Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Lätare, 10. März 2002
Jesaja 54, 7-10, Stefan Knobloch

"Worauf Verlaß ist..."

7 Nur eine kleine Weile habe ich dich verlassen,
doch mit großem Erbarmen hole ich dich heim.
8 Einen Augenblick nur verbarg ich vor dir mein
Gesicht in aufwallendem Zorn;
Aber mit ewiger Huld habe ich Erbarmen mit dir,
spricht dein Erlöser, der Herr.
9 Wie in den Tagen Noachs soll es für mich sein:
So wie ich damals schwor,
daß die Flut Noachs die Erde nie mehr
überschwemmen wird,
so schwöre ich jetzt, dir nie mehr zu zürnen
und dich nie mehr zu schelten.
10 Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen
und die Hügel zu wanken beginnen -
meine Huld wird nie von dir weichen
und der Bund meines Friedens nicht wanken,
spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir.

Man könnte es sich leichtmachen am heutigen Sonntag, am Sonntag Lätare. Gut, wenn es von uns erwartet wird, gewissermaßen liturgisch erwartet wird, dann wollen wir keine Spielverderber sein, dann lassen wir eben Freude aufkommen! Geradezu auf Befehl! Ähnlich den inszenierten Aufforderungen der närrischen Tage zu einem dreifach donnernden Hellau oder Alaf, auf wen oder was auch immer. Wir könnten es uns also leichtmachen und das Spektakel des Sonntags Lätare an uns vorüberziehen lassen und würden schunkelnd, aber eben nicht ernstgemeint mitnehmen, was uns Jes 54,7-10 sagt: daß alles irgendwie gut werde, daß Gott schon dafür sorge, daß sich alles zum Guten wende. Ganz so, wie er es damals zu Zeiten des Deuterojesaja getan zu haben scheint.

Würden wir unsere Jes-Stelle im Stil der Schunkellieder aufnehmen, wonach ja alles wieder gut werde, hätten wir das Wesentliche an ihr übersehen, hätten wir uns um das Eigentliche gedrückt. Fragen wir also danach, was die Stelle wirklich meint. So könnte sie auch uns treffen.

Dazu ist allerdings vorausgesetzt, daß wir uns für einen Augenblick in die damalige geschichtliche Situation hineinversetzen, nicht um uns an sie zu verlieren, sondern um aus ihr Aktualisierungen für uns zu vernehmen. Geschichtlich befinden wir uns mit Jes 54,7-10 in den letzten Jahren des sogenannten Babylonischen Exils, etwa in den Jahren 550 bis 540 vor Christus. Große Teile der Bevölkerung Jerusalems und Judas waren bis auf einige Reste der armen Landbevölkerung gut dreißig Jahr vorher nach Babylon verschleppt worden. Zurückgeblieben war ein zerstörter Tempel, eine dezimierte Stadt ähnlich Kabul in Afghanistan oder Grosny in Tschetschenien. Da tritt in Babylon ein Prophet auf, den wir geschichtlich gar nicht näher greifen können, der in die hoffnungslose Lage der Verschleppten hinein das Unglaubliche und nicht mehr Erhoffte ansagt: Gott werde ihr Schicksal wenden, er habe von seinem Zorn abgelassen, er werde Erbarmen gegenüber seinem Volk walten lassen. Der geschichtliche Hintergrund dieser mutigen Ansage dürfte in der Tatsache zu vermuten sein, daß im Erstarken des Perserkönigs Kyros ein mächtiger Gegner Babylons erstand, auf den die Verschleppten eine gewisse Hoffnung gesetzt haben mögen.

In diese durchaus ambivalente Situation hinein stoßen wie Fanfarentöne die Worte des Propheten. Sie sind kunstvoll gebaut. Sie scheinen darum zu wissen, wie schwer es den Exilierten fallen mußte, an eine neue Perspektive ihres Lebens, an eine Zukunft in Jerusalem zu glauben, dessen gesamte religiös-kultische, kulturelle und soziale Infrastruktur in Trümmern lag. In drei Ansätzen will Jes 54,7-10 das Ohr der Exilierten finden.

"Nur für eine kleine Weile habe ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen hole ich dich heim. Einen Augenblick nur verbarg ich vor dir mein Gesicht in aufwallendem Zorn, aber mit ewiger Huld habe ich Erbarmen mit dir, spricht dein Erlöser, der Herr."

