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Sexagesimae, 3. Februar 2002
Predigt über Apostelgeschichte 16,9-15, verfaßt von Prof. Dr. Karl Rennstich |
Liebe Gemeinde! Was ist eine Vision? "Wenn du ein Schiff bauen willst, Einen Mann hatte Paulus im Traum gesehen; Frauen traf er "vor der Stadt am Fluß, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte". Die Leiterin heißt Lydia. Der Name verrät ihre Biographie. Sie kommt aus Lydien, aus der Stadt Thyatira, nicht unweit der Stadt aus der auch Paulus kommt. Lydia ist eine "Ausländerin". Sie war Unternehmerin und gehörte zu den "tüchtigen Frauen", die wir aus der Geschichte bis heute kennen. Chatija, des Propheten Mohammeds erste Frau, war eine solche. Sie ermöglichte Mohammed, den sie als 15 Jahre ältere Frau heiratete, die Muse zum Nachdenken in den Höhlen, in denen er dann "Gesichter" hatte, die wir im Koran nachlesen können. Lydia handelte mit dem teuren Luxusartikel Purpur. Thyatira war nach Offenbarung 2,18f berühmt wegen seiner Purpurindustrie. Der Handel war ein einträgliches Geschäft. Lydia war eine wohlhabende und unabhängige Frau. Aber sie glaubte nicht an das Geld. Sie war eine Suchende. Das war der Grund, warum sie draußen vor der Stadt am Fluß betete. Eine Synagoge konnte es nicht gewesen sein, denn es waren nur Frauen dort. Zur Synagoge gehören (mindestens) zehn Männer, um einen Gottesdienst feiern zu können. Sie wird "Gottesfürchtige" genannt. Sie hatte Sympathie für den jüdischen Glauben, aber sie war selber keine Jüdin. An der Gebetsstätte hörte sie Paulus zu. Wie Lydia war auch Paulus ein Geschäftsmann. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als "Zeltmacher". Er tat das ganz bewußt, denn er wollte nicht mit denen verwechselt werden die damals (wie heute noch) mit Religion Geld verdienten. Zu den Reisenden auf römischen Straßen und Schiffen gehörten auch wandernde Philosophen, Kyniker, Wundertäter und Priester. Angesichts der vielen anderen Wandermoralisten versuchten die frühchristlichen Prediger, sich von ihnen zu distanzieren und einen besseren Eindruck zu vermitteln. (1Thess 2 und 2Kor 11) mit solchen Unterscheidungen auseinandersetzen. Der Herr tat Lydia das Herz und den Sinn auf; so wurde sie zu einer "Erlösten voller Lachen" (Psalm 126). "Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns". Die Zelle im Leib der Kirche ist der Hauskreis. Die ersten Kirchen waren nach dem Vorbild des Hauses gebaut. Sind die Zellen krank, dann leidet der ganze der Leib Kirche. "Macht mir die Gemeinden stark" ermunterte der württembergische Bischof Martin Haug die Kirche in den 1950er Jahren auf Grund seiner Erfahrungen im Kirchenkampf. Wenn die ( Zellen) Hauskreise der Kirche sterben, dann wird bald der Leib Kirche wie ein toter Walfisch nur noch an der Oberfläche des gesellschaftlichen Weltmeeres fluten - ohne Leben, aufgeblasen und übel riechend! Aus Purpurhändlerinnen, die draußen vor der Stadt am Fluß beten, werden dann purpurgewandete Männer in Palästen, wohlbehütet und gut abgeschirmt vom Volk. Sie sitzen nicht mehr am runden Familien- Tisch, sondern auf dem Katheder, der das Gotteshaus zur Kathedrale machte. "Gesichter" sind wirkungsmächtig. Vor der Praxis (prattein-
mit den Händen arbeiten) steht das "Sehen" (theorein).
