Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sexagesimae, 3. Februar 2002
Predigt über Apostelgeschichte 16, (6-8) 9-15, verfaßt von Klaus Steinmetz

Liebe Gemeinde!

Paulus hatte eine Erscheinung bei Nacht. War es ein Traum? Wir wüssten gern Näheres. Aber wie auch immer, Paulus und seinen Gefährten wird dadurch klar, wie es weitergehen soll und was sie zu tun haben. Bis dahin war gar nichts klar. Wir hören am Anfang ziemlich viele geographische Bezeichnungen, Namen von Gegenden in Kleinasien in der heutigen Türkei. Und zweimal wird gesagt, in bestimmte Gebiete seien sie nicht gekommen, obwohl sie es eigentlich vorhatten. Es steht da eine merkwürdige Formulierung: Der heilige Geist habe es nicht zugelassen. Auch hier würden wir gern wissen, woran ihnen das deutlich wurde, ob es äußere Umstände waren, Krankheit, fehlende Reisemöglichkeiten, Warnungen vor Gefahren. Irgendwelche Gründe muss es doch gegeben haben, wenn sie ursprüngliche Absichten änderten. Aber darüber erfahren wir nichts.

Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es nicht ohne Ratlosigkeit und quälende Überlegungen abgegangen ist. Erst durch die Erscheinung bei Nacht kommt die Klarheit über Richtung und Ziel ihres Weges. Erst im Nachhinein wird so auch für die verworrenen, abgebrochenen Wege so etwas wie der geheime Richtungssinn klar. Ich glaube, das gibt es manchmal im Leben: Da war zunächst nur Widerstand, Verlust, Ausweglosigkeit. Daran haben wir uns aufgerieben. Und erst später haben wir gemerkt: Auch das, ja gerade das war Führung, Fügung. Damit ist nicht behauptet, das müsse immer so sein; aus allem was im Erleben, Erleiden schwer, ja sinnlos erscheint müsse sich im Nachhinein dann doch Sinn ergeben. Und trotzdem wünsche ich uns allen die gute Erfahrung, dass sich auch über verworrene, abgebrochene Wege unseres Lebens das Licht legt: es war Führung, es war in einem letzten Sinn gut so. Nun handelt es sich aber bei Paulus und seinen Gefährten nicht nur um eine Führung auf ihrem persönlichen Lebensweg, sondern zugleich - deswegen erzählt Lukas es - um eine wichtige Weichenstellung auf dem Weg des Christentums zu den Völkern: Das Evangelium von Jesus Christus kommt nach Mazedonien und damit nach Europa.

Europa - das Wort kommt zwar hier und auch sonst im Neuen Testament nicht vor. Aber in dem geschichtlichen Zusammenhang, in dem wir stehen, können wir es doch gar nicht anders sehen, als dass hier vom Anfang des Christentums in Europa berichtet wird. Für uns stehen beim Stichwort "Europa" zwar in der Regel andere Dinge im Vordergrund, zur Zeit gerade der Euro. Wer könnte bestreiten, dass das eine äußerst wichtige Angelegenheit ist. Gleichzeitig wissen oder ahnen wir: Geld kann doch nicht alles sein, wenn es um Europa geht. Die Apostelgeschichte erinnert hier an eine andere Dimension, ohne die Europa nicht zu denken ist: das Christentum. Europa und das Christentum - das ist eine Geschichte mit großartigen Höhen, aber auch abgründigen Tiefen. Europa und das Christentum - das gehört untrennbar zusammen, jedenfalls bis heute. Allerdings, wenn wir hier an die Anfänge des christlichen Glaubens in Europa erinnert werden, dann drängt sich wie von selbst die Frage auf: Wie wird es in Zukunft sein?

Stehen wir heute möglicherweise am Ende des Christentums in Europa? Wir hören so viel vom Rückgang der prägenden Kraft des christlichen Glaubens im persönlichen und öffentlichen Leben, vom Abnehmen der Kirchenmitgliederzahl, der Beteiligung am kirchlichen Leben und so weiter. . . Jener Mann in der nächtlichen Erscheinung rief: Komm herüber und hilf uns! Er erwartete Hilfe. Wir, denen der christliche Glaube - davon gehe ich einmal aus - etwas bedeutet, verstehen diesen Mann intuitiv. Wir würden auch sagen, dass der Glaube hilfreich ist, auch wenn wir sicher etwas überlegen müssten, worin denn diese Hilfe besteht. Aber für viele andere, durchaus schätzenswerte Zeitgenossen, die wir kennen - bedeutet Glaube, Kirche ihnen etwas Hilfreiches, wonach sie fragen?