Durch den Mund des Propheten spricht Gott selbst. Zunächst fällt der - wie man dafür in der Fachsprache sagt - sogenannte "Parallelismus membrorum" der Satzkonstruktion auf. Der zweite Satz sagt inhaltlich nichts wesentlich Anderes als der erste. Dieser Parallelismus will die Ansage als verläßlich und glaubhaft hinstellen. Bedeutsam ist dabei das auffällige Ungleichgewicht der kleinen Weile des Sich-Abwendens Gottes und seines gewissermaßen nur einen Augenblick lang währenden Zornes auf der einen und seines großen Erbarmens und seiner ewigen Huld auf der anderen Seite. Der "Zorn Gottes" - eine Formulierung, die uns nicht gefallen mag, die nicht unser offenes Ohr treffen dürfte - ist in der Tat nach der Struktur des Satzes vernachlässigbar, nicht der Rede wert. Nicht am vorübergehenden Abgewandtsein Gottes soll sich das Volk orientieren und nicht an Gottes kurz aufwallendem Zorn. Das zähle alles nicht, das habe im Grunde nie gezählt. Was zählt, sei Gottes großes Erbarmen und seine ewige Huld.

Wir greifen nur schwer die Bedeutungstiefe, die in diesen Worten - hebräisch "rachamim" für großes Erbarmen und "chesed" für ewige Huld, mitschwingt. Dem Wort "rachamim" liegt das Wort "rechem", Mutterschoß, zugrunde. "Rachamim", hier von Gott ausgesagt, verweist auf die zarte, naturverbundene, emotionale Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Gottes Liebe, so drückt es der Prophet aus, sei der zärtlichen, fast verletzbaren mütterlichen Liebe vergleichbar. Das kann in der Situation des Exils bei den Verschleppten nicht ohne weiteres auf fruchtbaren Boden gefallen sein. Ihre reale Alltagserfahrung sprach Bände dagegen, daß Gott sich ihrer mütterlich liebevoll annehmen werde. Daran konnte doch gar nichts sein.

Für uns mag sich beim Stichwort "rechem" für Mutterschoß und "rachamim" für zarte mütterliche Liebe vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftsethischer Diskurse die Problematik der Stammzellenforschung, des Embryonenverbrauchs, des therapeutischen Klonens melden. Bei manchen vielleicht auch die Sorge, daß es in unserer Gesellschaft angesichts hoher Abtreibungszahlen und geschlechtlicher Promiskuität um die Kinderfreundlichkeit schlecht bestellt sei. Ich sage, das könnte unsere Gedankenassoziation sein, wenn uns Jes 54,7-10 auf die emotional tiefe Liebe der Mutter zu ihrem Kind hinweist. Nur denke ich - trotz mancher Einwände; und ich erweise mich darin vielleicht als unverbesserlicher Optimist - ,daß auch heute entgegen einer in der Gesellschaft vermuteten anderen Tendenz die Liebe und Sorgfalt dieser Mutter zu ihrem Kind nach wie vor von einer solchen Intensität ist, daß wir uns darüber nicht den Kopf zerbrechen sollten. Diese Liebe kann nach wie vor mit guten Gründen als Symbol der Liebe Gottes zu den Menschen stehen.

Unser Problem allerdings dürfte sein - anders als bei den Exilierten in Babylon - , daß wir unser Leben von vornherein kaum noch aus seiner Beziehung zu Gott definieren und deuten. Uns scheint - wenn ich das so ungeschützt und gewissermaßen fahrlässig ungenau so sagen darf - nicht viel zu fehlen, wenn uns Gott fehlt. Doch denke ich, scheint es mehr so, als daß es wirklich so ist. Wenn wir genauer hinsehen, dürfte sich auch aus dem Text unseres Lebens eine ausgesprochene, vielleicht auch verdeckte Gottesbedürftigkeit zeigen, so daß auch uns in unserer gewiß ganz anderen Situation gegenüber der der Exilierten in Babylon eine solche Zusage, wie sie uns in Jes 54,7-10 entgegenkommt, gewissermaßen auf die Sprünge helfen kann.

Doch erst noch einmal zu unserem Text. "Chesed", Huld war das andere Wort, mit dem der Prophet die Aufmerksamkeit seiner Hörer gewinnen wollte. Unsere Aufmerksamkeit dürfte er damit wohl nicht finden. In unseren Ohren klingt Huld antiquiert, es ist aus unserem Sprachschatz wie verschwunden. Schade drum, denn "chesed" schärft das, was bereits mit "rachamim" antönte, noch an. "Chesed", Huld meint nicht einfach ein allgemeines Wohlwollen, das aber für den konkreten Lebensalltag folgenlos bliebe. "Chesed" meint das konkrete Eingreifen in eine konkrete Situation, so daß sie sich wendet und zum Besseren, ja zum überreich Besseren führt. "Chesed", von Gott ausgesagt, meint also, daß sein alles zum Guten, ja zum Besten wendendes Eingreifen gewissermaßen sein, Gottes, Wesen ausmacht. Eine ungeschuldete Fülle überkommt da den Menschen, eine Fülle, dergegenüber sich ein Sechser im Lotto oder ein Millionengewinn wie Peanuts ausnähmen.

