Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Judika (5. Sonntag der Passionszeit), 17. März 2002
Predigt über Hebräer 13, 12-14, verfaßt von Christian-Erdmann Schott

Liebe Gemeinde!

In nicht ganz zwei Wochen haben wir Karfreitag. Durch unseren heutigen Predigttext werden wir ermuntert, diesen Tag nicht passiv auf uns zukommen und an uns vorüberziehen zu lassen, sondern uns, in Vorbereitung auf diesen Höhepunkt der Passionszeit, persönlich die Frage zu stellen: Was bedeutet das Sterben Jesu Christi am Kreuz eigentlich für mich? Ich lese aus dem Hebräer-Brief aus Kapitel 13:
"12. Darum hat auch Jesus, damit er heilige das Volk durch sein eigen Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
13. So lasset uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
14. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir".

Der Einstieg ergibt sich am besten, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Christentum eine hoch dramatische Religion ist; eine Religion, in der es von den Ursprüngen im Alten Testament an um einen Prozeß geht, bei dem Gott und die Menschheit um den Führungsanspruch streiten. Gott hat erklärt und immer wieder bestätigt, "Ich bin der Herr". Der Mensch ignoriert das und erklärt "Ich bin mein eigener Herr". Wie wird dieser Prozeß ausgehen? Jesus erzählt dazu ein Gleichnis (Mk. 12,1-12), in dem er Gott mit einem Weinbauern vergleicht:

Dieser Weinbauer legte einen Weinberg an, umzäunte ihn, baute eine Kelteranlage und einen Turm, verpachtete ihn und ging ausser Landes. Als die Zeit der Ernte gekommen war, schickte er einen Knecht, damit er die Pacht einnehme. Aber die Pächter weigerten sich, die Pacht zu zahlen, verprügelten den Knecht und schickten ihn zurück. Da sandte der Herr des Weinberges einen anderen Knecht. Auch den schlugen die Pächter zusammen und zahlten nicht. So ging es auch dem dritten und weiteren Knechten. Einige töteten sie sogar. Da schickte der Herr schließlich seinen Sohn, den einzigen, den Erben. Er hoffte, daß die Pächter ihn respektieren und nun zahlen würden. Aber gerade das taten die Pächter nicht. Sie sagten unter sich: Laßt uns ihn töten. Dann wird das Erbe uns gehören. "Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg" (V.8).

Schon immer ist dieses Gleichnis im Sinne des Prozesses gedeutet worden, von dem ich eben gesprochen habe: Gott, der Schöpfer und Herr der Welt, muß um seine Anerkennung, um sein Gottesrecht mit den Menschen kämpfen, weil die Menschen ihm das alles nicht zuerkennen und geben wollen. Statt dessen spielen sie sich auf und leben "als ob es Gott nicht gäbe" (etsi deus non daretur). Immer wieder hat Gott, zum Beispiel durch die Propheten, an sein Recht erinnert. Aber den Propheten ist es so gegangen wie es im Gleichnis von den Knechten erzählt wird. Zuletzt schickt er den Sohn, den einzigen, den Erben, Jesus Christus. Ihn töten sie und werfen ihn "hinaus vor den Weinberg" - oder, in der Sprache unseres Predigtabschnittes: Er, der Sohn, der Erbe hat gelitten "draußen vor dem Tor".

Dieses "Draußen" ist weit mehr als eine bloße Ortsbezeichnung. Es meint, daß die Menschen, die Besitzer der Erde, weder Gott noch Christus bei sich haben wollen, weder im Weinberg, noch im Lager, noch in der Stadt. Sie wollen Gott los sein, ein für alle Male. Darum werfen sie den Erben dorthin, wo sie die Dinge hintun, die sie nicht mehr haben wollen: Den Abfall, die Tierkadaver, die von den Opfern übrig bleiben. Und sie nannten diesen Ort, draußen vor den Toren von Jerusalem "Golgata". Wir wissen, daß das der Ort war, an dem das Kreuz Jesu Christi gestanden hat.

Von jetzt ab muß ich den Ton des Prozeßberichters verlassen und mich an uns wenden - mit der Frage: Auf welcher Seite stehen wir - auf der Seite Gottes oder auf der Seite der Menschen? Wir wollen die Antwort nicht übers Knie brechen und abwägen: Die Menschen haben ein relatives Recht, auf ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit (Autonomie) zu pochen, weil wir ja schließlich die Welt bebauen und uns um unseren Unterhalt selbst bemühen. Wir sind nicht nur Besitzer der Erde, wir machen auch was aus ihr. Daß dabei vieles nicht gut ist und auch nicht gut ausgeht, stellen wir dabei heute mal nicht besonders heraus. Im Kern ist es schon so, daß sich die Menschen als selbstverantwortliche Hausbesitzer verstehen und weitgehend auch so verhalten. Der Schwachpunkt bei ihrem Pochen auf Unabhängigkeit ist, daß sie den verleugnen, dem sie sich selbst und die Welt insgesamt verdanken. Sie vergessen den Eigentümer. Diese Ausblendung, diese Verweigerung der Anerkennung Gottes verschiebt ihre relative Rechtsposition ins Unwahre. Wir belügen uns selbst, wenn wir so leben, als ob es nur uns und sonst gar nichts gibt. Es führt dazu, daß wir Menschen kein Maß mehr haben, das uns messen, kritisieren, in Schranken halten könnte. Der Mensch ohne Maß ist die größte Gefahr für sich selbst und die Menschlichkeit auf der Erde.

