Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Neujahr, 1. Januar 2002
Predigt über Philipper 4, 10-13, verfaßt von Wilhelm Hüffmeier

Liebe Gemeinde,

Jahresanfänge sind sogenannte Schwellensituationen. Zu den guten Wünschen, die andere uns beim Übertreten einer Schwelle mitgeben, gehören immer wieder zwei Worte: Viel Glück oder viel Kraft! Woher diese Kraft aber kommt, bleibt meist offen. Ist es der Wunsch selber, der mir auch die Kraft schenkt? Oder soll der Wunsch, mein eigenes Kräftereservoir mobilisieren? Oder macht mich die Erinnerung an den, der diesen Wunsch ausgesprochen hat, stark? So wie es Theodor Storm in einem Vers - auf seine Frau - besungen hat:

"Und geht es in die Welt hinaus, / wo du mir bist, bin ich zu Haus. /
Ich seh dein liebes Angesicht, / ich sehe die Schatten der Zukunft nicht."?

Auf jeden Fall ist der Wunsch "Viel Glück" oder "Viel Kraft" Ausdruck von Teilnahme. Teilnahme hat etwas Stärkendes. Und wenn mich dann der oder die andere umarmt, um diese Teilnahme durch eine Geste zum Ausdruck zu bringen, dann geschieht so etwas wie Kraftübertragung.

Worte, Wünsche, Gesten beim Überqueren der Schwelle in das neue Jahr - sie alle wollen nur eins, Lebenskraft zuwenden und Lebensmut zusprechen.

In dem Predigttext für den heutigen Neujahrstag geht es auch um Kraft, um Kraft zum Leben. Und das kommt in einem ungeheuren, ja verwegenen Bekenntnis des Paulus zum Ausdruck. Paulus sagt: "Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht". Aber der Apostel lässt nicht offen, nein, er fügt gleich hinzu, woher er diese Kraft hat. Dafür steht ein Name, eine Person: Christus, der Träger von Gottes Kraft.

So spricht Paulus. Und er sagt noch dazu, wie sich diese Kraft, die er von Christus empfängt, in seinem Leben auswirkt: "Ich kann mir genügen lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden". Erst mit diesen Sätzen wird die ganze Verwegenheit seines Bekenntnisses deutlich.

Ein Christ, so könnte man folgern, ist eine Art Virtuose verschiedenster Lebenslagen und -situationen. Er kann das, weil er über ihnen steht. Er hat ihnen gegenüber eine gewaltige Freiheit. Die Freiheit der Wahl und des Sichfügens in bestimmte Situationen. Luthers berühmte Sätze, dass ein Christenmensch ein freier Herr über alle Dinge und zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge ist, haben auch hier einen Anknüpfungspunkt gehabt. Im Apostel lebt etwas von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, auf deren Offenbarung die ganze Kreatur wartet.

Da mag aber vielleicht jemand aufstehen und einwänden: "Ja, das höre ich mit Bewunderung, wie Paulus so kühn und strahlend sagen kann: ‚Ich kann alles, weil Christus mir Kraft gibt in jeder und für jede Lebenslage'". Der Fragende mag dann hinzufügen: "Lieber Paulus, mir ist es leider nicht so gegangen. Mich hat Christus oft enttäuscht, er hat mich auf langen Strecken sitzen lassen. Ich habe zu ihm gerufen und gebetet und mir hat er keine Kraft gegeben."

Wie würde Paulus wohl darauf antworten? Ich denke etwa so: "Auch mir ist die Kraft, die Christus gibt, nicht per Druckknopf zugeflossen. Er hat mich oft und lange genug mehr meine Schwachheit spüren lassen als seine Kraft." Und Paulus würde wohl fortfahren: "Mein Bekenntnis habe ich nicht geschrieben, um andere zu beschämen oder gar klein zu machen. Ich bin kein Hagestolz. Ich schreibe doch zunächst von meiner Freude, und die Freude gilt nicht mir selber, zunächst auch nicht einmal Jesus Christus, sondern der Gemeinde in Philippi. Meine Freude entspringt der Dankbarkeit für erwiesene Solidarität. Die Leute aus Philippi hatten mir durch Epaphroditus einige Gaben ins Gefängnis bringen lassen. Sie wollten damit zeigen, dass sie sich um mich sorgen, und diese Teilnahme sollte mir Kraft verleihen im Gefängnis. Nun schreibe ich ihnen, damit sie sich nicht zu viel Sorgen machen. Ihre Teilnahme ist zwar sehr wichtig für mich. Die Christen in Philippi müssen aber wissen, dass ich mich inzwischen in den unterschiedlichsten Lebenslagen auskenne und ihnen auch gewachsen bin. Das aber verdanke ich einer anderen Beziehung. Das verdanke ich dem Herrn, der für uns Knecht wurde, dem König, der unser aller Diener ist. Das verdanke ich der Freiheit Jesu Christi." So würde Paulus wohl antworten.

