Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Altjahresabend, 31. Dezember 2001
Predigt über Hebräer 13,8-9b, verfaßt von Luise Stribrny de Estrada

Vorbemerkungen:
Beim Schreiben der Predigt bin ich davon ausgegangen, dass der Predigttext schon vorher als Epistellesung vorgekommen ist. Das Wochenlied EG 64 "Der du die Zeit in Händen hast", mit dem ich die Predigt beende, sollte auf jeden Fall im Gottesdienst vorkommen. Ich habe mich dafür entschieden, auf eine Zuspitzung für die Gemeinde und auf einzelne ihrer Mitglieder zu verzichten, damit die Predigt leichter in andere Gemeindesituationen übertragbar ist. Die persönlichen Anliegen und Probleme einzelner gehören für mich in die Fürbitte, die an diesem Abend eine besondere Rolle spielt.
Das Thema dieses Kasual-Gottesdienstes aus Anlass des Übergangs in ein neues Jahr ist die Zeit in all ihren Facetten: Vergänglichkeit, Gleichbleibendes, Ewigkeit. Dass Gott bzw. Jesus Christus sich als einziger immer gleich bleibt, wie es Hebr. 13,8 bezeugt, ist für mich nicht uneingeschränkt positiv, da es ihn von uns der Zeitlichkeit unterworfenen Menschen entfernt. Tröstlich bleibt aber seine gnädige Zuwendung.

Liebe Schwestern und Brüder!

Heute ist Zeit, um zurückzuschauen. Zugleich Zeit, um das Neue schon in den Blick zu nehmen. Am Silvesterabend probieren wir Rückblick und Ausblick, und damit auch in diesen Gottesdienst. Was war im schon fast vergangenen Jahr wichtig, was werden wir in Erinnerung behalten? Was hat uns im politisch-gesellschaftlichen Bereich, was hat uns als Kirchengemeinde und was uns als einzelne, im Privaten bewegt? Jede und jeder von uns hat seine eigenen Eindrücke und Erfahrungen, die er ordnet, gewichtet und ablegt, aus denen er selbst eine Bilanz ziehen muss.

Was diesem Jahr 2001 für uns alle einen Stempel aufgedrückt hat, ist das Attentat am 11. September, das sich in die kollektive Erinnerung eingegraben hat. Viele der Tausenden, die in den Zwillingstürmen, in den Flugzeugen und bei den Rettungsarbeiten umgekommen sind, sind ohne Grab geblieben, so dass ihre Angehörigen und Freunde keinen Ort haben, an dem sie trauern können, zu dem sie hingehen können, um mit ihren Verstorbenen zu reden und von dem sie wissen, dass er ihre Reste birgt. Der Terroranschlag hat die USA in ihr Herz getroffen und die Verwundbarkeit der Supermacht offen gelegt. In Trauer und Mitleid für die Opfer mischen sich bei uns auch das Bewusstsein des Ausgesetztseins und für viele der Verlust eines Grundsicherheitsgefühls.

Die Herausforderung ist nicht unbeantwortet geblieben: Die USA haben dem internationalen Terrorismus, Osama Bin Laden und als erstem Land Afghanistan den Krieg erklärt. Die Taliban sind inzwischen geschlagen, Bin Laden aber hält sich weiterhin in den Bergen versteckt. Der Krieg hat trotz sogenannter intelligenter Bomben viele Menschen das Leben gekostet und Tausende andere zu Flüchtlingen gemacht, die jetzt in Lagern an der Grenze hausen, Hunger und Kälte ausgesetzt. Die Zukunft des verwüsteten Landes ist noch nicht absehbar. Wann wird dieser Krieg gegen den Terrorismus, der sich Gerechtigkeit auf seine Fahnen geschrieben hat, ein Ende finden?

Diese Fragen begleiten uns in das beginnende neue Jahr, zusammen mit dem, was uns im persönlichen Bereich und in unserer Gemeinde beschäftigt. Vielleicht ist es gut, dass es durch den Jahreswechsel eine Zäsur gibt und wir uns von bestimmten Erlebnissen befreien, sie als abgeschlossen betrachten können: Das ist erledigt. Auf der anderen Seite macht uns das schon wieder vergangene Jahr deutlich, dass wir im Fluss der Zeit stehen, der sich immer weiter bewegt und den wir nicht aufhalten können. Wir werden wieder ein Jahr älter - wo bleibt unsere Lebenszeit, was können wir für die uns verbleibende Lebensstrecke erhoffen, was uns vornehmen? Was haben wir überhaupt selbst in der Hand, und was kommt über uns als Unglück oder als Geschenk? Am Abend des alten Jahres fühlen wir, wie der Boden unter unseren Füssen in Bewegung gerät und gewohnte Sicherheiten nicht mehr tragen. Wir fragen uns, was hindurchträgt in das neue Jahr, worauf wir uns verlassen können.

