Liebe Gemeinde!
Die Bibel enthält zahlreiche Abschnitte, die uns nur quer heruntergehen
- wenn überhaupt. Sie sind ungenießbar, unverdaulich und rundherum
eine Zumutung. Daß sie nun einmal in der Bibel stehen, das - nun
ja, das ist eben so, und man muß es in Kauf nehmen. Aber seit alters
hat das Theologie und Kirche geniert, und man hat große Bögen
um diese Abschnitte gemacht und hätte sie wohl gerne totgeschwiegen.
Einer dieser unverdaulichen und unzumutbaren Abschnitte ist unser Predigttext.
Und da lassen Sie uns alsgleich sehen und feststellen - das ist hier das
Erste:
Unser Gott ist eine Zumutung und mutet uns immer wieder Unerträgliches
zu.
Darum ist es das Dümmste und völlig sinnlos, wenn wir hier
ausweichen oder versuchen, es irgendwie schmackhaft zu machen oder - "Ist
doch gar nicht so schlimm!" - zu verniedlichen. Denn es ist nun einmal
"schlimm"; und es wäre Mogelei, wenn wir dem nicht standhielten.
Dabei -
Wir wissen und kennen aus dem menschlichen Zusammenleben: Wo ein Mensch
Profil hat und Charakter, da hat er auch herausfordernde Seiten, hat er
Ecken und Kanten und hat - gerade auch für Nahestehende - kaum zu
ertragende Züge, derentwegen man sich für ihn zuweilen geniert,
schämt... Man streiche das von ihm, mache ihn rund und eckenlos,
und er hat keine Kontur mehr und eignet sich allenfalls zu einem Apparatschik,
den man durch jedes Schlüsselloch fädeln kann.
Der Gott, der die Welt erschuf und sie erlöst, zu dem wir beten und
der uns den Weg weist: Er ist kein Apparatschik, der stets paßt
und der jedermanns Darling ist. O nein! Wäre er das, so gäbe
es weder Israel noch eine Christenheit, und dann wäre es nur peinlich,
wenn man sich auf ihn beriefe. Aber er ist es, den alle Mächte des
Himmels und, sofern sie Verstand und Einsicht haben, auch die Mächte
der Erde demütig anbeten. Er ist uns unbequem, Herausforderung, Ärgernis.
Und wer ihn bekennt oder sich zu ihm bekennt, wird dadurch ebenfalls unbequem,
Herausforderung und Ärgernis. Natürlich, wir können uns
dem entziehen. Aber darüber verlieren wir die Konturen und hören
auf, erkennbar zu sein - für andere wie für uns selbst. Und
das, das wäre dann gerade das, was wir eigentlich vermeiden wollen:
eine Zumutung!
Also: Gott ist eine Zumutung und mutet uns immer wieder Unerträgliches
zu. Gerade so erweist er sich als der, der sich nicht nach uns richtet,
sondern der von uns erwartet, daß wir uns nach ihm richten. Der
nicht unser oder der Menschen Beifall und Wohlgefallen sucht, aber auf
dessen Beifall und Wohlgefallen wir bitter angewiesen sind. Der nicht
das plant und sich zu dem bequemt, was uns als gut oder passend erscheint,
sondern der uns Verstand und Einsicht dazu gab, daß wir tun und
lassen, was ihm gut oder passend erscheint.
So herum.
In diesem unserem Text nun wird uns zugemutet: Gott erbarmt sich, wessen
er will, und verstockt, wen er will. Immanuel Kant, der große Philosoph,
bezeichnete das als den "salto mortale der menschlichen Vernunft",
aber es ist noch viel mehr und viel viel abgründiger! Damit ist nämlich
nicht weniger gesagt als dies: Gott handelt mit uns und an uns in völliger,
in uneingeschränkter Freiheit. Er gibt dafür weder Rechenschaft,
noch sind uns seine Entscheidungen nachvollziehbar. Er handelt so, und
folglich ist es so - Punkt! Das also ist hier das Zweite:
Unser Heil und Geschick hängt ab ausschließlich von Gottes
Entscheidung.
Ich darf einmal persönlich werden: Hierüber habe ich nun buchstäblich
jahrzehntelang nachgedacht, mich bei anderen informiert und Gespräche
geführt, viele Bücher gelesen und selber einige geschrieben.
