Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Karfreitag, 29. März 2002
Predigt über Jesaja 52, 13 - 53, 10, verfaßt von Hinrich Buß
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Liebe Gemeinde,

"...und neigte das Haupt und verschied", so endet das heutige Evangelium. Jesus stirbt. Unter Qualen scheidet er aus dem Leben. Trauer ist angesagt, es ist Karfreitag. Das Leben verstummt.

Was soll man auch sagen beim Tod? Wenn Trauernde ans Grab treten, finden sie kaum Worte. Als Jesus starb, waren seine Vertrauten erschüttert und sprachlos. Sie konnten nicht begreifen, was geschehen war, geschweige denn ausdrücken, was sie empfanden.

So waren sie heilfroh, als sie auf ein Lied stießen, das sie heraus holte aus ihrer Sprachlosigkeit, ein Lied überliefert vom zweiten Jesaja. Es gab wieder, was sie fühlten; es kleidete in Worte, was sie selbst nicht sagen konnten. Es war so nahe am Geschehen auf Golgatha, daß sie die Worte nachsprachen, wieder und wieder, bis sie eng mit der Passion Jesu verknüpft waren. Ich lese nun aus Jes. 52 und 53:

Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt häßlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, so wird er viele Heiden besprengen, daß auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.

Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart? Er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volkes geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. So wollte ihn der Herr zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des Herrn Plan wird durch seine Hand gelingen.

Es ist das Lied vom Knecht Gottes. Ein Leichenlied, als Nachruf auf einen Toten. Es beschreibt, wer der Verstorbene war und was für ein Leben er hinter sich gebracht hat. Dabei kommt Seltsames zutage. Nicht Gutes wird berichtet, wie es Angehörige gern hören in einer Traueransprache. Vielmehr Übles. Sein Äußeres war abstoßend. Er hatte ein entstelltes Gesicht, entstellt von Krankheit und Schmerzen. Die anderen blickten zur Seite, wenn sie ihn sahen, sie gingen ihm aus dem Weg. Sie verachteten und verabscheuten ihn. Ihm konnte man alles anhängen. Er wurde gequält, geschlagen, durchbohrt so lange, bis er tot war. Er wurde verscharrt, wie man Verbrecher und Hingerichtete im Morgengrauen unter die Erde bringt.

Dies also teilt uns das Lied mit. Ein befremdlicher Bericht. Warum schweigt man nicht, wenn er so häßlich war? Warum läßt man ihn nicht ruhen, als er endlich im Grab verscharrt ist? Wir erschrecken auch, wenn ein guter Bekannter aus dem Krankenhaus entlassen wird und aussieht, als sei er dem Grab entstiegen. Mit hohlen Wangen und tiefen Augenhöhlen, ein Abbild des Todes, so daß uns ein kalter Schauer den Rücken hinunter läuft. Ist er's wirklich oder nicht vielmehr eine unheimliche Gestalt, auf die wir durch Zufall gestoßen sind?

Halte den Anblick aus, sagt das Lied vom Gottesknecht, bleibt nicht an der entstellten Oberfläche hängen. Wir haben uns alle getäuscht, wir haben uns alle geirrt wie Schafe. "Er wurde verachtet" - ja, "er wurde von den Menschen gemieden" - ja, "er war ein Mann voller Wunden" - gewiß, aber es geschah um unseretwillen. Nun entfaltet das Lied Zug um Zug, welche Bewandtnis es mit dem entstellten Knecht Gottes hat. "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen." Die es vernehmen, werden hellhörig. Hier ist der maßlose Schmerz in Worte gefaßt. Hier bekommt das Leiden Bedeutung. Der Knecht Gottes wird zum Bruder im Leiden.

Ich will es an einem Beispiel vor Augen führen. In einem Krankenzimmer liegt ein gut 80jähriger. Als ich an sein Bett trete, dreht er den Kopf weg. Ein Ohr wurde ihm abgenommen, nur Reste sind noch vorhanden. "Und hier innen", sagt er und zeigt auf seinen Bauch, "hier drinnen ist alles kaputt." Er weiß, wie es mit ihm steht. Er ist ein Mann der Schmerzen, bald wird er Morphium bekommen, ein Mann des Todes auch, fast schon ausgeschlossen aus der menschlichen Gesellschaft. Er trägt sein Kreuz allein.

Doch nun kommt ein zweites Kreuz hinzu. Auf einem Tisch an seinem Bett wird das Abendmahl vorbereitet. Kerzen werden entzündet. Dazwischen steht das Bild des gekreuzigten Jesus. Auch er ein Mensch der Schmerzen, doch - obwohl entstellt - keinen Schrecken mehr verbreitend. Eine Schwester, die ins Zimmer tritt, zuckt dennoch kurz zusammen, sie ist verwundert. "Das habe ich hier noch nicht gesehen", sagt sie, und im Weggehen: "Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" Helfen möchte sie, aber der Kranke hat schon Hilfe. Durch den Gekreuzigten, der ihm im Abendmahl nahe kommt. Wenn ihm auch die Hände gebunden sind, so kann er doch trösten. Mehr sogar als Gesunde. Ein Mensch der Schmerzen, der unzählige andere im Schmerz tröstet. Der Geplagte und Gemarterte, er wird zum Bruder der Leidenden. Das ist der eine Grund, warum das Lied vom Gottesknecht aufhorchen läßt.

Ein zweiter kommt hinzu. Dieser Tote hat sein Leiden angenommen. Bewundernswert, wenn ein Mensch es schafft, Ja zu sagen zu seinem schweren Schicksal. Dieser Tote freilich, Knecht Gottes genannt, er hat noch weit mehr getan. Er hat das Leiden anderer auf sich genommen. Er hat sich aufladen lassen, was er gar nicht auf sich nehmen mußte. "Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten , und durch seine Wunden sind wir geheilt." Hier erst kommt das Lied zu seinem vollen Klang. Leiden für andere.

