Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sexagesimae, 3. Februar 2002
Predigt über Apostelgeschichte 16,9-15, verfaßt von Prof. Dr. Karl Rennstich

Vorüberlegungen

Liebe Gemeinde!

Was ist eine Vision?
ANTOINE DE SAINT- EXUPÈRY beschreibt in prägnanter Kürze und Klarheit, was eine Vision bedeutet und was sie erreichen will:

"Wenn du ein Schiff bauen willst,
so trommle nicht Leute zusammen,
um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten,
Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen;
sondern wecke in ihnen die Sehnsucht
nach dem weiten, endlosen Meer.
(Evangelisches Gesangbuch, S. 756)
Ein "Schiff, das sich Gemeinde nennt", will Paulus bauen. Er ist getrieben von der Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer von Menschen, die das Evangelium noch nicht gehört haben. Das ist sein Lebensziel.

Eine Vision steht am Anfang dieses wichtigen Schrittes:
"Da fuhren wir von Troas ab und kamen (...) nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluß, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen".

Einen Mann hatte Paulus im Traum gesehen; Frauen traf er "vor der Stadt am Fluß, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte". Die Leiterin heißt Lydia. Der Name verrät ihre Biographie. Sie kommt aus Lydien, aus der Stadt Thyatira, nicht unweit der Stadt aus der auch Paulus kommt. Lydia ist eine "Ausländerin". Sie war Unternehmerin und gehörte zu den "tüchtigen Frauen", die wir aus der Geschichte bis heute kennen. Chatija, des Propheten Mohammeds erste Frau, war eine solche. Sie ermöglichte Mohammed, den sie als 15 Jahre ältere Frau heiratete, die Muse zum Nachdenken in den Höhlen, in denen er dann "Gesichter" hatte, die wir im Koran nachlesen können.

Lydia handelte mit dem teuren Luxusartikel Purpur. Thyatira war nach Offenbarung 2,18f berühmt wegen seiner Purpurindustrie. Der Handel war ein einträgliches Geschäft. Lydia war eine wohlhabende und unabhängige Frau. Aber sie glaubte nicht an das Geld. Sie war eine Suchende. Das war der Grund, warum sie draußen vor der Stadt am Fluß betete. Eine Synagoge konnte es nicht gewesen sein, denn es waren nur Frauen dort. Zur Synagoge gehören (mindestens) zehn Männer, um einen Gottesdienst feiern zu können. Sie wird "Gottesfürchtige" genannt. Sie hatte Sympathie für den jüdischen Glauben, aber sie war selber keine Jüdin. An der Gebetsstätte hörte sie Paulus zu.

Wie Lydia war auch Paulus ein Geschäftsmann. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als "Zeltmacher". Er tat das ganz bewußt, denn er wollte nicht mit denen verwechselt werden die damals (wie heute noch) mit Religion Geld verdienten. Zu den Reisenden auf römischen Straßen und Schiffen gehörten auch wandernde Philosophen, Kyniker, Wundertäter und Priester. Angesichts der vielen anderen Wandermoralisten versuchten die frühchristlichen Prediger, sich von ihnen zu distanzieren und einen besseren Eindruck zu vermitteln. (1Thess 2 und 2Kor 11) mit solchen Unterscheidungen auseinandersetzen.

Der Herr tat Lydia das Herz und den Sinn auf; so wurde sie zu einer "Erlösten voller Lachen" (Psalm 126). "Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns".

Die Zelle im Leib der Kirche ist der Hauskreis. Die ersten Kirchen waren nach dem Vorbild des Hauses gebaut. Sind die Zellen krank, dann leidet der ganze der Leib Kirche. "Macht mir die Gemeinden stark" ermunterte der württembergische Bischof Martin Haug die Kirche in den 1950er Jahren auf Grund seiner Erfahrungen im Kirchenkampf.

Wenn die ( Zellen) Hauskreise der Kirche sterben, dann wird bald der Leib Kirche wie ein toter Walfisch nur noch an der Oberfläche des gesellschaftlichen Weltmeeres fluten - ohne Leben, aufgeblasen und übel riechend! Aus Purpurhändlerinnen, die draußen vor der Stadt am Fluß beten, werden dann purpurgewandete Männer in Palästen, wohlbehütet und gut abgeschirmt vom Volk. Sie sitzen nicht mehr am runden Familien- Tisch, sondern auf dem Katheder, der das Gotteshaus zur Kathedrale machte.

