Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Pfingstsonntag, 19. Mai 2002
Exegese zu Römer 8, 1-2 (10-11), verfaßt von Gertrud Yde Iversen (Dänemark)

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Das Leben im Geist - und der Geist im Körper
Exegese von Röm. 8,1-2 (10-11)

Einleitung

Es liegt eine besondere Intensität über diesen Versen (Röm. 8,1-2 (10-11): Die Tonart der Feder des Apostel Paulus ist erhaben, die Rhetorik treffend und rund zugleich, und die theologische Auslegung des Lebens im Glauben an Christus wird in bemerkenswerter Klarheit in wenigen Worten und Begriffen entfaltet. Paulus ist auf dem Höhepunkt im Römerbrief, stilistisch, rhetorisch und theologisch.

Man könnte nun glauben, ein Text solcher Art lege sich selbst aus. Aber das ist es bei Paulus selten der Fall und auch nicht hier. Was Paulus lesens- und bedenkenswert macht, ist auch das, was ihn schwer lesbar und vestehbar macht. Man muß sich Zeit nehmen und sich in ihn und seine theologische Begriffswelt hineinlesen. Das kann geschehen, indem man sich Wissen verschafft, z.B. über die Verankerung des Paulus in der jüdischen Tradition und seine Einbeziehung hellenistischer Philosophie und Rhetorik. Das kann durch Einleben und Intuition geschehen. Die meisten großen Paulusausleger benutzen und beherrschen diese Methoden in ihrem Versuch, die theologischen Deutungen des Lebens ohne den Glauben an Christus und in diesem Glauben bei Paulus zu erhellen. Es mag Leute geben, die das alles in sich verständlich finden, aber den meisten, Laien wie Fachleuten, stellt sich die Frage immer aufs Neue, was es bedeuten kann, wenn Paulus davon redet, in Christus zu sein (Röm. 8,1), wenn er vom Gesetz des Geistes (Röm. 8,1) spricht, von dem Gesetz der Sünde und des Todes (Röm. 8,2) und davon, daß die sterblichen Leiber durch den Geist lebendig gemacht werden sollen, "der in euch wohnt" (Röm. 8,11).

Diese kleine Exegese von Röm. 8,1-2 (10-11) liefert weder ganze noch halbe Antworten auf solche Fragen. Ich begnüge mich hier damit, das Beutungspotenzial des Textes ein wenig zu öffnen und einige der zentralen Probleme anzusprechen, auf die der Leser in diesem Text stößt. Ich konzentriere mich auf zwei Dinge. Erstens daß diese Verse ein Teil des Römerbriefs sind. Als Predigttext zum Pfingstsonntag sind sie aus ihrem Zusammenhang herausgerissen. Das ist völlig in Ordnung und legitim. In der Exegese möchte ich den entgegengesetzten Weg gehen und diese Verse jedenfalls zwischenzeitlich an ihren Platz in dem Brief stellen, dem sie entnommen sind. Zweitens sind diese Verse äußerst komprimiert. Das Inhaltliche verknüpft sich mit dem Detail im Verständnis des einzelnen Wortes oder der einzelnen sprachlichen Konstruktion. In der Einzelexegese möchte ich einzelne dieser wesentlichen Anliegen aufdecken.

Ein Teil des Römerbriefs

Die meisten Exegeten lesen Röm. 8,1-13 als einen zusammenhängenden Abschnitt unter der Überschrift: Das Leben im Geist. In bezug auf die Struktur des Römerbriefs insgesamt stellen diese Zeilen eine Art Übergang dar: Sie beenden die lange Verteidigung des Paulus für die Notwendigkeit, der Sünde zu sterben und mit der Gabe der Rechtfertigung zu leben, die mit Röm. 6,1 begann und die zu einer expliziten Entfaltung dessen übergeht, was das zentrale Anliegen des Briefes ist: Die Hoffnung als ein Teil des Lebens in Christus trotz der Erfahrungen mit Leiden und Tod, die auch für die, die an Christus glauben, zum Leben gehören (Röm. 8,14).

