Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Sonntag nach dem Christfest, 30. Dezember 2001
Predigt über Jesaja 49, 13-16, verfaßt von Jorg Christian Salzmann

I
Das Kind hatte wieder schlecht geschlafen. Es war kalt gewesen in der Nacht, und unbarmherzig war die Kälte durch die Pappunterlage gekrochen; die Decke aus Zeitungspapier hatte auch nicht gereicht. Dazu die Angst; jeden Augenblick konnten die von der anderen Straße auftauchen und eine Messerstecherei beginnen. Noch schlimmer: einem Mördertrupp in die Hände zu fallen, der die Stadt von Straßenkindern reinigen wollte. Hungrig und müde machte das Kind sich auf den Weg, das Gesicht verschlossen zu einer harten Maske.

Ein Schicksal, das wir uns nur schwer ausmalen können, und doch ist es tausendfache Realität in unserer Welt. Kinder, die ihre Eltern verloren haben, Kinder, die von ihren Eltern verstoßen wurden oder von sich aus das Leben auf der Straße dem Elend zu Hause vorzogen. Was machen wir Menschen aus unserer Welt? Trotzdem gilt immer noch das andere bei uns als normal, und wir verstehen den Satz: eine Mutter wird ihr Kind nicht im Stich lassen, niemals, wie könnte sie auch.

II
Die Israeliten waren von ihren Feinden nach dem Untergang Jerusalems in die große Stadt Babylon verschleppt und zwangsumgesiedelt worden. Ihr Schicksal mag nicht so hart gewesen sein wie das moderner Straßenkinder. Aber so kamen sie sich vor: ausgestoßen, verloren, verlassen. Da war niemand, der ihnen half. Und Gott schon gar nicht. Der Gott, der so glorreich für die Vorväter gekämpft hatte, der war einfach weg. Du bist mein Sohn, hatte er zu Israel gesagt, Jerusalem ist meine Tochter - und jetzt: nichts. Gottverlassen waren sie. Was einst so hoffnungsvoll begonnen hatte, konnte jetzt eigentlich nur noch im Tod enden. Aus wars mit der Geschichte vom Gottesvolk.

Da ist es schon dramatisch, wenn dieser Gott sich plötzlich wieder zu Wort meldet und behauptet: "Ich habe dich nicht verlassen. Wie könnte ich auch; ich liebe dich, Israel, wie eine Mutter ihr Kind. Kann denn eine Mutter ihr Kind im Stich lassen? Und wenn so etwas bei euch Menschen auch mal vorkommt: ich, Gott, bin die bessere Mutter." Gott nimmt die Verlassenen in den Arm und will sie trösten. Wie ganz unerwartet für die Verzweifelten, und wie tröstlich! Andererseits: kann man das denn glauben? Sprechen nicht alle Fakten dagegen?

Offenbar sieht Gott die Fakten anders. Zu dem zerstörten Jerusalem sagt er: deine Mauern sind immer vor mir. Er redet so, als ob sie nicht in Trümmern dalägen. Doch diese Erfahrung hatte Israel mit Gott gemacht: was er sagt, das gilt. Und tatsächlich ist Israel damals nicht untergegangen, und die Mauern Jerusalems wurden wieder aufgebaut.

III
Das ist ein starkes Wort, daß Gott sein Volk mehr liebt als eine Mutter ihr Kind. Auch die Mutterliebe einer Maria zu ihrem Kind vermittelt uns nur eine begrenzte Vorstellung von dieser Liebe. Wie wunderbar, wenn man sich in solcher Liebe bergen kann!

Bleiben zwei Fragen, die zu klären wären. Erstens: gilt Gottes Liebe uns denn überhaupt? Zweitens: Wer kann sich in Gottes Liebe bergen, wenn die Erfahrung dagegen spricht?

Die Antwort auf die erste Frage ist klar: ja, die Liebe Gottes gilt uns. Denn wir Christen sind durch Jesus Christus in die Familie Gottes aufgenommen. Die "heilige Familie" ist nicht unerreichbares Vorbild für uns, auch kein weltfernes Idyll. Sondern wir gehören selbst dazu. Jesus nennt uns seine Geschwister, er hat uns zu Kindern Gottes gemacht. Wir sind bei Gott beheimatet. Und so gilt seine Treue auch uns: er will uns nicht im Stich lassen.