Ein "Gesicht" steht nach dem Glauben der Griechen am Anfang
von Europa: Die unerbittliche Fremde jedoch entriß der Widerstrebenden die Jungfrau und führte Europa davon mit den beruhigenden Worten: " Sei unbesorgt, du Schöne, denn einer herrlichen Zukunft trage ich dich entgegen! Dem Weltenbeherrscher selber, so ist vom Geschick bestimmt, sollst du zu eigen sein!" Zeus , von den Pfeilen des Liebesgottes Eros getroffen, war in unstillbarer Liebe zu der schönen Jungfrau Europa entbrannt. "Nur List kann helfen", sagte sich der liebestolle Zeus. Zeus verwandelte sich in ein kraftvollen Stier und schlich sich in die Herde Agenors, die durch den Götterboten Hermes in Richtung auf die im Kreise ihrer Gespielinnen tanzende Europa getrieben wurde. "Wie herrlich ist er anzuschaun!" rief voller Begeisterung die schöne Europa und reichte dem seltenschönen Stier eine Strauß voll duftiger Blumen, bekränzte ihn und schwang sich unter den fröhlichen Zurufen der Mädchen auf den Rücken des Stieres. Schnell glitt das Paar durch Felder und Wiesen durch die Wellen des Meeres weit in eine fernes Land. Dort im fernen Lande stand plötzlich an Stelle des entschwundenen Stieres ein gottgleicher Mann vor ihr und sprach: "Sei unbesorgt und ohne Furcht, du schöne Jungfrau!" Europa ist heute das größte Missionsgebiet der Erde. Die Großmacht Religion ist, wie kaum je zuvor, ein wichtig zu nehmender Faktor in dieser Welt. Während außerhalb unseres Kontinents die Mission von Europäern an Bedeutung verliert, wird Europa in 20 bis 40 Jahren zum offenen, umkämpften religiösen Markt werden. Islam und Buddhismus, neue Esoterik und alter Aberglaube werden vor allem - begünstigt durch religiöse Toleranz, einen missionarischen Tummelplatz finden - wie kaum sonst auf der Welt. Die heiligen Tiere der Kelten, der Bär und der Stier, stehen vor dem Allterheiligsten der kapitalistischen Gotteshäuser namens Börse. Stier steht für "Hausse", das Steigen der Aktien und der Bären für "Baisse", das Fallen der Aktien. Mammon ist Sinnbild für den gierigen Gott. Der Stiergott verkörpert die männliche Potenz. Guy Kawasaki, einer der erfolgreichsten Inovations-Wirtschaftsmanager unserer Zeit, versteht den Begriff Evangelisation im Zusammenhang mit dem, was wir heute global Marketing nennen. Markt hieß bei den Griechen Agora, Sie ist der Mittelpunkt der Polis. Manager sind nach Kawasaki Evangelisten. Marketing, Management und Selling, heißen bei Kawasaki Evangelisation. Er betont: "Die Mund zu Mund Propaganda einer anerkannten Persönlichkeit ist wirkungsvoller als die meisten Verkaufstechniken durch Anzeigen". Der jüdische Schriftsteller, Essayist, Literaturkritiker und Wissenschaftler Walter Benjamin sah im Kapitalismus eine neue Religion und nannte sie die "moderne Volksreligion Europas, das real existierende Christentum" am Ende des 2o. Jahrhunderts. Die Kennzeichen sind das Geld als göttliche Autorität; die religiöse Struktur des Kapitalismus sei deutlich zu erkennen: Geldverdienen, Herstellen von Waren, verkaufen, kaufen und besitzen gehören zum eigentlichen Vollzug dieser neuen Religion. Alle Tage sind nun "heilige Tage". Es gibt keine "Ruhetage der Besinnung". Damit hängt zusammen ein neues Verständnis von Schuld und Schulden. Die universale Verschuldung wird zur Grundlage des neuen Glaubens. Die neue Religion Kapitalismus macht Schulden zum neuen Weltgesetz, in das das Menschenschicksal einbezogen wird. Man betet zum unpersönlichen Geld. Diese neue Religion missioniert heute global und fordert alle anderen Religionen ganz neu heraus. Sie kennt keine Bitte: Vergib uns unsere Schuld". Sie vergibt ihren Schuldner nicht, sondern verdient an den Schulden solange wie möglich, koste es was es wolle. Franst die Kirche im alten Europa aus? Träume sind wirkungsmächtig! Wenn Christen keine Träume mehr haben verkommen sie schnell zur "modernen Volksreligion Europas". Am Anfang stand der Glaube (pistis) einer tüchtigen Geschäftsfrau, die mehr wollte als den unpersönlichen Geldgott. "Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns." Auch unerfüllte Träume sind wirkungsmächtig. Deshalb lasset
uns träumen wie Martin Luther King: Amen Dogmatische und homiletische Entscheidung Gesichter und Visionen in der Bibel Am Anfang der neutestamentlichen Geschichte hatte Zacharias eine Erscheinung
im Tempel: "Und er winkte ihnen und blieb stumm". (Lk 1,22) Auch die erste schwerwiegende Entscheidung der frühen Kirche wurde
durch eine Erscheinung vorbereitet: der römische Offizier Kornelius
"hatte eine Erscheinung um die neunte Stunde am Tage und sah deutlich
einen Engel Gottes bei sich eintreten; der sprach zu ihm: Kornelius! (...)
Als aber Petrus noch ratlos war, was die Erscheinung bedeute, die er gesehen
hatte, siehe, da fragten die Männer, von Kornelius gesandt, nach
dem Haus Simons und standen an der Tür. (Apg 10,3, 17,19). Die Vision
wird dann gedeutet: "Ich sah etwas wie ein großes leinenes
Tuch herabkommen, an vier Zipfeln niedergelassen vom Himmel; das kam bis
zu mir". Prof. Dr. Karl Rennstich |
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