Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Jubilate (3. Sonntag nach Ostern), 21. April 2002
Predigt über Apostelgeschichte 17, 22-34, verfaßt von Martin Hein


Wo ist der Ort der Kirche, liebe Gemeinde? Möglicherweise reagieren Sie jetzt mit einer Gegenfrage: Wo soll er denn sein, wenn nicht mitten in dieser Welt und mitten im Leben. Dahin hat Christus die Kirche doch gewiesen, als er sagte: "Gehet hin in alle Welt!" Wir wären uns also schnell einig: Die Kirche wirkt mit ihrer Botschaft von Gottes Liebe in unsere Gesellschaft hinein. Sie beansprucht mit dem, was sie zu sagen hat, Öffentlichkeit! Das ist geradezu selbstverständlich und dem Evangelium von Jesus Christus angemessen. Sagen wir.

Doch halt! Mir scheint, daß diese Auffassung zwar oft genug von berufener Stelle verlautbart wird, aber viele Christen sie nicht mehr unbedingt teilen. Manchmal habe ich eher den Eindruck, für unsere Gemeinden sei die vertraute Nische anheimelnder als der rauhe Wind der öffentlichen Auseinandersetzung. Es ist ja auch gar nicht zu bestreiten, daß in der Unübersichtlichkeit unserer Welt die überschaubare, lebendige Gemeinschaft von gleichgesinnten Christen für manche Menschen eine hohe Anziehungskraft besitzt: Hier nimmt man aneinander Anteil, weiß voneinander, lebt und betet füreinander, kann sich gegenseitig vertrauen. Solche Gemeinden haben Zuspruch, ganz ohne Zweifel. Sie bieten Räume zum Durchatmen und zum Aufatmen angesichts der vielen Beanspruchungen, die das Leben an uns stellt. Die Gemeinde wird zum Ort der inneren Einkehr.

Das alles hat seine Berechtigung und Bewandtnis - sofern wir nur ganz klar im Auge behalten, daß sich der Auftrag der Kirche Jesu Christi darin nicht erschöpft. Es geht darum - so wenigstens verstehe ich den Missionsbefehl Christi -, das Evangelium tatsächlich in die heutige Lebenswirklichkeit hineinzubringen, wie unterschiedlich sie sich auch darstellen mag - und zwar so, daß sie Gehör und, gebe es Gott, Glauben findet. Das kostet Kraft und braucht Fantasie, denn die Begegnung des Evangeliums mit der Welt, wie sie ist, bedeutet stets Konfrontation, aber sie geschieht in der Gewißheit, daß der Zuspruch des Evangeliums mitten in der Welt seine heilsame Wirkung entfaltet. Wie ich das im einzelnen verstehe? Ich glaube, nirgendwo läßt sich das besser veranschaulichen als an dem Beispiel der öffentlichen Predigt des Apostels Paulus in Athen: Hier können wir für uns im Jahr 2002 wegweisende Entdeckungen machen zum Ort der Kirche und zu unserem Auftrag als Christen in der Welt. Lassen wir uns also von Paulus auf den Weg nehmen - dorthin, wo das Leben pulsiert.

Athen könnten wir ohne weiteres ersetzen durch den Namen jeder deutschen Großstadt. Immer zeichnen sich Städte dadurch aus, daß sie mehr sind als bloße Ansammlungen von Häusern, Straßen und Menschen in großer Zahl. In der Stadt geht es hin und her, Austausch ist möglich, Verbindung und Beziehung, aber hier prallen auch die sozialen und kulturellen Gegensätze schroffer und härter aufeinander als das auf dem Land geschieht. Paulus war Stadtmensch, schon von seiner Geburt her. Er bewahrte sich zeitlebens ein Gespür dafür, daß Städte so etwas sind wie Seismographen für die inneren Bewegungen, die uns bestimmen. Hier lassen sie sich ablesen. Die Mission des Paulus war darum immer "Stadtmission"!