"Gesichter" sind wirkungsmächtig. Vor der Praxis (prattein- mit den Händen arbeiten) steht das "Sehen" (theorein). Ein "Gesicht" steht nach dem Glauben der Griechen am Anfang von Europa:
Fern von Griechenland (Griechische Sagen. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Dtv junior Taschenbuch. München 1983. 6) , in Phoinikien herrschte König Agenor über die Seestädte Tyrus und Sidon. Dort wuchs die wunderschöne Tochter namens Europa heran. Europa, deren Schönheit überall in den angrenzenden Landen gepriesen wurde, war stets inmitten ihrer schönen Gespielinnen die Schönste und lieblichste. Tief betrübt wegen eines Traumes schritt die schöne Europa eines Tages mit ihren Freundinnen hinaus zum Spiel. Asien, so hatte ihr geträumt, der mächtige Erdteil, in dem ihres Vaters Reich lag, stand vor ihr in der Gestalt einer schönen Frau und breitete die Arme über sie, um sie vor dem Griff einer Fremden zu schützen. "Laß mir mein Kind!" rief Asia bittend, "denn ich bin es doch, die es zur Welt gebracht und aufgezogen hat! Laß mir meine geliebte Tochter!"

Die unerbittliche Fremde jedoch entriß der Widerstrebenden die Jungfrau und führte Europa davon mit den beruhigenden Worten: " Sei unbesorgt, du Schöne, denn einer herrlichen Zukunft trage ich dich entgegen! Dem Weltenbeherrscher selber, so ist vom Geschick bestimmt, sollst du zu eigen sein!" Zeus , von den Pfeilen des Liebesgottes Eros getroffen, war in unstillbarer Liebe zu der schönen Jungfrau Europa entbrannt. "Nur List kann helfen", sagte sich der liebestolle Zeus. Zeus verwandelte sich in ein kraftvollen Stier und schlich sich in die Herde Agenors, die durch den Götterboten Hermes in Richtung auf die im Kreise ihrer Gespielinnen tanzende Europa getrieben wurde. "Wie herrlich ist er anzuschaun!" rief voller Begeisterung die schöne Europa und reichte dem seltenschönen Stier eine Strauß voll duftiger Blumen, bekränzte ihn und schwang sich unter den fröhlichen Zurufen der Mädchen auf den Rücken des Stieres. Schnell glitt das Paar durch Felder und Wiesen durch die Wellen des Meeres weit in eine fernes Land. Dort im fernen Lande stand plötzlich an Stelle des entschwundenen Stieres ein gottgleicher Mann vor ihr und sprach: "Sei unbesorgt und ohne Furcht, du schöne Jungfrau!"

Europa ist heute das größte Missionsgebiet der Erde. Die Großmacht Religion ist, wie kaum je zuvor, ein wichtig zu nehmender Faktor in dieser Welt. Während außerhalb unseres Kontinents die Mission von Europäern an Bedeutung verliert, wird Europa in 20 bis 40 Jahren zum offenen, umkämpften religiösen Markt werden. Islam und Buddhismus, neue Esoterik und alter Aberglaube werden vor allem - begünstigt durch religiöse Toleranz, einen missionarischen Tummelplatz finden - wie kaum sonst auf der Welt.

Die heiligen Tiere der Kelten, der Bär und der Stier, stehen vor dem Allterheiligsten der kapitalistischen Gotteshäuser namens Börse. Stier steht für "Hausse", das Steigen der Aktien und der Bären für "Baisse", das Fallen der Aktien. Mammon ist Sinnbild für den gierigen Gott. Der Stiergott verkörpert die männliche Potenz.

Guy Kawasaki, einer der erfolgreichsten Inovations-Wirtschaftsmanager unserer Zeit, versteht den Begriff Evangelisation im Zusammenhang mit dem, was wir heute global Marketing nennen. Markt hieß bei den Griechen Agora, Sie ist der Mittelpunkt der Polis. Manager sind nach Kawasaki Evangelisten. Marketing, Management und Selling, heißen bei Kawasaki Evangelisation. Er betont: "Die Mund zu Mund Propaganda einer anerkannten Persönlichkeit ist wirkungsvoller als die meisten Verkaufstechniken durch Anzeigen".

Der jüdische Schriftsteller, Essayist, Literaturkritiker und Wissenschaftler Walter Benjamin sah im Kapitalismus eine neue Religion und nannte sie die "moderne Volksreligion Europas, das real existierende Christentum" am Ende des 2o. Jahrhunderts. Die Kennzeichen sind das Geld als göttliche Autorität; die religiöse Struktur des Kapitalismus sei deutlich zu erkennen: Geldverdienen, Herstellen von Waren, verkaufen, kaufen und besitzen gehören zum eigentlichen Vollzug dieser neuen Religion. Alle Tage sind nun "heilige Tage". Es gibt keine "Ruhetage der Besinnung". Damit hängt zusammen ein neues Verständnis von Schuld und Schulden. Die universale Verschuldung wird zur Grundlage des neuen Glaubens. Die neue Religion Kapitalismus macht Schulden zum neuen Weltgesetz, in das das Menschenschicksal einbezogen wird. Man betet zum unpersönlichen Geld. Diese neue Religion missioniert heute global und fordert alle anderen Religionen ganz neu heraus. Sie kennt keine Bitte: Vergib uns unsere Schuld". Sie vergibt ihren Schuldner nicht, sondern verdient an den Schulden solange wie möglich, koste es was es wolle.

