Markuskirche München
UNIVERSITÄTSGOTTESDIENSTE
Sommersemester 2001
Natur-Religion
Wellen-Spiel, Prof. Dr. Dr. Hermann Timm (15.7.2001)

BEGRÜSSUNG

"Flut ruft der Flut, im Tosen der Wasserstürze.
Deine Wellen und Wogen gehen über mich hin". (Ps. 42,8)

"Die mit Schiffen zur See gefahren, auf großen Wassern,
die des Herrn Werke sahen und seine
Wunder auf dem Meer, wenn Er sprach und dem
Sturme rief; der die Wellen
Hob, daß sie gen Himmel fuhren und in
den Abgrund sanken, daß ihre Seele vor Angst verzagte,
weil sie taumelten und wankten wie trunken
und wußten keinen Rat mehr;
die zum Herrn schrien in ihrer Not ...
daß er stillte die Wetter und die Wellen
sich legten - die sollen sagen: (Ps 107, 23-30)
‚In Gottes Hand sind die Tiefen der Erde,
und die Höhen der Berge sind es auch,
denn sein ist das Meer, er hat's gemacht'". (Ps 95,46)


Mit diesen Versen des Psalmisten begrüße ich Sie im Kirchenschiff, Backbord und Steuerbord, an Luv und Lee - wie immer der Wind, der weht, wo er will, sich drehen mag. Denn aufs Meer geht es heute hinaus, ins stürmisch bewegte Spiel der Wellen. Willkommen zum Universitätsgottesdienst in der Markuskirche, dem letzten in der Reihe des laufenden Sommersemesters, über die Natur-Religion, dreifach: Waldes-Lust, Gipfel-Sturm, Wellen-Spiel. Noch einmal hinaus aus der Enge der städtischen vier Wände, mit zementierten Decken über dem Kopf und versiegelten Betonböden unter den Sohlen, daß man keinen Fuß auf den Grund bekommt - hinaus in die freie Natur, unter Gottes großes Himmelszelt. Zum dritten und letzten Mal, mit hörbarer Steigerung. So will es die Dramaturgie des Semesterplans: von der Lust am Waldes-Rauschen über den Gipfel-Sturm bis zum wogenden Auf und Ab der Meeresnatur: "... daß sie gen Himmel fahren und in den Abgrund sinken". Gesteigert was die Dauer des Ausflugs betrifft, die Bewegtheit der Luft und die Weite des Horizonts. Lust am Waldes-Rauschen im Mai, pianissimo, als unter linden Lüften die ersten Blätter ihre Stimmen hoben, "leise, leise, fromme Weise", in einer Stunde erreicht: Bayerischer Wald. Im Juni, mit vermehrter Windstärke, der Sturm zum Gipfel hinauf, dem Zug zur Spitze folgend, zur höchsten in der blauweißen Kulissenwand dort, gleich früh am Morgen begonnen, denn das verlangt einen ganzen Tagesmarsch - mindestens einen. Und nun, Mitte Juli, da das Ende naht, das Semesterende und die großen Ferien in den Blick treten, der letzte Akt: Oben angekommen, machen wir uns lang und steigen auf die Zehen, die visionären Zehenspitzen, um hinüberzuschauen über die Berge, ins Jenseits der Alpen, auf die Weite des Meeres, des Mittelmeeres, von wo der Psalmengesang zu uns gekommen und wo dereinst alles begann, mit dem größten der Stürme, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, mit dem Gottessturm, der im Anfang über den Wassern schwebte. "Gruß dir, du Gruß von drüben / Wo einst die Welt geschah!" "Uns braust ins Ohr die Welle / Vom ewigen Mittelmeer. / Wir selber sind die Stelle / Von aller Wiederkehr" (Günter Eich).

GEMEINDE EG Nr. 286, 1-4 Singt, singt dem Herren neue Lieder


GEBET


1. LESUNG
Aus dem Bauch des Fisches (Klaus-Peter Hertzsch)

Und Gott sah aus von seiner Höh
und sah auf die Stadt Ninive.

Dann ließ er seine Blicke wandern
langsam von einem Land zum andern,

sah Wald, sah Meer, sah das, sah dies -
sah einen Mann, der Jona hieß.

"Los Jona", sprach der Herr, "nun geh
auf schnellstem Weg nach Ninive!

Sag ihr mein Wort! Sei mein Prophet,
weil es dort leider übel steht.