Im Unterschied zu uns Menschen kann sich Gott auf das Recht des Eigentümers berufen. Tatsächlich hat er auf seinen Anspruch, als Herr und Schöpfer der Welt, als Gott anerkannt und geehrt zu werden, nie verzichtet. Im Gegenteil, er hat diesen Anspruch immer wieder neu bekräftigt und durchzusetzen versucht. Daß er dabei den endgültigen Sieg noch nicht errungen hat, sollte uns weder allzusehr verwundern noch in Zweifel stürzen; in Zweifel, die sich auf seine Durchsetzungsfähigkeit (Macht) und/oder auf die Qualität seiner Rechtsposition (Wahrheit) beziehen können. Beides liegt bei ihm, auch wenn beides zur Zeit im Verborgenen liegt und nur wenig Konjunktur hat.

Nach diesem Durchgang ist es nun schon verständlicher, warum der Apostel im Hebräer-Brief zu einer Standortbestimmung mit eingeschlossener Parteinahme auffordert: "So lasset uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen". Das hat zur Folge, daß die Worte und Begriffe anfangen, eine neue Bedeutung, eine neue Farbe zu bekommen. Wer sich zu dem Gekreuzigten, zu dem nicht erwünschten Christus bekennt und in seinen Worten und in seinem Leben Gott begegnet, der teilt lediglich vor der Welt seine Schmach mit ihm, nicht vor Gott. Im Gegenteil, er ehrt Gott und Gott nimmt ihn in sein Reich, in sein Lager, in seine Stadt auf. Er lebt im Reich der Wahrheit, das nur im Reich der Unwahrheit mit Schande und Schmach bedacht wird.

Umgekehrt lebt der, der im Lager, in der Stadt oder im Reich der nicht anerkannten Wahrheit Gottes lebt, wahrscheinlich in Ehren, aber vor Gott ist das alles nichts. Es ist nichts, weil es der Wahrheit und dem Rechtsanspruch Gottes nicht die Ehre gibt.

Die Parteinahme, um die es hier geht, ist von Gott gewollt. Sie ist eine Folge seines nicht aufgegebenen Rechtsanspruches und enthält die Aufforderung, daß alle, die diesen Rechtsanspruch anerkennen, heraustreten und sich zu dem Sohn und Erben bekennen. Sie sind die ekklesia = die Gruppe der Heraus-Gerufenen = das neue, geheiligte Volk, die christliche Gemeinde, die eine Alternative zur alten Welt darstellt. Diese Alternative aber ist ausschließlich Werk Gottes. Von uns aus könnten wir unsere Situation weder durchschauen noch verändern. Diese Bewegung ist nur möglich, weil Gott in Person und Kreuz Christi einen Sammelpunkt, ein Zeichen aufgezogen hat, auf das wir zugehen, an dem wir uns orientieren, um das wir uns sammeln können in einem neuen Lager, Volk und Stadt der Menschheit.

Das Wort "neu" läßt das bisherige, uns vertraute Lager, das Volk und die Stadt plötzlich alt aussehen. Und sie sind es auch. Sie gehören einer Epoche der Weltgeschichte an, die im Grunde keine Zukunft mehr hat. Die Zukunft gehört der Stadt, in der Gott nicht geleugnet, sondern gelobt, in der die Menschen untereinander und mit Gott in Liebe und Vertrauen zusammen leben; in der Wirklichkeit wurde, was Gott bei der Schöpfung gemeint und gewollt hat.

Noch ist es nicht so weit. Noch ist der alte Geist sehr stark, so stark, daß Christen den Glauben verlieren und sich von dem Gekreuzigten "draußen vor dem Tor" abwenden. Sie haben Angst, sich zu ihm zu bekennen und halten es mit dem scheinbar bewährten guten alten Geist. Es wird wohl niemanden geben, der solche Gedanken nicht kennt. Der Verfasser des Hebräer-Briefes hat sie gekannt. Darum hat er aus tiefer Erfahrung damals schon den Christen einen sehr wichtigen seelsorgerlichen Rat gegeben - nur ein paar Zeilen vor unserem Predigtabschnitt: "Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade" (V9). Um die Gnade eines festen, eines im Glauben gegründeten Herzens dürfen wir beten. Sie kann uns gegeben werden durch das Hören und Bedenken des Wortes und durch die Gemeinschaft im neuen Volk Gottes. Diese Gemeinschaft ist jetzt schon, mitten noch in der alten Weltzeit, mitten in der Anfechtung und durchaus nicht vollkommen der einzige Ort, an dem die Wahrheit Gottes gelebt wird.

In diesem Sinne stellt der heraufkommende Karfreitag an uns die Frage, ob wir zu denen gehören wollen, die sich um den Gekreuzigten sammeln und miteinander "durch ihn Gott allezeit das Lobopfer bringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen" (V. 15). Amen.

Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Braendstroem-Str. 21
55124 Mainz -Gonsenheim
Tel.: 06131/690488
Fax: 06131/686319


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