Andererseits: Wenn heute nach Orientierung, Werten, Sinn für das Leben in der allgemeinen Beliebigkeit und Auflösung überkommener Normen gerufen wird, dann richten sich viele Erwartungen auch und gerade an die Christen, die Kirchen. Da fragt man sich manchmal ganz erstaunt: Woher kommt diese Erwartung? Haben wir überhaupt die Kraft, dem gerecht zu werden? Oder besser: Wird sie uns geschenkt? Schnelle Antworten auf diese Fragen oder gar Patentrezepte hat niemand, das hätte sich doch wohl inzwischen herumgesprochen. Betrachtet man nach solchen Überlegungen noch einmal den Bericht in der Apostelgeschichte, dann kann einem auffallen, wie klein und unscheinbar damals alles angefangen hat. Zwar haben die Männer um Paulus Klarheit für ihre Pläne gewonnen. Aber was man nach der Traumerscheinung hätte vermuten können, geschieht nicht. Beim Einlaufen in den Hafen steht am Ufer keine Menge wartend bereit, am Stadttor ist niemand, der sie begrüßt. Nach ihrer Ankunft in der Stadt Philippi passiert erstmal - gar nichts. Es heißt also Abwarten, Sehen, ob und wo sich vielleicht etwas machen lässt. So sind sie dann wohl darauf gestoßen, dass am Fluss ein Treffpunkt einer kleinen jüdischen Gruppe ist; eine richtige Synagoge scheint es nicht gegeben zu haben. Und als sie am Sabbat hinkommen, wen treffen sie dort an? Nur (bitte dieses "nur" jetzt nicht missverstehen'), nur Frauen. Sie beginnen mit ihnen zu reden. Die Frauen waren zum Beten gekommen, eine gewisse religiöse Aufgeschlossenheit war also zu vermuten. Trotzdem stelle ich mir die ganze Situation bei diesem Zusammentreffen ziemlich offen und eher alltäglich vor. Da konnte man nicht sofort anfangen zu predigen, zu verkündigen, wie das im Rahmen eines nach fester Ordnung ablaufenden Gottesdienstes selbstverständlich ist. Es war wohl eher wie bei einem Besuch, wo es heute auch für einen Pastor sich nicht einfach von selbst ergibt, religiös oder gar fromm zu reden. "Von Gott war nur am Rande die Rede", hat ein Pastor einmal seine dies bezüglichen Erfahrungen überschrieben. Da muss man meist sehr aufmerksam erspüren, ob und was man von Gott reden kann, jedenfalls wenn es hilfreich sein soll. Paulus ist das offensichtlich gelungen. Aber damals wie heute gilt: Das Gelingen liegt nicht einfach in der Hand dessen, der redet. Da hat noch ein anderer seine Hand mit im Spiel. "Lydia tat der Herr das Herz auf", hören wir.

Ohne Umschweife wird dann erzählt - auch hier möchten wir gern die näheren Umstände erfahren - dass sie getauft wird. Und sofort erweist sie, die tüchtige Geschäftsfrau, sich als resolute Christin, die weiß, was richtig ist und es auch sagt: Wenn ihr mich als Gläubige, als Schwester in Christus anerkennt, dann könnt ihr mir nicht abschlagen, Gäste in meinem Haus zu sein. Sie nötigte sie mit sanftem Druck.

Glauben schafft Verbundenheit. Und gerade die Form der Hausgemeinschaft, um einen Tisch herum, erweist sich immer wieder als konstitutiv. "Neu anfangen" heißt eine Werbe- und Einladungsaktion, die in den letzten Jahren in mehreren Städten und Regionen Deutschlands durchgeführt worden ist. Über Telefon wird eingeladen zu kleinen Gruppen, Treffpunkten in Privathäusern, um miteinander zu reden, Fragen zu erspüren und so den Glauben ins Gespräch zu bringen.

Ich glaube, dass Gott auch mit unseren großen Kirchen etwas vorhat und machen kann. Dabei denke ich in erster Linie an die Gemeinschaft und die Institution unserer Kirche, aber durchaus auch an die Kirchengebäude. Aber die Geschichte von Philippi kann uns darauf aufmerksam machen, dass er dies möglicherweise auch auf unvermuteten, unscheinbaren Wegen tut, mit denen wir nicht gerechnet hätten: etwa in der offenen Situation eines normalen Gespräches, wenn Menschen zusammen sind in einem Haus und Zimmer - und plötzlich ist er mitten unter ihnen. Er wird schon dafür sorgen, dass dabei Frucht entsteht. Denn wenn er sein Wort ausstreut, ist das nie umsonst.
Amen

Klaus Steinmetz, Sup. i. R.
Hainholzweg 8, 37085 Göttingen


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