Franst die Kirche im alten Europa aus?
Franse ist feminin. Das Wort kommt aus dem Lateinischen fimbria und bedeutet seit Cicero Troddel am Gewand. Das Franzband wird zum Ledereinband nach französischer Art. Die Verpackung wird nun wichtiger als der Inhalt. Aus der Franse entwickelte sich "Franzose"; das bedeutet "elegant, kultiviert". Man lebt so "wie Gott in Frankreich!" Der biblische Gott ist wenig gefragt in Frankreich!

Träume sind wirkungsmächtig! Wenn Christen keine Träume mehr haben verkommen sie schnell zur "modernen Volksreligion Europas". Am Anfang stand der Glaube (pistis) einer tüchtigen Geschäftsfrau, die mehr wollte als den unpersönlichen Geldgott.

"Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns."

Auch unerfüllte Träume sind wirkungsmächtig. Deshalb lasset uns träumen wie Martin Luther King:
"Ich träume davon, dass eines Tages der Krieg ein Ende nehmen wird, dass die Männer ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, dass kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und nicht mehr kriegen lernen wird (...) Ich träume noch immer davon, dass wir mit diesem Glauben imstande sein werden, den Rat der Hoffnungslosigkeit zu vertagen und neues Licht in die Dunkelkammern des Pessimismus zu bringen. Mit diesem Glauben wird es uns gelingen, den Tag schneller herbeizuführen, dann dem Frieden auf erden ist. Es wird ein ruhmvoller Tag sein, die Morgensterne werden miteinander singen und alle Kinder Gottes vor Freude jauchzen".

Amen

Dogmatische und homiletische Entscheidung
Das Evangelium kennt keine Grenzen. In der Geschichte der Ausbreitung des christlichen Glaubens seit nunmehr 2000 Jahren begegnen uns Frauen und Männer, die in ihrem Leben mühsam lernen mußten, geographische, soziale, kulturelle und sprachliche Grenzen zu überschreiten. Am Anfang steht meistens ein "Gesicht" (Erscheinung, Vision).

Gesichter und Visionen in der Bibel
Erscheinungen (Gesichter, Träume und Visionen) haben ihren festen Platz in der biblischen Geschichte. So lesen wir in 2. Mose 3,3: "Da sprach er (Mose): Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt".
Mit dieser Erscheinung beginnt der lange Marsch aus der grausamen Unterdrückung in Ägypten zur Freiheit in Kanaan. In der Mitte des Langen Marsches zur Freiheit, zeigte eine neue Erscheinung am Sinai "wo es lange gehen soll". Die Zehn Gebote wurden zur Wegweisung des Lebens und gipfeln in der Aufforderung: "Lass dir die Sehnsucht nicht ausreden!

Am Anfang der neutestamentlichen Geschichte hatte Zacharias eine Erscheinung im Tempel: "Und er winkte ihnen und blieb stumm". (Lk 1,22)
Jesus gebot seinen drei Begleitern, nachdem sie vom Berg der Verklärung hinabgestiegen waren in die Niederungen des Alltags: "Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist".
Auch im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu ist von einer Erscheinung die Rede: "Sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe (...) Als sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch!" (Lk 24,23+36)

Auch die erste schwerwiegende Entscheidung der frühen Kirche wurde durch eine Erscheinung vorbereitet: der römische Offizier Kornelius "hatte eine Erscheinung um die neunte Stunde am Tage und sah deutlich einen Engel Gottes bei sich eintreten; der sprach zu ihm: Kornelius! (...) Als aber Petrus noch ratlos war, was die Erscheinung bedeute, die er gesehen hatte, siehe, da fragten die Männer, von Kornelius gesandt, nach dem Haus Simons und standen an der Tür. (Apg 10,3, 17,19). Die Vision wird dann gedeutet: "Ich sah etwas wie ein großes leinenes Tuch herabkommen, an vier Zipfeln niedergelassen vom Himmel; das kam bis zu mir".
So wurde der Weg frei gemacht für die Mission unter den (Heiden) Völkern.
Eine Erscheinung ebnete den Weg zur nächsten Grenzüberschreitung des Evangeliums nach Europa: "Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. (Apg 16,9+10)
Theophanien werden im Neuen Testament nicht bezeugt. Dagegen sind im Zusammenhang mit dem Kommen Jesu, der Versuchung, der Passion, der Auferstehung Erscheinungen von Engeln erwähnt. In Vorberichten finden wir Offenbarungsträume, aber niemals wird der Auferstandene im Traum erlebt, sondern es wird von Gesichtern berichtet. Gott wird nicht sichtbar, sondern offenbar (Michaelis, THWb, V, 370). Wichtig ist die Erfahrung der Person des Auferstandenen. Diese Begegnung mit der Person des Gekreuzigten und Auferstandenen führen zu Glauben, Verpflichtung, Zeugnis und Sendung.

Prof. Dr. Karl Rennstich
E-Mail: kwrennstich@gmx.de


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