Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit), 27. Januar 2002
Predigt über Römer 9,14-24, verfaßt von Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde!

Die Bibel enthält zahlreiche Abschnitte, die uns nur quer heruntergehen - wenn überhaupt. Sie sind ungenießbar, unverdaulich und rundherum eine Zumutung. Daß sie nun einmal in der Bibel stehen, das - nun ja, das ist eben so, und man muß es in Kauf nehmen. Aber seit alters hat das Theologie und Kirche geniert, und man hat große Bögen um diese Abschnitte gemacht und hätte sie wohl gerne totgeschwiegen.

Einer dieser unverdaulichen und unzumutbaren Abschnitte ist unser Predigttext. Und da lassen Sie uns alsgleich sehen und feststellen - das ist hier das Erste:
Unser Gott ist eine Zumutung und mutet uns immer wieder Unerträgliches zu.

Darum ist es das Dümmste und völlig sinnlos, wenn wir hier ausweichen oder versuchen, es irgendwie schmackhaft zu machen oder - "Ist doch gar nicht so schlimm!" - zu verniedlichen. Denn es ist nun einmal "schlimm"; und es wäre Mogelei, wenn wir dem nicht standhielten. Dabei -
Wir wissen und kennen aus dem menschlichen Zusammenleben: Wo ein Mensch Profil hat und Charakter, da hat er auch herausfordernde Seiten, hat er Ecken und Kanten und hat - gerade auch für Nahestehende - kaum zu ertragende Züge, derentwegen man sich für ihn zuweilen geniert, schämt... Man streiche das von ihm, mache ihn rund und eckenlos, und er hat keine Kontur mehr und eignet sich allenfalls zu einem Apparatschik, den man durch jedes Schlüsselloch fädeln kann.
Der Gott, der die Welt erschuf und sie erlöst, zu dem wir beten und der uns den Weg weist: Er ist kein Apparatschik, der stets paßt und der jedermanns Darling ist. O nein! Wäre er das, so gäbe es weder Israel noch eine Christenheit, und dann wäre es nur peinlich, wenn man sich auf ihn beriefe. Aber er ist es, den alle Mächte des Himmels und, sofern sie Verstand und Einsicht haben, auch die Mächte der Erde demütig anbeten. Er ist uns unbequem, Herausforderung, Ärgernis. Und wer ihn bekennt oder sich zu ihm bekennt, wird dadurch ebenfalls unbequem, Herausforderung und Ärgernis. Natürlich, wir können uns dem entziehen. Aber darüber verlieren wir die Konturen und hören auf, erkennbar zu sein - für andere wie für uns selbst. Und das, das wäre dann gerade das, was wir eigentlich vermeiden wollen: eine Zumutung!
Also: Gott ist eine Zumutung und mutet uns immer wieder Unerträgliches zu. Gerade so erweist er sich als der, der sich nicht nach uns richtet, sondern der von uns erwartet, daß wir uns nach ihm richten. Der nicht unser oder der Menschen Beifall und Wohlgefallen sucht, aber auf dessen Beifall und Wohlgefallen wir bitter angewiesen sind. Der nicht das plant und sich zu dem bequemt, was uns als gut oder passend erscheint, sondern der uns Verstand und Einsicht dazu gab, daß wir tun und lassen, was ihm gut oder passend erscheint.
So herum.

In diesem unserem Text nun wird uns zugemutet: Gott erbarmt sich, wessen er will, und verstockt, wen er will. Immanuel Kant, der große Philosoph, bezeichnete das als den "salto mortale der menschlichen Vernunft", aber es ist noch viel mehr und viel viel abgründiger! Damit ist nämlich nicht weniger gesagt als dies: Gott handelt mit uns und an uns in völliger, in uneingeschränkter Freiheit. Er gibt dafür weder Rechenschaft, noch sind uns seine Entscheidungen nachvollziehbar. Er handelt so, und folglich ist es so - Punkt! Das also ist hier das Zweite:

Unser Heil und Geschick hängt ab ausschließlich von Gottes Entscheidung.
Ich darf einmal persönlich werden: Hierüber habe ich nun buchstäblich jahrzehntelang nachgedacht, mich bei anderen informiert und Gespräche geführt, viele Bücher gelesen und selber einige geschrieben. Zu Beginn dieses Nachdenkens - ich ging da noch zur Schule - war mir das einerseits unerträgliche Last: denn wie, wenn Gott in seiner Ewigkeit entschiede, daß ich nicht...? Und da war es mir andererseits eine Art intellektuelle Denksportaufgabe: Wie kann man Gottes Allmacht, seine Liebe und eben dieses freie Erwählen und Verstocken so miteinander verbinden, daß kein Rest bleibt? Nach fünfzig Jahren kann ich durchaus verstehen, warum ich damals so dachte, und bin so weit zu meinen, daß man vielleicht irgendwann so auch denken muß. Nur - ich bin kein Schüler mehr; ich habe die kurzen Hosen ausgezogen und im Leben wie im Glauben meine Erfahrungen erworben. So bin ich denn heute so weit, daß ich mich hierüber entspanne und gleichsam hier hineinfallen lasse: Ja, Gott sei Dank, hängt unser Heil und Geschick allein und ausschließlich ab von Gottes Entscheidung!
Ich habe die Menschen gesehen, die gegen diesen bloßen Gedanken bereits mit Leidenschaft Sturm liefen - und habe beobachten können oder vielmehr: mit ansehen müssen, wie sie vor ihren wissenschaftlichen oder politischen oder Familienautoritäten einknickten und in Gedanken strammstanden, wenn es heißt: "Es ist wissenschaftlich erwiesen..." oder "XY hat gesagt..." Ich habe Menschen erlebt, deren Stolz und Unabhängigkeit sich hiergegen auflehnte und die sich darum im Ringen um ihre Eigenständigkeit verzehrten, bis daß ein Geschick sie irgendwohin schleuderte, wohin sie nicht wollten, so daß sie rudern mußten, um Hilfe zu finden und überhaupt zu überleben, oder die darüber resignierten - doch Eigenständigkeit? Am Ende waren sie froh, daß es weiterging, wenn sie nicht zu Zynikern wurden und mit verstohlenem oder offenem Grinsen eingestanden oder verkündigten: Für mich zählt nur das, was ich sehen und anfassen kann. Komischerweise stellt sich regelmäßig heraus, daß sich das fast in jedem Fall in Zahlen und einer Währung ausdrücken läßt... Worauf ich hinaus will: Mir steht das ganze Panorama lebendig vor Augen, das weite Panorama der Menschen und der Versuche, diesem ärgerlichen Sachverhalt zu entgehen, daß unser Heil und Geschick allein abhängt von Gottes Entscheiden. Mir steht es vor Augen: Ein Panorama des Krampfes und der Hoffnungslosigkeit. Ein Panorama, das Mitleid erregt...
Nehmen wir's an einer Stelle, wo wir weithin immer noch betroffen und ratlos sind: beim 11. September 2001. Nein, niemand von uns weiß, inwieweit Gott hier die Hand im Spiel hatte und warum und mit welchem Ziel. Was wir wissen, das ist einerseits, daß nichts hinter seinem Rücken geschieht, daß andererseits seine entsetzlichste Strafe die ist, daß er uns uns selbst überläßt, uns unserer Weisheit und Willkür, unseren Zielen und Zwecken, unserer Macht und Gewalt anheimgibt, ohne doch damit abzudanken. Nochmals: Niemand von uns kann jenes Geschehen gültig deuten. Aber nachdem Heil und Geschick allein und ausschließlich bei Gott liegen, da wissen wir jedenfalls dies: Wir sind in Heil und Geschick somit nicht abhängig von bin Laden oder George W. Bush, nicht von staatlicher Hysterie und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit, nicht von Waffentechnik und Dichte des Spitzelnetzes. Sondern wir wissen und singen: "Daß unsre Lippen wir noch brauchen können und Händ' und Füße, Zung' und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen" und: "Daß Feuersflammen uns nicht allzusammen mit unsern Häusern unversehns gefressen, das macht, daß wir in seinem Schoß gesessen". Das, das ist der Rahmen unseres Tuns und Lassens, unseres Handelns und Ruhens, unserer Zuversicht und Befürchtungen. Denn was an und mit uns geschieht und wird, was bei unserem Bemühen und unserer Umsicht herauskommt, was unser Rackern und Streben erbringt: Bei Gott liegt es, bei Gott allein.
Und bei Gott liegt es gut.