"The same procedure as last year" ist der Schlüsselsatz in der alljährlich zu Silvester gespielten englischen Komödie "Dinner for one". Die Wiederholung, auch wenn sie lächerlich geworden ist, gibt Sicherheit in einer Situation, die von Abbruch und Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Obwohl von den Freunden und Verehrern der alten Dame inzwischen keiner mehr zu Besuch kommt und wahrscheinlich auch kaum noch einer lebt, feiert sie weiterhin mit ihnen Silvester und lässt ein hundertmal eingeübtes Schauspiel ablaufen, bei dem ihr Butler assisitiert. Im Angesicht der Leere bewahrt die Lady die Form - und lacht sich insgeheim in's Fäustchen über die Fallen, die darin für ihren alten Vertrauten versteckt liegen. - Wahrscheinlich ist diese Komödie so beliebt, weil sie uns einen Spiegel vorhält: Auch wir wünschen uns oft, dass alles "so wie immer" abläuft, weil uns das Geborgenheit gibt und uns an alte Zeiten erinnert - und dabei merken wir oft gar nicht oder zu spät, dass die Hülle leer geworden ist und das, was früher war, unwiderruflich vorbei ist. Wir klammern uns an das, was gewesen ist und hindern uns selbst daran, dem Neuen ins Auge zu sehen und darauf angemessen zu reagieren. Wir hoffen, das, was gut war, liesse sich beliebig wiederholen, aber das Leben geht unaufhaltsam weiter, und wir müssen uns ihm stellen, auch wenn das bedeutet, Abschied zu nehmen.

Gibt es in all diesem Wechsel trotzdem Kontinuitäten? Woran können wir uns festhalten angesichts der Vergänglichkeit? Im heutigen Predigttext aus dem Hebräerbrief heisst es: "Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit." Einer bleibt sich gleich und verändert sich nicht, während alles andere dem Fluge der Zeiten unterworfen ist. So wie er früher gewesen ist, erleben wir ihn auch heute und können uns darauf verlassen, dass er sich in alle Zukunft hinein gleich bleiben wird. Er ist wie ein sicherer Hafen, den wir jederzeit anlaufen können, wenn die Stürme uns umtreiben. Er ist uns Zuflucht und Sicherheit. Christus ist der ständigen Veränderung nicht unterworfen, sondern aus ihr herausgenommen, er steht jenseits von ihr.

Einerseits ist es beruhigend, sich darauf verlassen zu können. Es gibt aber auch eine andere Seite, die mich zum Widerspruch herausfordert. Ist ein Gott, der sich nie verändert, nicht zu festgelegt, zu statisch, um uns Menschen in all den Wechseln zu begleiten? Was begreift ein Gott, der sich ewig gleich bleibt, von unserem Leben, wie kann er uns nah sein? - Man muss sehr genau aufpassen, in welchem Kontext Sätze wie der von dem derselbe bleibenden Christus gesagt werden und wie sie gemeint sind, damit sie nicht zum Dogma erstarren, mit dem Menschen leicht mundtot gemacht werden können.