Zu Beginn dieses Nachdenkens - ich ging da noch zur Schule - war mir das
einerseits unerträgliche Last: denn wie, wenn Gott in seiner Ewigkeit
entschiede, daß ich nicht...? Und da war es mir andererseits eine
Art intellektuelle Denksportaufgabe: Wie kann man Gottes Allmacht, seine
Liebe und eben dieses freie Erwählen und Verstocken so miteinander
verbinden, daß kein Rest bleibt? Nach fünfzig Jahren kann ich
durchaus verstehen, warum ich damals so dachte, und bin so weit zu meinen,
daß man vielleicht irgendwann so auch denken muß. Nur - ich
bin kein Schüler mehr; ich habe die kurzen Hosen ausgezogen und im
Leben wie im Glauben meine Erfahrungen erworben. So bin ich denn heute
so weit, daß ich mich hierüber entspanne und gleichsam hier
hineinfallen lasse: Ja, Gott sei Dank, hängt unser Heil und Geschick
allein und ausschließlich ab von Gottes Entscheidung!
Ich habe die Menschen gesehen, die gegen diesen bloßen Gedanken
bereits mit Leidenschaft Sturm liefen - und habe beobachten können
oder vielmehr: mit ansehen müssen, wie sie vor ihren wissenschaftlichen
oder politischen oder Familienautoritäten einknickten und in Gedanken
strammstanden, wenn es heißt: "Es ist wissenschaftlich erwiesen..."
oder "XY hat gesagt..." Ich habe Menschen erlebt, deren Stolz
und Unabhängigkeit sich hiergegen auflehnte und die sich darum im
Ringen um ihre Eigenständigkeit verzehrten, bis daß ein Geschick
sie irgendwohin schleuderte, wohin sie nicht wollten, so daß sie
rudern mußten, um Hilfe zu finden und überhaupt zu überleben,
oder die darüber resignierten - doch Eigenständigkeit? Am Ende
waren sie froh, daß es weiterging, wenn sie nicht zu Zynikern wurden
und mit verstohlenem oder offenem Grinsen eingestanden oder verkündigten:
Für mich zählt nur das, was ich sehen und anfassen kann. Komischerweise
stellt sich regelmäßig heraus, daß sich das fast in jedem
Fall in Zahlen und einer Währung ausdrücken läßt...
Worauf ich hinaus will: Mir steht das ganze Panorama lebendig vor Augen,
das weite Panorama der Menschen und der Versuche, diesem ärgerlichen
Sachverhalt zu entgehen, daß unser Heil und Geschick allein abhängt
von Gottes Entscheiden. Mir steht es vor Augen: Ein Panorama des Krampfes
und der Hoffnungslosigkeit. Ein Panorama, das Mitleid erregt...
Nehmen wir's an einer Stelle, wo wir weithin immer noch betroffen und
ratlos sind: beim 11. September 2001. Nein, niemand von uns weiß,
inwieweit Gott hier die Hand im Spiel hatte und warum und mit welchem
Ziel. Was wir wissen, das ist einerseits, daß nichts hinter seinem
Rücken geschieht, daß andererseits seine entsetzlichste Strafe
die ist, daß er uns uns selbst überläßt, uns unserer
Weisheit und Willkür, unseren Zielen und Zwecken, unserer Macht und
Gewalt anheimgibt, ohne doch damit abzudanken. Nochmals: Niemand von uns
kann jenes Geschehen gültig deuten. Aber nachdem Heil und Geschick
allein und ausschließlich bei Gott liegen, da wissen wir jedenfalls
dies: Wir sind in Heil und Geschick somit nicht abhängig von bin
Laden oder George W. Bush, nicht von staatlicher Hysterie und gesellschaftlicher
Gleichgültigkeit, nicht von Waffentechnik und Dichte des Spitzelnetzes.
Sondern wir wissen und singen: "Daß unsre Lippen wir noch brauchen
können und Händ' und Füße, Zung' und Lippen regen,
das haben wir zu danken seinem Segen" und: "Daß Feuersflammen
uns nicht allzusammen mit unsern Häusern unversehns gefressen, das
macht, daß wir in seinem Schoß gesessen". Das, das ist
der Rahmen unseres Tuns und Lassens, unseres Handelns und Ruhens, unserer
Zuversicht und Befürchtungen. Denn was an und mit uns geschieht und
wird, was bei unserem Bemühen und unserer Umsicht herauskommt, was
unser Rackern und Streben erbringt: Bei Gott liegt es, bei Gott allein.
Und bei Gott liegt es gut.
Liegt es erkennbar und bekanntermaßen gut. Ja, erkennbar und bekanntermaßen.
Denn Gott ist kein Geheimdienstchef, sondern er hat öffentlich gemacht,
worum es ihm geht: Er wurde Mensch, ging für uns ans Kreuz, überwand
den Tod und ruft seither Menschen zu Heil und Rettung. Damit sind wir
beim Dritten:
Es geht nicht um Gottes Handeln im allgemeinen, sondern an uns.