Da hilft nur eine kräftige Predigt,
sonst ist die schöne Stadt erledigt!"

Doch Jona wurde blaß vor Schreck
und sagte zu sich: "Nichts wie weg!

Ich lösch mein Licht, verschließ mein Haus.
Ich mach mich fort. Ich reiße aus."

Den Blick nach Westen wandte er.
Erst lief er nur. Dann rannte er.

Am Feld entlang - am Wald entlang -
er sah sich um. Es ward ihm bang.

Der Staub flog hoch. Er keuchte sehr,
als liefe einer hinter ihm her.

Gott aber, der den Weg schon kannte,
sah lächelnd zu, wie Jona rannte.

Am Ende kam der müde Mann
am weiten blauen Meere an.

Da roch die Luft nach Salz und Tang.
Da fuhrn die Fischer aus zum Fang.

Matrosen sah man lachend schlendern,
erzählen sich von fremden Ländern.

Noch lag ihr Schiff an festen Tauen.
Noch sangen die Matrosenfrauen.

Als Jona alles angestaunt,
da war er wieder gut gelaunt.

Er sagte zu dem Kapitän:
"Wohin soll denn die Reise gehen?"

"Nach Tharsis geht es", sagte der,
"weit weg von hier, weit übers Meer".

"Je weiter", rief er, "desto besser!"
Hört zu: Ich bin kein starker Esser,

ich nehme wenig Platz euch weg
und zahle gut. Laßt mich an Deck!"

So zahlte er und ging an Bord.
Und bald darauf, da fuhrn sie fort.

Das Meer war weit. Das grüne Land,
es wurde kleiner und verschwand.

"Ahoi!" rief Jona. "Klar bei See!
Ich gehe nicht nach Ninive!"

Dann langsam sank die Sonne unter.
So stieg er in das Schiff hinunter.

Und weil er nicht geschlafen hatte,
legt' er sich in die Hängematte.

Und Gott sah aus von seiner Höh
und sah auf die Stadt Ninive

und sah das Schiff, schon weit vom Hafen,
und sah: Jetzt geht der Jona schlafen.

Auf einmal gab es einen Stoß.
Das Schiff stand schief. Ein Sturm brach los.

Die Wellen schwappten über Deck
und spülten alle Bänke weg.

Das Ruder schlug und brach zuletzt.
Das große Segel hing zerfetzt.

Nun rollten Donner, zuckten Blitze.
Der hohe Mast verlor die Spitze.

Das Schiff, es wurde hochgehoben
und zeigte manchmal steil nach oben.

Den armen Leuten auf dem Schiff
war bange, als der Sturmwind pfiff.

Sie liefen ängstlich hin und her.
Ihr Boot schien ihnen viel zu schwer.

Sie nahmen alles, was sie hatten:
den Anker und die Hängematten,

den Kompaß und das Wetterhaus,
und warfen es zum Schiff hinaus.

Dann wollten sie in ihren Nöten
ein Lied anstimmen oder beten.

So riefen sie - weil sie nicht wußten,
zu wem sie wirklich beten mußten;

denn Gott war ihnen unbekannt-:
"Hilf, wer das kann, hilf uns an Land!"

Zu Jona lief der Kapitän
und bat ihn, endlich aufzustehn.

"Auf! Auf!" befahl er dem Propheten,
"wenn du es kannst, dann hilf uns beten!"

Inzwischen sagten die Matrosen,
sie wollten miteinander losen.

Wer nur das schwarze Los bekäm,
der wäre schuld an alledem.

Und Jona zog das schwarze Los.
Und jeder sprach: "Wer ist das bloß?"

"Ich bin", sprach Jona, "ein Hebräer,
Ich flieh - und doch kommt Gott mir näher.

Ja Gott, dem bin ich wohlbekannt.
Hat mich nach Ninive gesandt.

Da bin ich vor ihm ausgerissen
und werd nun wohl ertrinken müssen".

Zuerst versuchten die Matrosen
es noch mit Rudern und mit Stoßen.

Doch als es gar nicht anders ging
und schon das Schiff zu sinken anfing,

da nahmen sie den Jona her
und warfen ihn hinaus ins Meer.

Sie sahn ihm nach, wie er verschwand,
und riefen:"Gott, bring uns an Land!"

Und siehe da - die Winde schwiegen,
die Wolke schwand, die Sterne stiegen.

Es wurde still all überm Meer.
Das Schiff zog ruhig wie vorher.