Liegt es erkennbar und bekanntermaßen gut. Ja, erkennbar und bekanntermaßen. Denn Gott ist kein Geheimdienstchef, sondern er hat öffentlich gemacht, worum es ihm geht: Er wurde Mensch, ging für uns ans Kreuz, überwand den Tod und ruft seither Menschen zu Heil und Rettung. Damit sind wir beim Dritten:

Es geht nicht um Gottes Handeln im allgemeinen, sondern an uns.
Darf ich noch einmal persönlich werden? Unser Text hat es ja wahrhaft in sich! Aber im Laufe der Jahrzehnte habe ich ihn neu lesen gelernt: als die ernste Antwort auf eine unernste, weil theoretische Frage an einer Stelle, wo alle Theorie bloße Kinderei ist. Ich weiß wohl, das ist hart und unwirsch gesprochen; aber ich bleibe dabei und nenne hier nur diesen einen der zahlreichen Gründe dafür, daß hier jedes Theoretisieren das, worum es geht, auch gedanklich gar nicht erreicht - und ich weiß, was ich da sage, denn ich habe mir die gelehrte Literatur angeschaut. Lassen Sie mich diesen Grund in der Gestalt eines Witzes aussprechen: Ein Holzhaus brennt; alles rennet, rettet, flüchtet, nur der Besitzer steht da und schaut seelenruhig zu. Darauf angesprochen, energisch, dringlich, aufrüttelnd, antwortet er lächelnd: "Was soll die ganze Aufregung? Das Haus ist sowieso nicht mehr zu retten. Im übrigen hab' ich oben auf dem Boden genügend Bretter und Balken liegen, um zwei neue Häuser zu bauen!"
Darum also unernst, unangemessen und kindisch, weil es unmittelbar um uns selber geht; alle Theorie aber tut so, als hätten wir sozusagen einen Raum in der Hinterhand, der hiervon unberührt bleibt. Wenn ich etwa heirate oder sterben muß, dann ist es völlig unerheblich und im Augenblick einfach kein Thema, wie es anderen dabei ergangen ist, ob es hierüber eine Theorie gibt oder warum gerade jene beiden sich fanden oder dieser Mensch davon mußte. Und wenn ich mich dann gar dabei theoretisierend aufhielte und ernsthaft meinte, davon hänge für mich jetzt etwas ab, dann würde ich vermutlich nicht einmal mehr Mitleid ernten.
Ob Herr X oder Frau Y vorzeitig, zu unrecht oder etwa qualvoll sterben mußte, ist für mich dann völlig unerheblich, wenn ich selber auf den Tod liege; denn da bin ich unvertretbar und hilft mir keine Theorie. Verstehen wir? Das, was uns so wichtig ist: Ich bin ich selbst, gerade das gilt vor und gegenüber Gott. Und also nützt mir vor ihm keine Theorie und ist das Geschick eines anderen Menschen nicht von Belang, sondern allein dies: Ob ich weiß, daß ich vor Gott stehe, und ob ich weiß, daß ich in seiner Hand bin und daraus die Konsequenzen ziehe. Da also gilt:
Habe ich, haben wir begriffen, daß Gott uns ebenso gut zu Gefäßen der Unehre hätte erschaffen können? Daß es keinen Anspruch und kein Recht darauf gibt, daß er mich errette? Daß er sein Heil und die Führung meines Weges mir nicht schuldig ist, sondern mich auch mir selbst überlassen könnte? Es ist noch nicht lange her, da war Weihnachten, und wir sangen: "Welt ging verloren..." und: "...wir waren all' verdorben durch Sünd' und Eitelkeit..." - nein, das sind wahrlich keine bloßen Worte! Das ist unsere Wirklichkeit, unsere Lage, wenn nicht Gott selbst Mensch geworden und zu uns gekommen wäre, uns zu sich gerufen und als seine Kinder angenommen hätte! Was soll da das Räsonnieren über Gottes Möglichkeiten und über die Bestimmung anderer, mit denen wir uns theoretisch absichern oder Gottes Entscheiden einleuchtend machen wollen? Zunächst einmal - und dazu will unser Text uns führen - geht es darum, daß wir begreifen: In und aus Verlorenheit und Verderbnis sind wir in der Hand Gottes kraft seiner freien Entscheidung, in der er uns angesehen und angenommen hat.
Es gibt viele bin Ladens und Gegenspieler. Es gibt viele Gefahren und viel mögliches Unheil von unausdenklichen Dimensionen; immerhin war z.B. das Anthrax-Bakterium ein Export-Artikel... Wir sind wie in einer Nußschale auf dem weiten Ozean. Da haben wir Grund zu Angst und Sorge und Beklommenheit und unruhigem Schlaf. Nur: Was keine Theorie plausibel machen kann und keine Vernunft zu begründen und einzusehen vermag, das ist Fakt: Kraft der freien Entscheidung Gottes sind wir in dieser Nußschale in seiner Hand und können uns beruhigt entspannen. Daß das gilt und real ist, dafür steht der Gekreuzigte und Auferstandene.
Amen

Liedvorschläge: vor der Predigt: EG 108,1f
nach der Predigt: EG 75

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net

 


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