Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Weihnachtstag, 25. Dezember 2001
Predigt über Galater 4, 4-7, verfaßt von Herwig Sturm

"Als die Zeit erfüllt war sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan. Damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen der da ruft: Abba, lieber Vater, So bist du nun nicht mehr Knecht,sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott."

1.
Weihnachten ist ein spannendes Fest. Spannend sind die verpackten Geschenke, die Heimlichkeiten und Überraschungen. Spannend im Sinn von Anspannung, ja Streß, sind die Erwartungen, die dem zugrunde liegen: Das Fest der Familie, das Fest des Schenkens, das Fest des Friedens.
Wenn die Erwartungen hoch sind, dann sind leider auch die Enttäuschungen oftmals groß; und wir merken gerade beim diesem Fest, daß wir zwar die Latte hoch legen, aber deshalb noch nicht darüber springen können.

2.
Im Vergleich mit unserer Weihnachtsstimmung erscheint der Text des Apostels Paulus absolut cool und sachlich. "Als die Zeit erfüllt war ..." Doch damit beschreibt er eine noch viel größere Spannung; die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch.

Wir siedeln Gott ja gerne im Himmel an, in der Ewigkeit, im Jenseits. Da kann man es sich dann aussuchen, ob man zu den Themen und Problemen dieses Lebens und dieser Zeit auch noch an die Ewigkeit glauben und einen Gott haben will.
Diese Weihnachtsbotschaft zeigt aber, daß es umgekehrt ist; Gott bestimmt unsere Zeit, unsere Geschichte liegt in seiner Hand.
Gott sei Dank ist es eine Heilszeit, die Weihnachtserzählung ist eine Rettungsgeschichte. "Als die Zeit erfüllt war...",. hat Gott sich hineinbegeben in unsere Welt mit Haut und Haar. Er kommt zu uns, dorthin, wo wir sind. Er wird Mensch, ein Kind, machtlos, angewiesen, hilfsbedürftig.

Wir haben uns daran gewöhnt und zählen ganz selbstverständlich die Jahre "vor Christus" und "nach Christus". Tatsächlich ist es ein unglaubliches Wunder, daß Gott sich Zeit nimmt, daß er in die Geschichte eintritt. Dadurch wird die Zeit kostbar, dadurch wird die Geschichte einmalig, dadurch erhält jeder Mensch seine Würde.

3.
Wie wichtig dem Paulus die Menschwerdung Gottes ist zeigen die Worte: "Von einer Frau geboren und unter das Gesetz getan".
Ich höre das zunächst als Hinweis auf unsere Endlichkeit. Mit der Geburt beginnt die Unterwerfung unter das Gesetz von Schuld und Leid, der Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten, das Zerschellen der Visionen an der Wirklichkeit.
Man kannn diese Worte aber auch hören als Hinweis auf das große Geschenk: Mit der Geburt beginnt ein neues Leben; ein Mensch tritt ins Dasein, dessen Wesen und Bedeutung noch niemand kennt. Mit der Geburt erklingt der Ruf der Freiheit, die Ermutigung zur Menschlichkeit, die Möglichkeit, den anderen zu lieben.

Paulus zeigt diese Spannung in der Gegenüberstellung von Söhnen und Töchtern und Knechten.
Der Knecht ist der ins Dasein geworfene Mensch, seinen Fähigkeiten und seinen Unfähigkeiten ausgeliefert, das Produkt seiner Anlagen und seiner Umwelt.
Söhne und Töchter sind Gottes Ebenbild, befreit zum aufrechten Gang, befähigt zur Versöhnung und zur Fantasie für Frieden, mutig genug, um für Gerechtigkeit einzutreten. Sie sind die Verwalter des Anvertrauten, der Geheimnisse des Lebens und der Schönheiten dieser Erde. Sie sind die Erben der Freiheit.

4.
Im Österreichischen Rundfunk gibt es jeden Sonntag Morgen eine Sendung der Abteilung Religion mit dem Titel "Erfüllte Zeit". Lesungen und Meditationen, vor allem schöne geistliche Musik schaffen einen Raum der Geborgenheit und laden ein zur Besinnung.
Paulus würde "Erfüllte Zeit" wahrscheinlich anders verstehen: Für ihn ist die erfüllte Zeit das "Ende des Gesetzes", das Ende der Knechtschaft unter den Schlägen eines blinden Schicksals, das Ende der Kette von Lieblosigkeit und Gewalt.
"Erfüllte Zeit" ist der Platz bei dem Kind in der Krippe, ist Anteil an seinem Mut, ein Weltbewohner zu werden. Erfüllte Zeit ist die Zeit des Rufens der Söhne und Töchter dieser Erde nach dem Abba, dem Vater im Himmel. Und Zeit der Zuversicht, dass Gott auch mich erfüllen kann mit Liebe und mit seinem Geist.

Amen.

Bischof Mag. Herwig Sturm
Wien
E-Mail: bischof@okr-evang.at


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