Der Leser, der aus den vorhergenden Kapiteln zu Röm. 8,1ff. kommt, wird an dieser Stelle des Briefes einen fast handgreiflichen Wechsel im Ton bemerken. Gegen die Knechtschaft unter der Sünde, an die die Herrschaft des Gesetzes den Menschen gebunden hat (Röm. 7,7-25), fordert Paulus nun seine Leser auf, sich in der neuen Ära der Freiheit für Leib und Seele zu freuen, den der Geist in die Welt gebracht hat. Gehört man zu denen, die Sinn und Blick dafür haben, wie Paulus sich rhetorischer Strukturen bedient, wird man sehen, daß der Abschnitt den positiven Teil des "Dyptichon" darstellt, der in Röm. 7,7-25 beginnt. Um seinen vollen rhetorischen Effekt zu entfalten, muß der Text also in einem engen Kontrast zu seinem negativen Widerpart gelesen oder gehört werden: Die Möglichkeit des Lebens im Geist steht gegen sie Unmöglichkeit des Lebens unter dem Gesetz.

Man hat vor allem innerhalb vor allem der literarkritischen Exegese Form und Genre als wesentlich für das Verständnis der Briefe des Paulus (wieder)entdeckt. Das Briefgenre hat wie andre literarische Genres seine eigene kommunikative Gesetzmäßigkeit, die u.a. durch Situationsbestimmtheit, Gegenwart und Abwesenheit sowie die persönliche Zuwendung gekennzeichnet ist. In unserem Textabschnitt macht sich vor allem Letzteres explizit bemerkbar: In V. 2 eleutherosen se oder, wie es in der Textvariante heißt, der die Lutherbibel folgt, eleutherosen me. Also der Geist des Gesetzes, der dich (bzw. mich) befreit hat. Und in V. 10-11 in dem wiederholten eph hymin, in euch. Man kann, wie dies in der Exegese und in Predigten über diesen Text oft geschehen ist, von diesen expliziten Ausdrücken des Briefgenres absehen. Man kann sie aber auch als wesentliche Anzeichen sehen für ein Ausdruckniveau im Text, das für seine Auslegung von Bedeutung sein kann. Je nach dem, ob man die erste oder die zweite dieser Möglichkeiten wählt, so hat das Konsequenzen dafür, wo wir uns in bezug auf den Text befinden und welchen Aspekten des Textes wir in der Auslegung wesentliche Bedeutung zuerkennen.

Der Römerbrief ist ein richtiger Brief, geschrieben an richtige Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dennoch lesen und deuten wir ihn in vielen Zusammenhängen, u.a. auch in der Predigt, in denen vor allem die theologischen Pointen von Interesse sind. Die direkten Hinwendungen werden hier schnell unanktuell, weil für jeden historisch bewußten Leser das DU/Ihr des Textes nicht an einen selbst gerichtet ist, sondern an die damals gemeinten Leser in Rom.

Beziehen wir aber den Status des Texts als Brief in die Auslegung ein, verschiebt sich der Blick von den theologischen Aussagen zu den direkten Hinwendungen. Das bedeutet, daß die theologischen Pointen von der Freiheit vom Gesetz der Sünde und dem Leben im Geist nun nicht mehr nach ihrem bedeutungsmäßigen Inhalt befragt werden, sondern auch danach, wer die denn sind, die vom Gesetz der Sünde befreit sind und das Leben im Geiste leben können, der in die Welt gekommen ist. Die direkte Hinwendung in der Form des Du/Ihr kennzeichnet eine Seite auch dieses Paulustexts, die traditionell keine große Beachtung gefunden hat: Daß die Freiheit bei Paulus nicht nur Freiheit als solche ist, sondern Freiheit für jemanden, daß das Leben nicht das Leben als solches ist, sondern das Leben des konkreten Menschen. Mit anderen Worten: Hier wird eine Form von Innerlichkeit und Konkretion sichtbar, die für den Text wesentlich sind.

