Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sexagesimae, 3. Februar 2002
Predigt über Apostelgeschichte 16,9-15, verfaßt von Christian-Erdmann Schott

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigtabschnitt steht in der Apostelgeschichte; diesem besonderen Buch, das Lukas als zweiten Band seines Gesamtwerkes geschrieben und herausgegeben hat. Im ersten Band, dem Evangelium, hat er über das Leben Jesu bis zur Himmelfahrt berichtet. In der Apostelgeschichte zeigt er, wie es nach Himmelfahrt und Pfingsten mit der Urgemeinde weitergegangen ist. Dabei liegt ihm die Verkündigung und Ausbreitung des Evangeliums durch die christlichen Missionare besonders am Herzen. Und dabei wiederum spielt der Apostel Paulus eine herausragende Rolle. Paulus ist, obgleich er nicht zu den ursprünglichen Jüngern Jesu Christi gehört hat, der wichtigste Christuszeuge und Missionar, von dem die Apostelgeschichte erzählt.

In unserem heutigen Predigtabschnitt nun geht es um eine folgenreiche Weichenstellung in diesem Missionswerk, nämlich den Übergang des Christentums von Kleinasien nach Europa. Dabei wird ein Landstrich besonders genannt: Mazedonien, damals ein Teil von Griechenland. Dort hat es angefangen für Europa. Ich lese:

"Und dem Paulus erschien ein Gesicht bei der Nacht; das war ein Mann aus Mazedonien, der stand da und bat ihn und sprach: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber das Gesicht gesehen hatte, da trachteten wir alsbald, zu reisen nach Mazedonien, gewiß, daß uns Gott dahin berufen hätte, ihnen das Evangelium zu predigen. Da fuhren wir aus von Troas; und geradewegs kamen wir nach Samothrake, des ändern Tages nach Neapolis und von da nach Philippi, welches ist die Hauptstadt dieses Teiles von Mazedonien und eine römische Kolonie. Wir blieben aber in dieser Stadt etliche Tage. Am Tage des Sabbats gingen wir hinaus vor die Stadt an das Wasser, wo wir dachten, daß man pflegte zu beten, und setzten uns und redeten mit den Frauen, die da zusammenkamen. Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurkrämerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; dieser tat der Herr das Herz auf, daß sie darauf achthatte, was von Paulus geredet ward. Als sie aber mit ihrem Hause getauft ward, bat sie uns und sprach: Wenn ihr mich achtet, daß ich gläubig bin an den Herrn, so kommt in mein Haus und bleibet allda. Und sie nötigte uns".

Das hört sich einfach an. Erst wenn man genauer hinsieht, merkt man, daß diese Geschichten sehr kunstvoll gestaltet und zusammengefügt sind. Drei Gesichtspunkte oder Themenkreise scheinen mir besonders wichtig:

I. Die Geschichte von der Landung des Paulus und seiner Begleiter im mazedonischen Philippi liest sich zunächst wie ein historischer Bericht, und das soll er ja durchaus auch sein. Danach muß der Anfang ziemlich enttäuschend gewesen sein - jedenfalls zunächst. Nach dem Gesicht, das heißt nach dem Traum, den Paulus geträumt hatte, konnte man annehmen, daß die christlichen Missionare in Europa erwartet werden. Als sie ankommen, werden sie von den Menschen überhaupt nicht beachtet. Das Leben in der Stadt bleibt davon ganz unberührt Niemand erwartet sie. Niemand begrüßt sie. Niemand freut sich über ihr Kommen. Sie selber müssen schließlich etwas unternehmen, um irgendwo und irgendwie mit Menschen Kontakt zu bekommen. Und so beschließen sie, den Sabbat abzuwarten und dann eine Gebetsstätte aufzusuchen. Vielleicht könnte sich dort etwas ergeben?

Und es ergibt sich eine Begegnung. Sie treffen auf einige Frauen. Eine von ihnen, Lydia, öffnet ihr Herz, kommt zum Glauben, läßt sich taufen und nimmt die Missionare in ihr Haus auf.

Das ist der Anfang des Christentums in Europa. Das Haus der Lydia ist die erste Missionsstation. Im Grunde ist das eher bescheiden, sehr einfach. Aber man darf diesen geringen Anfang nicht isoliert sehen. Lukas hat ja dann auch erzählt, wie es weitergegangen ist. Mit zunehmendem Staunen erfahren die Leser, wie aus diesem winzigen Anfang in einer gleichgültigen Welt eine große, immer weiterwachsende Bewegung geworden ist: eine Bewegung, die noch nicht an ihr Ende gekommen ist, die weitergeht, in der wir selbst auch drin stehen, die zu immer wieder neuen Anfängen führt, so oder so ähnlich: Menschen öffnen ihr Herz für das Wort Gottes, fangen an zu glauben, finden ihren Lebenssinn und ihre Ausrichtung auf Gott, suchen Gemeinschaft und bieten Gemeinschaft für andere.

Zugleich wird deutlich, daß die Apostel sich durch die Gleichgültigkeit, auf die sie stießen, nicht beirren ließen. Weder entmutigt noch verunsichert haben sie an ihrem Glauben und an ihrem Ziel, Menschen für den Glauben zu gewinnen, festgehalten, haben strategisch klug operiert und am Ende war es dann doch ein Erfolg.

