|
Kantate (4. Sonntag
nach Ostern), 28. April 2002 |
Nach dem Tod von 17 Menschen in Erfurt Herr, erbarme dich. Liebe Gemeinde, diese Sätze, Bitten, gehen mir andauernd durch den Kopf . Nicht nur am Freitag dachte ich an sie, sondern auch heute am Morgen. Eigentlich erst am Freitagabend wurde uns bewusst, was wir vorher gehört hatten. 17 Menschen sind tot, starben in Erfurt. Wir sagen, erzählen uns dieses Ereignis immer wieder. Und immer fühlen wir uns dabei irgendwie allein. Es geht uns so wie jenen Männer vor fast 2000 Jahren, von denen das Neue Testament erzählt und dabei auch die zitierte Bitte berichtet. Sie waren auf dem Weg weg von Jerusalem und trafen einen dritten. Er wusste nichts von dem grausamen Tod in Jerusalem, von Jesu Sterben am Kreuz. Die beiden anderen waren davon tief betroffen. Am Abend dann wollten sie nicht allein sein. Sie baten ihren Weggefährten zu bleiben, sie sprachen jenen Satz. "Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt." Unser Tag neigt sich auch, obwohl er erst begonnen hat, es noch Morgen, Sonntag-Morgen ist. Es ist der Sonntag "Kantate". Und wir wollten singen, singen, wozu uns der Name des Sonntags Kantate, das lateinische Wort für "singt", auffordert. Aber wir sind schwach, müde. Gesang kommt nicht auf. "Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder" (Ps. 98,1). Es ist der Spruch dieser Woche. Gott, wo warst du? fragen wir. Wir fragen. Wir klagen. Wir klagen nicht an, denn auch dazu sind wir zu schwach. Gott, wo warst du in Erfurt? Hast du vielleicht nur einen Moment weggeschaut, denn es passiert soviel in der Welt? Wir selbst schauen zwar hin auf die Bilder aus Palästina. Wir sehen tote Araber. Wir blicken auf tote Israeli. Dann, nach der Tagesschau, schauen wir vielleicht einen Krimi. Wir fragen: warum? Psychologen erklären. Sie erklären nachher.
Heute blieben an 17 Frühstückstischen in Erfurt Stühle
leer. Warum? Mir geht heute Morgen noch eine Frage durch den Kopf. "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag" So dichtete Dietrich Bonhoeffer. Wie konnte er so reden? Muß man Bonhoeffer heißen, um so zu reden? Er dichtete dies 1944 zur Jahreswende. Das folgende Jahr 1945 wurde sein Todesjahr, ein Todesjahr für viele, sehr viele. Ist vielleicht das Lied die gesungene Bitte jener beiden trauernden Männer: "Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden"? Ich habe diesen Text als Predigttext gewählt und nicht den für den heutigen Sonntag vorgeschlagenen. Mir ist nicht nach singen und doch, aber leiser. Traurigkeit mit etwas, mit Hoffnung steckt in der Bitte. Hinter jeder Bitte steckt Hoffnung. Mir ist nicht nach singen. Ihnen, vermute ich einmal, auch nicht. Mir ist aber nach jener Bitte und damit nach jenem leisen Singen Bonhoeffers. Die Antwort auf die Bitte erhalten die Männer erst später. Sie fragen nicht mehr. Sie brauchen auch nicht zu fragen. Der Fremde, der Gebetene, ihr Weggefährte ist geblieben. Sie sind auch schon quasi wieder im Alltag gelandet. Sie essen. Da gibt Jesus sich ihnen zu erkennen. Lassen Sie uns singen Lied 65, 1 und 7. Bonhoeffer hat vielleicht an unseren Text gedacht, als er sein Lied dichtete.
Vielleicht ging ihm etwas anderes durch den Kopf. Eins hat aber nicht
getan, weggeschaut - aus unserer Sicht von heute gesagt: er sah sich nach
der Tagesschau nicht einen Krimi oder was auch immer anderes an. Daß
er das nicht getan hat, zeigen die Verse seines Liedes, die wir nicht
gesungen haben. Wir sangen den ersten und den letzten Vers. Die Verse
dazwischen handeln vom Leid. 5 Verse Leid, gerahmt von 2 Versen Geborgenheit,
Hoffnung. Leid gerahmt von Geborgenheit und Hoffnung! Die beiden von Jerusalem kommenden Wanderer bitten um Gemeinschaft am
Abend. Das ist Hoffnung. Sie wissen nicht, wen sie bitten. Sie wissen
nicht, was an dem Abend geschehen wird. Sie wissen letztendlich nicht
einmal, was sie mit ihrer Bitte wirklich bitten. Sie erkennen in jenem
Begleiter nicht Jesus. Sie bitten quasi blind. Sie fragen ihn, sie laden
ihn ein, aber es bleibt ihnen verborgen, wen sie einladen. Sie haben in
ihrer Trauer einen Weggefährten gefunden. In ihrer Bitte, dass der
Gefährte des Weges auch zum Gefährten ihres Lebens werde, steckt
die Bitte nach Geborgenheit. Wir baten eingangs : "Herr, erbarme
dich, Kyrie, eleison". Ihre Geborgenheit war ihnen zunächst
verborgen. Sie war darum nur eine Hoffnung - "nur" eine Hoffnung?
Ihre Geborgenheit, ihre Hoffnung, fand später ihre Bestätigung,
im Abendmahl. Wir singen das Lied 225. Es ist die Übertragung in die deutsche
Sprache und damit auf die deutschen Verhältnisse des Spirituals:
Go, tell it on the mountains". Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach |
(zurück zum Seitenanfang) |