Einzelexegese von Röm 8,1-2(10-11)

Der gesamte Abschnitt Röm. 8,1-13 stellt sich im Zusammenhang so dar: Die beiden ersten Verse führen das Hauptthema ein: Die Möglichkeit der Freiheit, ermöglicht durch den Geist. Die Verse 3-4 führen diese Freiheit zurück auf Gott, der seinen Sohn gesandt hat, während der Zwischenteil V. 5-11 auf die beiden Möglichkeiten hinweist, die nun für die, die glauben, bestehen, und darauf, wozu beide Möglichkeiten führen: Es besteht also die Wahl zwischen dem Leben nach dem Fleisch (das zum Tode führt) und dem Leben im Geist (das zum Leben führt). Die Verse 12-13 beschießen den Abschnitt mit einer dazu passenden Ermahnung.

Im folgenden konzentriere ich mich auf die ausgewählten Verse. Paulus proklamiert mit großem Triumph eine ganz neue Situation für die, die durch Glauben und Taufe in Christus sind (en Christo). Die Auslegung des kleinen Wortes ist entscheidend, freilich nicht leicht. Die drei wichtigsten Auslegungen sind diese: Die präpositionale Verbindung kann instrumental verstanden werden, sie lebten durch Christus, oder im lokalen Sinne: in seinem Einflußbereich, oder mystisch, im Symbiose mit ihm. Ich neige der zweiten Interpretation zu, der lokalistischen. Paulus gebraucht hier die Präpositionsverbindung als eine Metapher, um ein Leben in der Gemeinschaft im Einflußbereich des auferstandenen Christus, der durch das Wirken des Geistes gekennzeichnet ist, zum Ausdruck zu bringen. In Christus leben heißt als ein Mensch leben, der wirklich von Sünde und Tod befreit ist.

Der, der innerhalb dieser Gemeinschaft lebt, die durch den auferstandenen Christus konstituiert ist, ist radikal befreit von dem alten Leben, das durch die Sünde bestimmt war, und ist in ein neues Leben eingetreten, in dem der Geist in ihm bzw. ihr wohnt und auch seinen bzw. ihren sterblichen Leib lebendig macht (Röm. 8,11). So bezieht sich der Glaube sowohl zurück auf die Auferstehung Jesu aber auch nach vorn auf eine Auferstehung, die dem eigenen sterblichen Leib gilt. Paulus rechnet also auch hier damit, daß auch die, die an Christus glauben, vor der Wiederkunft des Herrn und der endgültigen Auferstehung den physischen Tod erleiden. Seine Naherwartung hat sich im Vergleich zum frühen 1. Thessalonicherbrief (4,15-17) hier im Römerbrief ein Stück in die Zukunft verschoben.

Die Sphäre des auferstandenen Christus ist durch das Wirken des Geistes gekennzeichnet. Dieses Wirken des Geistes besteht näher bestimmt darin, nun (nyn) von dem Gericht befreit zu sein, das sonst jedem Menschen droht. Die meisten Ausleger sehen in diesem nyn einen Hinweis auf Röm. 3,21, der Proklamation der Auferstehung Christi zur Rechtfertigung eines jeden, der an ihn glaubt.

In der Beschreibung sowohl der Sphäre des Gerichts als auch der befreienden Sphäre des Geistes gebraucht Paulus den Begriff des Gesetzes - hier wie in Röm. 7,21-23 im breiten Sinne, d.h. von all dem, was im Bereich menschlichen Handelns und menschlicher Kontrolle liegt. Das heißt, daß das befreiende Gesetz des Geistes in Jesus Christus, von dem Paulus spricht, nicht eine Art moralischer Code im engen Sinne ist, sondern vielmehr das Selbst der Geistes, insofern dieser eine neue Form von Leben konstituiert. Kurz gesagt: In der alten Zeit und unter der alten Sphäre waren das Leben provisorisch und der Tod endgültig; nun ist der Tod für den, der an Christus glaubt, provisorisch, so wie sein Tod es war, und das Leben endgültig, so wie sein Leben es nach der Auferstehung war.