II. Wir können diese Geschichte aber auch heilsgeschichtlich lesen. Dann müssen wir sie in den großen Zusammenhang des Ringens Gottes um die Menschen hineinstellen. Gott hat die Trennung, die die Menschen wollten, nie akzeptiert. Auch wenn sie ihn los und unter sich sein wollten, Gott hat um die Verbindung mit uns gekämpft und dabei immer wieder neu angesetzt: Nach der Sintflut zum Beispiel. Sie kennen die schöne Geschichte mit dem Regenbogen, der nach dem Opfer des Noah als Zeichen eines neuen Anfangs und Bundes aufleuchtet. Später dann ist es die Aufforderung an Abraham, aus seinem Vaterland zu gehen, in ein anderes Land. Das ist dann der Anfang des Gottesvolkes in Israel. Dieser Anfang war bald wieder verbraucht. Schon die Enkel Abrahams zogen nach Ägypten. Dort blieben sie 600 Jahre. Am Ende hatten sie ihren Gott fast vergessen. Aber Gott hatte sie nicht vergessen. Er berief Mose. Mit ihm schließt er am Sinai wieder einen neuen Bund. Aber dann kam es trotz des Protestes der Propheten wieder zum Abfall und in dessen Folge zur Verbannung ins Exil nach Babylon. Auch das war nicht das Ende. Gott holte das Volk Israel aus dem Exil in die Heimat zurück. Er ließ es wieder in Israel leben - um schließlich in Jesus Christus dem Volk Israel und darüber hinaus allen Völkern der Erde ein neues Angebot zu machen. Dieses Angebot erreicht schließlich Europa. Es wird den Kontinent verändern.

Hinter allen diesen Neuaufbrüchen steht die Treue Gottes - oder anders: der lange Atem Gottes. Es ist sehr tröstlich, das aus der Heilsgeschichte zu sehen. Wir Menschen sind kurzsichtige Wesen. Aus der Bibel können wir die großen, übergreifenden Perspektiven Gottes erkennen. Wenn wir uns in sie hineinziehen lassen, werden wir viele Sorgen um die Zukunft der Religion und des Glaubens beiseite legen können. Denn die große Botschaft auch dieser Geschichte ist: Gott gibt nicht auf. Gott hat auch Europa nie aufgegeben.

III. Heute wissen wir: Europa ist durch die Verbindung seiner Kräfte, wie sie zum Beispiel die griechisch-römische Antike entwickelt hat, mit dem Christentum groß geworden. In vielen Bereichen sind wir seit Jahrhunderten zunächst allein, jetzt zusammen mit Nordamerika, Weltspitze. Das hängt zutiefst mit dem christlichen Glauben zusammen. Aber dieser Glaube ist keine Erfindung Europas. Europa hat das Christentum weder erfunden noch entwickelt. Die christliche Botschaft kam von außen. Sie ist wie ein Licht zu uns gekommen, das Gott selbst angezündet hat: "Das ewig Licht geht da herein, gibt Europa einen neuen Schein".

Dieses Kommen von außen wird durch den Traum, den Paulus in der Nacht gehabt hat, unterstrichen. Träume und Engel sind häufig Mittel Gottes, um seinen Willen bekannt zu machen. Dieser Befehl Gottes wird auf der anderen, menschlichen Seite unterstrichen durch die Bitte des Europäers "Komm herüber ... und hilf uns!". Daß die Botschaft von Jesus Christus zu uns gekommen ist, ist darum ein Grund zu großer Dankbarkeit gegen Gott.

Natürlich kennen wir die nicht selten geäußerte Meinung: Ja, das war damals. Nichts gegen die historische Wahrheit, Europa verdankt dem Christentum tatsächlich sehr viel. Aber heute hat sich Europa emanzipiert. Es ist aus diesen christlichen Anfängen herausgewachsen. Es geht seinen Weg allein weiter. Gott - brauchen wir den wirklich noch?

Unsere Antwort aus dem Glauben heraus kann doch nur sein: Es sieht manchmal tatsächlich so aus, als ob Europa Gott weder will noch braucht. Wenn man allerdings an den Anfang in Mazedonien zurückdenkt, sieht man, daß es damals im Grunde nicht wesentlich anders war. Zu unserem großen Glück hat Gott danach nicht gefragt. Er hat die Missionare in Bewegung gesetzt. Er hat den Anfang gemacht. Und er wird schließlich auch das Ende heraufführen, den Tag, an dem seine Liebe für alle sichtbar sein wird und siegt.

Für uns aber heißt das: Achten wir nicht zu sehr auf das, was Menschen wollen oder nicht wollen. Achten wir vielmehr auf das, was Er will oder nicht will. Das gibt innere Freiheit, Gelassenheit, Geborgenheit, Zuversicht, Hoffnung; genau das, was wir als Kinder Gottes brauchen - und jeden Tag haben dürfen.

Amen.

Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Brandström-Str. 21
55124 Mainz
Tel.: 06131-690488
Fax: 06131-686319


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