Im Hebräerbrief richtet dieser Vers sich an Christen und Christinnen, die von allen Seiten kommenden Anfragen an ihren Glauben standhalten müssen und selbst in Gefahr sind, das Eigentliche aus den Augen zu verlieren. Inmitten eines Nebeneinanders vieler religiöser Strömungen müssen sie aufpassen, dass sie nicht von anderen Lehren fortgerissen werden. Sie ringen um das, was im Zentrum des christlichen Glaubens steht, wie sie ihn kennengelernt haben. Der Verfasser dieses Briefes stellt ihnen Jesus Christus vor Augen, an dem sie sich ausrichten sollen: So wie ihn die Apostel beschrieben haben, so wie man sich in den Gemeinden von ihm immer wieder erzählt, so war er wirklich. Er hat sich Menschen zugewandt, die in Not waren, und ihnen dadurch, dass er sie gesund gemacht und ihnen ihre Würde wiedergegeben hat, gezeigt, dass Gott sie liebt wie eine Mutter ihre Kinder. Er war mit Gott so eng verbunden, dass er wie er, in seiner Vollmacht, handelte. Nach seinem Tod hat Gott ihn in den Himmel aufgenommen und ihm die Herrschaft über die Welt übertragen, die er bisher allein innegehabt hatte. Seine Gemeinde kann sich jetzt voller Vertrauen an ihn wenden, genauso wie die Menschen es getan haben, als er noch unter ihnen lebte. Das gilt auch für die Zukunft, solange jeder einzelne lebt und und bis an's Ende der Welt.

Der Verfasser des Hebräerbriefes weiss, dass es nicht einfach ist, sich auf den Glauben an Christus, der sich in seinem Interesse für uns Menschen gleich bleibt, einzulassen. Dazu bedarf es einer Sicherheit, die man nicht aus sich selbst erreichen kann. Er sagt das so: "Es ist gut, dass das Herz gefestigt wird, und zwar durch Gnade." Wir können das Vertrauen auf Christus nicht einfach selbst herstellen, nicht durch häufige Gebete, durch genaues Leben nach Gottes Willen und intensives Nachdenken erreichen, sondern sind auf die Gnade angewiesen, die uns im Innersten stärkt. Das macht es schwerer und leichter zugleich: Schwerer, weil wir es selbst nicht in der Hand haben, uns sozusagen die Handlungsmöglichkeiten genommen sind, und leichter, weil es nicht von unserem Verdienst abhängt, wir also auch keine Angst zu haben brauchen, dass wir bestimmte Anforderunge nicht erfüllen. Was wir tun können, ist, uns für Gottes Gnade zu öffenn, mit ihr zu rechnen, sie heineinzulassen in unser Herz, und ihr einen Raum einzuräumen. Indem wir uns Zeit nehmen für die Begegnung mit Got und uns auf die Suche nach ihm machen. Dabei können uns das Gebet und auch das Singen helfen, zum Beispiel das Singen von Jochen Kleppers Neujahrslied "Der du die Zeit in Händen hast", in dessen letzter Strophe es heisst:

"Der du allein der Ewge heisst
und Anfang, Ziel und Mitte weisst
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten." (EG 64,6)

Wie eine Variation auf den Predigttext klingt das und fasst gleichzeitig das Gefühl in Worte, das uns angesichts des Jahreswechsels überfällt: Wir erleben, dass unsere Zeit verfliegt und alles der Vergänglichkeit unterworfen ist. Der einzige, der davon ausgenommen ist, ist Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Damit wird zwar der Abstand deutlich, der Gott und uns trennt, andererseits bleibt er aber unsere Zuflucht jenseits aller Zeitlichkeit. An ihm können wir uns immer von neuem orientieren, egal, wo wir gerade stehen. Der Glaube an ihn kann uns gerade eine Basis dafür bieten, dass wir uns den Anforderungen des Neuen stellen und nicht darauf angewiesen sind, immer wieder zwanghaft das gleiche zu wiederholen. Wenn unser Leben in ihm einen Fixpunkt hat, brauchen uns die vielfältigen Veränderungen nicht zu verunsichern.

Gott geht, wie es bei Jochen Klepper heisst, an unserer Seite und hält unsere Hand. Trotz aller Fragen, die weiterhin bleiben, können wir darauf vertrauen, dass Gott uns jederzeit nahe ist. Wir kennen ihn, er hat sich nicht verändert, seitdem er in Jesus Christus Mensch geworden ist. So wie damals will er uns auch heute zu Menschen machen, die im Bewusstsein leben, dass sie Gottes geliebte Kinder sind und daraus ihre Kraft beziehen, die auf andere ausstrahlt.

Damit unser Herz in diesem Glauben gestärkt werde, bleibe er uns gnädig zugewandt.
Darum bitten wir ihn in der heutigen Nacht und für das neue Jahr.
Amen.

Luise Stribrny de Estrada,
Pastorin in der ev.-luther. Gemeinde deutscher Sprache in Mexiko.
E-Mail: marclui@prodigy.net.mx


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