Wird uns das nicht allmählich zu aufdringlich, wovon da der Prophet redet? Hat er nicht längst jeden Bezug zum realen Leben verloren? Vertröstungen solcher Art - in ihrer Wertlosigkeit als "religiöse" Vertröstungen längst enttarnt - kommen bei uns nicht mehr an. Sitzen wir dann aber nicht mit den Exilierten in Babylon exakt in einem Boot? Auch ihnen dürfte der Glaube an die Worte des Propheten schwergefallen sein. Sie sind von der Verläßlichkeit seiner Worte noch nicht überzeugt. Deshalb setzt er - für die Verschleppten in Babylon ebenso wie für uns - ein zweites Mal argumentativ an. Durch seinen Mund verweist Gott auf die Tage des Noach, auf die verheerende Flut und auf den Schwur Gottes damals, nie mehr in dieser Weise zu zürnen. Und das Nämliche gelte jetzt den Exilierten. Und weil es sie offenbar noch immer nicht überzeugt, setzt der Prophet ein drittes Mal an und überschlägt sich dabei förmlich in seiner Argumentation:

"Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen und die Hügel zu wanken beginnen - meine Huld wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir."

Hügel kommen gelegentlich ins Wanken, und wir werden Zeugen, wie unter Schlamm-, Lava- oder Erdmassen nach Erdbeben Menschen begraben werden. Aber Berge weichen nicht leicht von ihrem Platz. Und selbst diesen unwahrscheinlichsten Fall angenommen - bei Gott wird dieser unwahrscheinlichste Fall nie eintreten, daß seine Überfülle gewährende Zuwendung zu den Menschen je ins Wanken komme. Gottes "chesed" und seine "rachamim" stehen.

Da mag es uns nicht mehr länger halten: Bitte, wo stehen sie denn? Außer auf Papier auf den Seiten der Bibel? Wo stehen sie wirklich? Wo bewähren sie sich? Wo ist auf sie wirklich Verlaß? Angesichts der Auseinandersetzungen unserer Tage zwischen Hamas, Dschihad und Hisbullah und Israel?

Wir verfügen hier über keine Antwort. Aber daß wir über eine solche Antwort nicht verfügen, ist kein Beweis dafür, daß an der Rede von Gottes Zuwendung und Liebe nichts sei, daß man das alles vergessen könne. Das ist vielmehr der indirekte Hinweis darauf, daß daran etwas ist! Unser Leben ist größer als unsere Wünsche, als unsere Vorstellungen und Visionen. Unser Leben ist auf mehr angelegt als darauf, in den Maßen des von uns Erreichbaren und Erreichten aufzugehen. Ich denke, wir haben solange noch kaum mit Gott zu tun, so lange wir in ihm nur den Erfüllungsgehilfen unserer Wünsche und Sehnsüchte sähen. Daß er uns gewissermaßen ein "Lichtlein" schicken müsse, wenn es dunkel wird. Ohne an das Gemeinte, sagen wir besser, an das im Glauben Erahnte und Bejahte letztlich heranzukommen, darf man wohl sagen, daß uns Gott offenbar unerkannt zur Seite ist und mit uns geht, auch wenn sich dabei für uns nichts lichtet, wenn sich nichts löst, wenn sich nichts tut. Er ist wohl oft schon die tragende Kraft unseres Lebens, wo uns die Kräfte verlassen haben! Es ist etwas dran, daß unser Leben eine Tiefe hat, an die wir nicht herankommen, über die wir nicht verfügen, aus der uns aber die eigentliche Wahrheit unseres Lebens entgegenkommt, Gottes oft unerkannte und nur erahnte Liebe und Zuwendung.

Die Worte aus Jes 54,7-10 können auch uns ermutigen, wieder Wurzeln zu schlagen in einem Glauben, der hält und trägt, wo nichts Haltgebendes und Zukunftsfähiges mehr vermutet wird. Die Exilierten in Babylon haben sich auf diesen Glauben eingelassen - wenn auch sicherlich schweren Herzens und gegen bleibende Bedenken. Auch wir sollten uns im Glauben auf den Gott des Erbarmens einlassen. Denn "der Bund meines Friedens wird nicht wanken, spricht der Herr."

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische Theologie
Saarstraße 21 D-55099 Mainz
Tel./Fax: 0 61 31 / 39 22 743
pastoralunimz@hotmail.com


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