Darf ich noch einmal persönlich werden? Unser Text hat es ja wahrhaft
in sich! Aber im Laufe der Jahrzehnte habe ich ihn neu lesen gelernt:
als die ernste Antwort auf eine unernste, weil theoretische Frage an einer
Stelle, wo alle Theorie bloße Kinderei ist. Ich weiß wohl,
das ist hart und unwirsch gesprochen; aber ich bleibe dabei und nenne
hier nur diesen einen der zahlreichen Gründe dafür, daß
hier jedes Theoretisieren das, worum es geht, auch gedanklich gar nicht
erreicht - und ich weiß, was ich da sage, denn ich habe mir die
gelehrte Literatur angeschaut. Lassen Sie mich diesen Grund in der Gestalt
eines Witzes aussprechen: Ein Holzhaus brennt; alles rennet, rettet, flüchtet,
nur der Besitzer steht da und schaut seelenruhig zu. Darauf angesprochen,
energisch, dringlich, aufrüttelnd, antwortet er lächelnd: "Was
soll die ganze Aufregung? Das Haus ist sowieso nicht mehr zu retten. Im
übrigen hab' ich oben auf dem Boden genügend Bretter und Balken
liegen, um zwei neue Häuser zu bauen!"
Darum also unernst, unangemessen und kindisch, weil es unmittelbar um
uns selber geht; alle Theorie aber tut so, als hätten wir sozusagen
einen Raum in der Hinterhand, der hiervon unberührt bleibt. Wenn
ich etwa heirate oder sterben muß, dann ist es völlig unerheblich
und im Augenblick einfach kein Thema, wie es anderen dabei ergangen ist,
ob es hierüber eine Theorie gibt oder warum gerade jene beiden sich
fanden oder dieser Mensch davon mußte. Und wenn ich mich dann gar
dabei theoretisierend aufhielte und ernsthaft meinte, davon hänge
für mich jetzt etwas ab, dann würde ich vermutlich nicht einmal
mehr Mitleid ernten.
Ob Herr X oder Frau Y vorzeitig, zu unrecht oder etwa qualvoll sterben
mußte, ist für mich dann völlig unerheblich, wenn ich
selber auf den Tod liege; denn da bin ich unvertretbar und hilft mir keine
Theorie. Verstehen wir? Das, was uns so wichtig ist: Ich bin ich selbst,
gerade das gilt vor und gegenüber Gott. Und also nützt mir vor
ihm keine Theorie und ist das Geschick eines anderen Menschen nicht von
Belang, sondern allein dies: Ob ich weiß, daß ich vor Gott
stehe, und ob ich weiß, daß ich in seiner Hand bin und daraus
die Konsequenzen ziehe. Da also gilt:
Habe ich, haben wir begriffen, daß Gott uns ebenso gut zu Gefäßen
der Unehre hätte erschaffen können? Daß es keinen Anspruch
und kein Recht darauf gibt, daß er mich errette? Daß er sein
Heil und die Führung meines Weges mir nicht schuldig ist, sondern
mich auch mir selbst überlassen könnte? Es ist noch nicht lange
her, da war Weihnachten, und wir sangen: "Welt ging verloren..."
und: "...wir waren all' verdorben durch Sünd' und Eitelkeit..."
- nein, das sind wahrlich keine bloßen Worte! Das ist unsere Wirklichkeit,
unsere Lage, wenn nicht Gott selbst Mensch geworden und zu uns gekommen
wäre, uns zu sich gerufen und als seine Kinder angenommen hätte!
Was soll da das Räsonnieren über Gottes Möglichkeiten und
über die Bestimmung anderer, mit denen wir uns theoretisch absichern
oder Gottes Entscheiden einleuchtend machen wollen? Zunächst einmal
- und dazu will unser Text uns führen - geht es darum, daß
wir begreifen: In und aus Verlorenheit und Verderbnis sind wir in der
Hand Gottes kraft seiner freien Entscheidung, in der er uns angesehen
und angenommen hat.
Es gibt viele bin Ladens und Gegenspieler. Es gibt viele Gefahren und
viel mögliches Unheil von unausdenklichen Dimensionen; immerhin war
z.B. das Anthrax-Bakterium ein Export-Artikel... Wir sind wie in einer
Nußschale auf dem weiten Ozean. Da haben wir Grund zu Angst und
Sorge und Beklommenheit und unruhigem Schlaf. Nur: Was keine Theorie plausibel
machen kann und keine Vernunft zu begründen und einzusehen vermag,
das ist Fakt: Kraft der freien Entscheidung Gottes sind wir in dieser
Nußschale in seiner Hand und können uns beruhigt entspannen.
Daß das gilt und real ist, dafür steht der Gekreuzigte und
Auferstandene.
Amen
Liedvorschläge: vor der Predigt: EG 108,1f
nach der Predigt: EG 75
Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net
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