lernzielkontrolle oder das kurz gefasste Tafelbild am Ende der Stunde. Die Erfahrungen sind gemacht - manche davon schmerzlich. Der Abschied aus Ägypten, das Ende der Knechtschaft, die Flucht vor den hochgerüsteten Ägyptern, die Wüstenwanderung mit Entbehrung, Streit und Zweifel.

Was hatten sie nicht alles gefühlt und fühlen müssen? Das Glück gewonnener Freiheit und den Schmerz verlorener Sicherheit. Die Angst vor der Verfolgung, den Hunger und den Durst ebenso wie den Geschmack von Manna und von frischem Wasser. Die Hitze der Wüste bei Tag und die schneidende Kälte bei Nacht. Misstrauen untereinander und gegen Gott und das Gefühl, bei allem Streit zu einem Volk geworden zu sein.

In den Erfahrungen, die sie auf dem langen Weg miteinander geteilt hatten, dürfen wir wohl die Erfahrungen vermuten, die bei unseren kurzen Versen neu zum Klingen kommen. Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.

Manche hatten auf dem Weg mit anderen Göttern geliebäugelt. Manche waren auf der Strecke geblieben, manche gestorben, manche bei Nacht und Nebel verschwunden. Das aber, was sie untereinander verband, waren die Gebote des einen Gottes und der Glaube, dass genau dieser Gott ein Ende mit der Knechtschaft gemacht hat, dass er der Gott der Freiheit war.

Das verträgt sich schon eher mit der Aufforderung, Gott zu lieben. Dagegen stören weiterhin die Strafandrohung und die Forderung, diesen Gott auch zu fürchten. Martin Luther gibt in seinem Kleinen Katechismus einen Hinweis, wie das zusammen gehen kann.

Die Erklärung eines jeden Gebotes leitet sich aus dem ersten Gebot ab: "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Wenn es dann um das Zusammenleben der Menschen untereinander geht, heißt es zum vierten Gebot, Vater und Mutter zu ehren: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben."

Zum Tötungsverbot schreibt Luther: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten." Oder dann zum achten Gebot, dem Lügenverbot, schreibt Luther: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren."

Diese Erklärungen sind satt an Erfahrung und an Gefühl. An Gefühl von Verletzlichkeit und Verletztheit. Und voll an Gefühl, was es bedeutet, wenn einer dem andern freundlich begegnet. Das genau soll es bedeuten, Gott zu lieben. So sehr, dass man dem andern nicht anders als freundlich begegnen kann - und umgekehrt einander so freundlich anzuschauen, dass darin geradezu etwas von der Liebe Gottes spürbar wird.

Bleibt das Problem, dass Gott und die Liebe ziemlich unanschauliche Lernstoffe sind. Was kann man über sie allein durch Hören oder Hörensagen lernen? Allein durch Hörensagen gewiss nichts. Der erste Johannesbrief beschreibt die Schwierigkeit - und einen möglichen Lösungsweg gleich mit: "Niemand hat Gott je gesehen; doch wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen."

Niemand wird bei aller Unanschaulichkeit im Ernst behaupten wollen, in diesen Dingen ganz ohne Erfahrungen zu sein? Wir verstehen doch sogar Schlagersänger, die von Schmetterlingen im Bauch singen - obwohl das so ganz buchstäblich gedacht eine eher ungesunde und abschreckende Vorstellung ist.

Also, noch einmal mit Gefühl und einfach nur eine Geschichte: Es war zu Zeiten der DDR. Eine Kirchengemeinde hatte ein Besuchs- und Austauschprogramm mit einer ungarischen Gemeinde organisiert. Im Sommer sollten die Kinder in eine kleine Stadt bei Dresden kommen.

Eine Dame aus der sächsischen Gemeinde hatte sich als Gastmutter angeboten, obwohl sie selber gar keine Kinder hatte, oder gerade darum. Und sie hatte ganz genaue Vorstellungen, wie ihr Gast aussehen sollte. Die teilte sie dem Pastor mit. Es sollte unbedingt ein Junge sein, so zehn bis zwölf Jahre alt, und am besten sollte er dunkle Locken haben. Im großen Gewirr auf dem Bahnsteig kam natürlich alles ganz anders. Sichtlich enttäuscht ging die Dame schließlich mit einem etwas spillerigen blonden Mädchen nach Hause.

Dass die beiden nach den drei Besuchswochen beim Abschied, diesmal auf dem Bahnsteig gegenüber, gar nicht voneinander lassen wollten, und dass die Dame - mit feuchten Augen und einem seligen Lächeln - dem Zug noch nachwinkte als er schon längst aus dem Dresdner Bahnhof verschwunden war, hatte vor allem einen Grund: Der ungarische Betreuer hatte ihr erzählt, dass das kleine blonde Mädchen bei der Einfahrt in den Bahnhof unter allen Wartenden genau auf sie gezeigt hatte. "Zu der will ich", hatte sie gesagt. Und zu genau der Frau war sie bei all dem Gewühle auch gekommen.

Manches kann man eben nicht planen und bestellen. Schon gar nicht das, was wir Liebe nennen. Sie muss einem entgegenkommen. So formuliert es auch der Johannesbrief: "Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat..."

Das kann man nicht vom Hörensagen erlernen. Das muss direkt über das Gefühl zu Herzen gehen. Dass wir trotzdem im Unterricht den Konfirmanden davon erzählen, hat einen Grund. Auch er hat mit der Art unseres Lernens und Erkennens zu tun. Oftmals erkennt man nur das, wofür man schon ein Gespür entwickelt, wofür man wenn's geht Worte und Kategorien hat.

Und schließlich soll das Lernen zum Unterscheiden helfen. Ob wir eine Sache selbst erkannt haben, dass wir nämlich im Nächsten wahrhaftig Gott begegnen, oder ob wir nur Strategien entwickelt haben, uns bei den Gemeinheiten des Alltags nicht erwischen zu lassen. Das ist am Ende der Unterschied, der über Lernerfolg und Lern-Misserfolg entscheidet. Wir sollen Gott so fürchten und lieben, dass wir den Nächsten wahrhaft erkennen.

Also, ein letztes Mal unsern Text - und zwar mit Gefühl: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du an dein Herz rühren lassen. Erzähl deinen Kindern davon, zu hause und unterwegs. Lass dich in deinem Alltag daran erinnern. Wer so hört, wird es auch fühlen können - und wer es je gefühlt hat, wird es ganz neu hören können.

Amen

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen-Nikolausberg
eMail: ulrich.braun@nikolausberg.de

 


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