Für sich genommen sind das Hochsein und das Niedrigsein, das Sattsein und das Hungern, das Überflusshaben und das Mangelleiden nicht Quellen der Befreiung, sondern der Bedrohungen des Lebens. Nicht nur der Hunger ist lebensgefährlich. Genau so sehr ist es das Überflusshaben. Häufig genug ist die Kraft, die von Christus ausgeht, dort verschlossen, wo Hochmut, Überfluss und Sattheit herrschen. Diese unheilige Allianz bildet geradezu eine eiserne Mauer gegenüber Christus. Deshalb atmet die Welt auf, wo es Menschen gibt, die mit allem und jedem vertraut sind. Sie bürgen für eine solidarische Welt.

Genau das kennzeichnet aber den Christen: Er ist vertraut mit allem und jedem, er ist bewährt in verschiedensten Lebenssituationen. Das ist übrigens auch der Grund, warum Christen so sozial gesonnen sind. Ihnen sind alle Lebenslagen vertraut. Sie weinen mit den Weinenden, sie freuen sich mit den Fröhlichen, sie sehnen sich mit den Hungernden nach Gerechtigkeit.

Bewährt in verschiedenen Lebenslagen wird man aber nicht von einem Tag auf den anderen. Deshalb sagt Paulus auch: "Ich habe gelernt". Christen sind eternal learners. In ihrer Schule wirken viele Lehrer und Lehrerinnen, Propheten, Apostel, gegenwärtige Brüder und Schwestern. Vor allem aber ist das Leben selbst ein großer Schulmeister. Von Paulus wissen wir, dass er mehrere Male verhaftet und in Gefängnisse geworfen wurde ohne jede Gerichtsverhandlung, gefoltert, ausgeplündert, wir wissen, dass er Schiffbruch erlitten hat, beinahe verhungert und verdurstet wäre. Deshalb sein Bekenntnis: "Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht." Ein ähnliches Bekenntnis haben die Shelter-Now-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Afghanistan ausgesprochen - vor, während und nach ihrer Gefangensetzung.

Entscheidend aber waren für das Leben des Paulus zwei Dinge: die Gemeinden, die er gegründet hatte und die er gründen wollte. Der Apostel hatte eine klare Herkunft und ein klares Ziel. Die waren ihm Kraftquellen. Aber es stimmt: "Viel mehr als Ziele braucht man vor sich, um leben zu können, ein Gesicht" (E. Canetti). Ein Gesicht? Paulus kannte viele Gesichter, aber sie waren ihm Widerschein des einen Gesichtes Jesu Christi, der ihm Lebenskraft gab zu allem und jedem. Christus ist die Kraft hinter und in den Gemeinden. Für ihn hätte Paulus das Lied singen können, das Theodor Storm seiner Frau dichtete:

Und geht es in die Welt hinaus, / wo du mir bist, bin ich zu Haus. /
Ich seh dein liebes Angesicht, / ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.

Lasst es uns dem Paulus nachsprechen und so ins neue Jahr gehen als zuversichtliche "Virtuosen" unterschiedlicher Lebenslagen. So bezeugen wir die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. So werden wir auch dafür sorgen, dass Hungernde nicht ohne Brot bleiben und dass die im Überfluss Lebenden nicht den Kontakt zu denen im Mangel verlieren. Christen sind mit allem und jedem vertraut. Das kommt vielen, sehr vielen Menschen zugute.

Amen!

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Berlin
Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union
Leiter des Sekretariats der Leuenberger Kirchengemeinschaft
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