Kaum angekommen, begibt sich Paulus hinein ins Stadtleben. Er flaniert. Das klingt zunächst, als täte er das völlig ziellos, wie man es eben in einer fremden Stadt tut, in der man sich nicht auskennt. Aber dahinter steckt Absicht. Er läßt sich treiben, um mit wachem Blick und mit unverstellter Neugier das Leben wahrzunehmen: nicht nur die Auslagen der Geschäfte, nicht nur die Menschen, seien sie modisch chic gestylt oder abgerissen in den Fußgängerpassagen kauernd, sondern auch die ganze Vielfalt des religiösen Marktes. Was gibt es alles an Religion in der Stadt wahrzunehmen, wenn man nur zu sehen wagt und nicht vorschnell die Augen abwendet oder von vornherein verschließt. Seit Herbst vergangenen Jahres ist uns wieder stärker zu Bewußtsein gekommen, daß das Bild unserer Städte multireligiös geprägt ist, daß hier auf engstem Raum Konfessionen und Religionen mit ihrem eigenen Anspruch in Konkurrenz zueinander stehen. Und das Hinschauen hört keineswegs bei den traditionellen Formen der Religionen auf! "Ich bin umhergegangen", sagt Paulus, "und habe eure Heiligtümer angesehen": die glitzernden Fassaden der Konsumtempel, die gen Himmel strebenden Zentren von Geld und Macht, die geheimen Orte von Rausch und Ekstase - Religion in vielen Angeboten, auf dem Weg aus sich heraus oder auf dem Weg in sich hinein eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu bekommen. Städte sind Orte der Religion, wenn man sie wahrnehmen will - nicht nur damals in Athen.

Für Paulus bleibt es nicht beim Flanieren auf den Boulevards oder in den abseitigen dunklen Gassen. Er sucht das Gespräch, er sucht die Begegnung des Evangeliums mit der Lebenswirklichkeit. Das gelingt freilich nur, wenn man sich dorthin begibt, wo der Austausch der Waren und Meinungen stattfindet. Auf dem Markt ist Paulus täglich zu finden, schreibt Lukas kurz zuvor. Hier trifft er Menschen, mit denen er spricht, denen er zuhört, bevor er antwortet. Paulus mischt sich in die öffentliche Diskussion ein. Deren Verlauf muß nicht immer harmonisch sein. Es darf dabei auch gestritten werden, sogar heftig, denn es geht um mehr als bloße Meinungsmache. Doch es ist gut, wenn die notwendige Auseinandersetzung etwa um die Werte einer menschlichen Gesellschaft auf solch einem Niveau geführt werden kann, daß uns andere als ebenbürtiges Gegenüber ernstnehmen. Plakative Botschaften begegnen uns gerade in Städten genug. Sie können anstoßen. Aber überzeugen sie auch? Ich habe meine Zweifel. Paulus beginnt in Athen gerade nicht mit dem großen Auftritt. Der kommt erst, nachdem er geduldig das unmittelbare Gespräch mit den Menschen dieser Stadt gesucht hatte. Eher widerwillig, so scheint es fast, folgt er den Ansinnen, sich auf dem Felsen des Areopag darzustellen.

Hier aber gibt er Rechenschaft, sagt unmißverständlich, was ihn bestimmt und bewegt. Er entfaltet die Grundlagen seines Glaubens ganz ohne Scheu in einer Sprache, die andere verstehen, auch wenn sie die Voraussetzungen nicht teilen mögen. Paulus argumentiert für seinen Glauben: Er knüpft an das an, was er wahrnimmt, er setzt sich davon ab. Hier in Athen, so beschreibt es Lukas, wagt er sich weit vor - weiter vielleicht, als es anderen später lieb war. Wie er antike Philosophie und Dichtung aufnimmt und sie in einem christlichen Sinn deutet, wie er die Religiosität seiner Zuhörer nicht gleich als Irrweg abstempelt, sondern im Altar für den unbekannten Gott eine tiefe Sehnsucht nach Erfüllung und Sinn im Leben entdeckt, hat manchen die Stirn runzeln lassen. Und doch vollzieht Paulus keine Anpassung an die aktuellen Trends, sondern sucht seiner Botschaft treu zu bleiben: dem Evangelium von Jesus Christus, dem auferstandenen Herrn. Für mich, liebe Gemeinde, zeigt sich darin geradezu das Musterbeispiel eines ernsthaften und ehrlichen Dialogs der Religionen, wie er heute oft gefordert wird. Hier bei Paulus in Athen können wir lernen, daß nur diejenigen wirklich in der Lage sind, solch ein Gespräch zu führen, die beides beherzigen: Offenheit und Achtsamkeit für das, was andere in ihrer Überzeugung bestimmt, und zugleich Gewißheit von der Wahrheit und Tragfähigkeit des eigenen Glaubens. Andere haben einen Anspruch darauf zu erfahren, was das Christentum ausmacht! Es wäre geradezu fatal, wollten wir aus falscher Rücksichtnahme verschweigen oder verleugnen, worin für uns der Sinn und das Ziel des Lebens liegen und welches unser einziger Trost ist im Leben und im Sterben. Deshalb kommt Paulus, nachdem er versucht hat zu bestimmen, was gemeinsam ausgesagt werden kann, auf das Trennende zu sprechen - und damit zwangsläufig auf die Auferstehung Jesu Christi: als der grundlegenden Tat Gottes zum Heil nicht nur von uns Christen, sondern zum Heil der Welt. Daran entscheidet sich, wie weit wir uns annähern können und wo wir uns fremd bleiben. Alles andere wäre bloße Augenwischerei. Die Botschaft vom auferstandenen Herrn ins Spiel zu bringen, ist allemal ein Wagnis, aber es kann, sofern wir selbst davon ergriffen sind, gar nicht anders sein, als sie zu bezeugen - ohne Angst, doch ebenso ohne Unduldsamkeit.