Doch lassen Sie uns einen Augenblick überlegen: Ist es überhaupt denkbar, daß einer für andere leidet? Muß im Endeffekt nicht jede ihre Last allein tragen? Nicht ganz. Es gibt manche Mutter, die sich voll für ihre Kinder einsetzt und von ihnen nie zurück erhalten wird, was sie ihnen gegeben hat. Sie hat das längst eingesehen und möchte es auch gar nicht. Sie hat die Kinder auf ihren Armen und auf ihrer Seele getragen. Sie hat sich, als sie größer wurden, Sorgen gemacht, viele. Hat sie also für sie gelitten?

Das wäre zu viel gesagt. Denn ohne Erwartung ist sie nicht. Sie möchte ein Zeichen der Dankbarkeit. Sie möchte Liebe. Wenn sie beides nicht erhält, kann es sein, daß es eines Tages aus ihr heraus bricht: "Was habe ich alles für euch getan! Und ihr, wie zahlt ihr es mir heim?" Vermutlich werden die Kinder beschämt sein, zugleich aber auch merken, daß hier eine Gegenrechnung aufgemacht wird und nun doch nicht umsonst war, was selbstlos aussah. Es kann auch nicht anders sein. Kein Mensch kann immer nur geben. Er oder sie muß irgendwann etwas zurück bekommen.

Nicht so der Knecht Gottes. Er macht keine Gegenrechnung auf. "Er tat seinen Mund nicht auf." Er beschwert sich nicht. Er läßt es geschehen, was andere ihm zufügen. Er ist wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Also nicht jemand, der seine Schäfchen ins Trockene bringt, vielmehr sich selbst einsetzt und dran gibt. Er präsentiert nicht irgendwann die Rechnung, er begleicht sie selbst. Nahezu unvorstellbar in einer Gesellschaft, in der für alles bezahlt werden muß.

Spätestens an dieser Stelle geht ein Staunen durch das Lied. Was als Klage über ein bedauernswertes Schicksal begonnen hat, wird nun ein Ausruf der Verwunderung. Hier ist ein Erfolgloser, dem das Unmögliche gelingt. Ein Entstellter, der alles an die richtige Stelle bringt; ein Kranker, der heilt; ein Geschlagener, der tröstet; ein Sterbender, der Leben verbreitet; ein Entwürdigter, der Würde ausstrahlt. Einer, von dem Überzeugungskraft ausgeht wie von keinem sonst. "Siehe, meinem Knecht wird es gelingen."

Das spüren viele. Auch Kinder, die nach unserer Vorstellung mißraten sind. Sie haben einen Draht zu Jesus. Auch wenn sie nicht viel von ihm wissen, so fühlen sie doch seine Glaubwürdigkeit. Sie spüren, daß von ihm keine Vorwürfe kommen, keine offenen und erst recht keine versteckten.

Er gibt sein Leben dran und trägt die Lasten anderer. Das Leiden und auch die Schuld. Er läßt sich aufpacken, was andere für sich nicht tragen können. Er läßt sich anhängen, was andere nicht haben wollen. Er wird verachtet, verflucht, er wird zum Verbrecher. Dies ist das Ärgste, was einem widerfahren kann. Ohne Schuld und doch schuldig. Ohne Last und doch belastet. Ohne Ehre sterben. Bis sich die Erkenntnis Bahn bricht: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt."

Das ist also das Zweite, wovon unser Lied erzählt. Mit zunehmender Verwunderung, daß es einen solchen Menschen überhaupt gibt. Nun könnte aus dem Trauerlied eigentlich ein Freudenlied werden. Freude und Dankbarkeit für den Knecht Gottes, in dem die ersten Christen Jesus wieder erkannt haben.

Doch so schnell wird der Schrecken nicht überwunden, der Schrecken, der einen jedesmal durchfährt, wenn ein naher Verwandter todkrank wird. Und mehr noch jenes Entsetzen, das die Vertrauten Jesu durchfuhr, also sie ihn am Kreuz hängen sahen. Man kann es vielleicht nachempfinden, wenn man an den Pädagogen Korczak denkt. Er hatte im KZ jüdische Kinder unterrichtet. Sie mußten, wie viele andere, den Weg in die Gaskammer antreten. Der Lehrer ging mit, freiwillig. Auf dem Weg erzählte er ihnen noch Geschichten. Ein Beispiel, das einen zu Tränen rühren kann. Ein Beispiel auch, das einem das nackte Entsetzen in die Seele treibt. Er verliert alles: Zukunft, Hoffnung, Leben. Ein solcher Gang läßt Grauen zurück.

Dies ist auch aus dem Leben Jesu nicht zu streichen. Lähmendes Entsetzen hat sich auf Menschen gelegt bei seinem Tod. Der Vorhang des Tempels zerriß, der Himmel verfinsterte sich. Aber durch die Finsternis hindurch brach sich die Erkenntnis Bahn, mit Hilfe jenes Liedes vom Gottesknecht aus Jes. 53, daß dieser freiwillige Gang Jesu ans Kreuz ein Segen für die Menschen war. Nun werden sie sprachlos. Die Völker kommen ins Staunen, und die Könige müssen verstummen. Sie alle werden nicht den Weg Jesu gehen, aber sie kommen nicht an ihm vorbei. Er, der Geplagte und Verscharrte, trägt nun die Welt. Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.

Amen

Dr. Hinrich Buß, Landessuperintendent in Göttingen
E-Mail: lasup.goettingen@evlka.de


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