Dies bedeutet freilich nicht, daß die alte Vergangenheit ein für alle Mal untergegangen ist. Außerhalb von Christus setzen sich Leiden und Tod und das Gesetz der Sünde durch wie immer, und auch die, die in Christus leben, müssen dies an ihrem eigenen sterblichen Leib erfahren.

Das Leben im Geist - und der Geist im Körper

Man kann sich mit diesen Versen im Rahmen eine fachexegetischen Auslegung des Römerbriefs beschäftigen. Und man kann sich mit ihnen beschäftigen als ein Predigttext, sei es als Prediger oder als Hörer. In den meisten Fällen rückt die Frage in den Mittelpunkt: In wie hohem Maße muß man diese Worte wörtlich verstehen oder im übertragenen Sinne? Die Pointe freilich ist, daß es die wörtliche Bedeutung des Textes oder den übertragenen Sinn nicht gibt, sondern vielmehr alle Varianten zwischen diesen beiden Möglichkeiten.

Es gibt vor allem zwei Topoi in diesen Versen, und wie so oft bei Paulus handelt es sich um zwei Gegensätze: Der eine ist das, was man den Zeittopos nennen könnte: Vorher-nachher. Das ist u.a. durch das nyn des Textes angezeigt: Nun ist Christus auferstanden. Vorher herrschte allein das Gesetz der Verdammnis, nun aber herrscht das Gesetz der Freiheit, wo sich der Geist entfaltet und das Leben umschließt. Die, die an Christus glauben, sind in diese Gegenwart einbezogen, zugleich leben sie das Leben, das sie leben, mit Leiden und Tod wie zuvor. Die klassische Unterscheidung des Schon-noch nicht bezieht sich auf diesen Topos.

Der zweite Topos ist das, was man dem Raumtopos nennen könnte: Innen und Draußen. Er ist u.a. in dem Text durch das en Christo angezeigt: die, die in Christus sind. Die, die an Christus glauben, sind drinnen, aber draußen herrschen der Tod und die Sphäre des Gerichts. Die neue Paulusforschung rückt diesen Topos in den Mittelpunkt. Statt die Dialektik des Schon und Noch nicht als grundlegendes Prinzip in der Theologie des Paulus zu verstehen, sieht man den räumlichen Topos des Innen und Draußen als grundlegendes Prinzip. Das hat z.B. das Verständnis des Begriffs der Sünde bei Paulus entscheidend verändert, auch hier in Röm. 8,1-13: Für die, die in Christus sind, gibt es keine Verdammnis (Röm. 8,1), und in ihnen lebt der Geist (Röm. 8,11). Sie sind also im Prinzip ohne Sünde (drinnen), denn der Geist hat sich in dieser durch Christus beherrschten Sphäre in allen Bereichen dieser Gemeinschaft durchgesetzt - sie leben im Geist und haben den Geist im Leib.

Nun ist dies, wie erwähnt, ein Leben, das vor der Wiederkunft des Herrn zu leben ist, und dieses Leben ist natürlich eine Ressource, insofern der Geist in ihnen wohnt. Aber dieses Leben ist auch ein Risiko. Es ist ein Risiko, weil die allgemeinen Unwägbarkeiten des Lebens, Leiden und Tod, zu Anfechtungen führen können und einige dazu veranlassen können, vom Glauben abzufallen. Und dies ist für Paulus, auch im Römerbrief, eine Katastrophe. Denn aus dem Glauben herausfallen heißt nicht mehr in Christus leben, d.h. draußen zu sein, dort wo das Gesetz der Verdammnis herrscht. U.a. um zu verhindern, daß dies geschieht, und zur allgemeinen Erbauung seiner (und anderer) Gemeinden schreibt Paulus seine Briefe, auch den Römerbrief.

Dozentin Dr. theol. Gertrud Yde Iversen
Fasanvej 21
DK-6240 Løgumkloster
Telefon: ++ 45 - 74 74 55 99
e-mail: gyi@mail.tele.dk

 


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