Denn auch das zeigt uns die Begebenheit in Athen: Paulus läßt Freiheit. Ja, das kann er - und das ist in den Begegnungen, in denen es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit geht, unerläßlich. Nicht alle überzeugt die große Rede auf dem Areopag. "Ein andermal weiter." Paulus erliegt nicht der Versuchung, mit falschen Nachdruck noch eins draufzusetzen, die Offenheit für das Gegenüber wandelt sich jetzt nicht in Rechthaberei. Geradezu beiläufig heißt es: "So ging Paulus von ihnen." Ist es ihm also letztlich gleichgültig gewesen, ob das Evangelium vom auferstandenen Christus Anklang findet oder nicht? Nein, keineswegs. Aber er ist davon überzeugt, daß sich die Wahrheit, für die er eingetreten ist, von selbst durchsetzen wird. Zur Argumentation in Glaubensdingen in einer Welt, die viele Wahrheiten zu kennen glaubt, gehört auch, Toleranz walten zu lassen, wenn andere die eigene Überzeugung nicht teilen. Das läßt gelassen und unverkrampft werden und trägt dazu bei, das Evangelium auf gewinnende Weise vermitteln zu können. Und immerhin konnte Paulus ja die Erfahrung machen: Einige schließen sich ihm an, zwei sogar mit Namen, eine davon eine Frau. Das Christentum wird in Athen heimisch werden.

Für mich zeigt die Geschichte von Paulus in Athen auf geradezu beispielhafte Weise, wo in unserer heutigen Gesellschaft der Ort der Kirche ist: tatsächlich mitten im öffentlichen Leben. Hier gilt es aufzuspüren und wahrzunehmen, was Menschen bewegt, wo sie an ihre Grenzen stoßen - und wie sie ihre Grenzen überschreiten wollen. Die Sehnsucht nach geheiltem Leben und einer heilen Welt - vor drei Jahrzehnten noch müde belächelt -, macht inzwischen viele Menschen empfänglich für Sinndeutungen in unterschiedlichster Spielart. Wir stehen als Kirche mit dem Evangelium, die uns aufgetragen ist, eigentlich neu am Anfang einer ernsthaften, dialogbereiten Auseinandersetzung mit den Strömungen unserer Zeit. Wenn wir uns einmischen und die Botschaft des neuen Lebens glaubhaft durch unser Reden wie durch unser Tun vermitteln, wird man uns aufmerksam wahrnehmen und wird uns ernstnehmen. Und es wird Glauben entstehen: daß Gott in Jesus Christus tatsächlich den Tod entmachtet hat und unser Leben dadurch einen weiten Horizont gewinnt. So ist das, ganz gewiß! Mehr können wir von uns aus nicht tun. Mehr brauchen wir auch nicht zu tun. Fangen wir nur damit an! Für alles Weitere gibt Gott Segen und Gelingen. Amen.

Bischof Dr. Martin Hein
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Wilhelmshöher Allee 330
34131 Kassel.
E-Mail: martinhein@gmx.de

 


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