Aber, und damit sind wir bei der zweiten Frage, stimmt das denn mit dem zusammen, was wir erfahren? Wer kann sich in Gottes Liebe bergen, wenn die Erfahrung dagegen spricht? Du brauchst wahrscheinlich nicht in großer Ferne zu suchen, um solchen Fragen zu begegnen. Immer wieder versuchen Menschen, zu Weihnachten eine Art Gegenwelt aufzubauen, ein Stück heile Welt und heile Familie; und immer wieder scheitern solche Versuche. Der Streit reicht bis in die Weihnachtsfeier hinein, die Sorgen bleiben und lassen sich nicht ausblenden. Nirgends im Jahr wird die Einsamkeit größer als zu Weihnachten, da die Menschen sich nach Nähe und Liebe sehnen. Und die Probleme dieser Welt werden in der Weihnachtszeit auch nicht geringer. Wo bleibt die Liebe Gottes? Sind wir am Ende allesamt Straßenkinder, verlassen in der Kälte dieser Welt?

IV
Gegen Israels Erfahrung stand Gottes Wort. Sie hatten geklagt: "Gott hat uns vergessen!" Aber seine Antwort sah anders aus. Jerusalem sollte wieder blühen und von seinen rechtmäßigen Bewohnern überquellen. Die Erfahrung des Verlassenseins war trügerisch und hielt nicht. Vielmehr gilt: Gott sagt Heil zu, und es kommt Heil.

Das ist auch die Grunderfahrung für den christlichen Glauben. Was vor Augen ist, das armselige kleine Baby im Stall, das allein ist nicht die Wahrheit Gottes. Was vor Augen ist, der da wie ein Verbrecher am Kreuz hängt, diese Kreuzigung ist nicht das letzte in der Reihe der Fakten. Gott hat Heil zugesagt, und er hat dem Leben den Sieg gegeben und schenkt uns die Gewißheit, daß er uns nicht im Stich läßt. Wir sind nicht verlassen. Vielmehr gilt uns Gottes Liebe: mehr als eine Mutter es je kann, so lieb hat er uns.

Sagst du: "das kann ich nicht glauben"? So sind wir Menschen wohl. Es scheint so viel leichter, die schlimmen Botschaften aus den Nachrichten zu glauben als die frohe Botschaft des Evangeliums. Aber diese unsere Erfahrung ist trügerisch. Vor Gott gilt das Evangelium, und so wird er uns nicht im Stich lassen.

V
Kann man so etwas denn auch dem Straßenkind sagen, von dem wir anfangs geredet haben? Es wird uns nicht gut anstehen, als reiche Leute aus gesicherten Verhältnissen hinzugehen und dem Kind zu sagen: "Gott läßt dich nicht im Stich". Da müssen wir schon etwas tun, wenn wir dem Elend begegnen. Aber das Kind kann sehr wohl glauben und begreifen, daß es nicht aus der Liebe Gottes herausgefallen ist - auch gegen die eigene Erfahrung. Ich vermute, daß wir von so manchem Armen in der Welt eine Menge an Glauben und Gottvertrauen lernen könnten. Schon die ersten Jesuszeugen, die Hirten von Bethlehem,waren arme Leute. Und sie begriffen, daß hier Gott sein Versprechen eingelöst hat: "ich lasse mein Volk nicht im Stich".

Wieviel mehr wird das Kind, wird der Arme dem Evangelium glauben können, wenn es der Folge dieser frohen Botschaft, der Nächstenliebe und menschlichen Zuwendung begegnet. Das geht ja auch uns so, und wir danken Gott, daß er auch auf diese Weise Menschen den Weg zum Evangelium weist. So werden wir am Ende geborgen sein in der Liebe Gottes, die uns erzählen läßt von seiner Mutterliebe zu uns. Niemals wird er uns verlassen. Deshalb laßt uns einstimmen in das große Loblied am Anfang unseres Bibelwortes aus dem Jesajabuch: "Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden." Die ganze Schöpfung soll mit einstimmen in den Weihnachtsjubel über den Trost Gottes für uns. Er hat uns nicht verlassen, sondern ist in diese Welt gekommen, um ihr die Erlösung zu bringen. Gelobt sei Gott in Ewigkeit. Amen.

Prof. Dr. Jorg Christian Salzmann
E-Mail: JMSalzmann@t-online.de


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