Und sie erholten sich allmählich,
sie lobten Gott und wurden fröhlich.

Bald sahn sie auch ein Land von weiten
und kamen dort zu guten Leuten.

Der arme Jona schwamm inzwischen
im Meer herum mit lauter Fischen.

Es war nicht Schiff noch Insel da,
nur blaues Meer, soweit man sah,

Er war zum Glück kein schlechter Schwimmer;
Doch bis nach Hause - nie und nimmer!

Da plötzlich teilten sich die Wogen.
Es kam ein großer Fisch gezogen.

Dem hatte Gott der Herr befohlen,
den nassen Jona heimzuholen.

Sein Maul war groß wie eine Tür.
Das sperrt' er auf und sagte: "Hier!"

Er saugte den Propheten ein.
Der rutschte in den Bauch hinein.

Dort saß er, glitschig, aber froh:
denn naß war er ja sowieso.

Da hat er in des Bauches Nacht
ein schönes Lied sich ausgedacht.

Das sang er laut und sang er gern.
Er lobte damit Gott den Herrn.

Der Fischbauch war wie ein Gewölbe:
das Echo sang noch mal dasselbe.

Die Stimme schwang, das Echo klang,
der ganze Fisch war voll Gesang.

"Ich rief zum Herrn in meiner Not,
und er antwortete mir.
Ich schrie aus dem Rachen des Todes,
und du hörtest meine Stimme.
Du warfst mich in die Tiefe,
mitten ins Meer, daß die Fluten mich umgaben.
All deine Wogen und Wellen
gingen über mich, daß ich dachte
ich wäre von deinen Augen verstoßen.
Wasser umgaben mich und gingen mir ans Leben,
die Tiefe umringte mich, Seetang umschlang mein Haupt.
Ich sank hinunter zu den Gründen der Berge,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir. Aber du hast mein Leben aus dem Verderben errettet."

"Am dritten Tag im Abendlicht,
da kam das grüne Land in Sicht.

Der Fisch, der würgte sehr uns spuckte,
bis Jona aus dem Munde guckte.

Nun sprang der Jona auf den Strand
und winkte, bis der Fisch verschwand.

Und Gott sah aus von seiner Höh
und sah auf die Stadt Ninive,

sah auch den guten Fisch und sah:
Jetzt ist der Jona wieder da."


CHOR Jan Dismas Zelenka, Cum sancto spiritu


2. LESUNG Tertullian, Über die Taufe

"Im Anfang", heißt es, "machte Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war unsichtbar und wüst, Finsternisse waren über dem Abgrund und der Geist Gottes schwebte über den Wassern". Da hast du vorerst das Alter des Wassers zu verehren; denn es ist eine alte Substanz; sodann seine hohe Bestimmung, weil es der Sitz des Geistes und folglich ihm wohlgefälliger war als die übrigen Elemente. Denn die Finsternis war noch ganz gestaltlos, ohne den Schmuck der Gestirne, der Abgrund traurig, die Erde unfertig und der Himmel unvollendet; das Flüssige dagegen allzeit eine vollendete Materie. Heiter, einfach und rein, bot es sich Gott als ein würdiges Fahrzeug dar. Und wie, wenn bei der darnach folgenden geordneten Einrichtung der Welt die Gewässer sich Gott gewissermaßen als normgebend darstellten? Denn die Befestigung des Himmels in der Mitte bewirkte er durch Teilung der Gewässer; die Befestigung des trockenen Landes vollendete er durch die Trennung der Gewässer. Als später der nach Elementen geordnete Erdkreis Bewohner erhielt, wurde zuerst dem Wasser befohlen, Tiere hervorzubringen. Die ersten lebenden Wesen brachte das flüssige Element hervor, damit es nichts Auffälliges habe, wenn in der Taufe das Wasser zu beleben vermag, ... nämlich daß der Geist Gottes, der über den Wassern daherfuhr, daselbst als Eintaucher verharrt. Es schwebt Heiliges nur über Heiligem, was als Unterlage dient, entlehnt von dem, was darüber schwebt, die Heiligkeit. Denn es ist ja eine Naturnotwendigkeit, daß jedes Ding, welches die untere Stellung einnimmt, von der Eigenschaft des darüber Befindlichen etwas an sich ziehe, besonders das Materielle vom Geistigen, und daß letzteres wegen der Zartheit seiner Substanz ersteres leicht durchdringe und darauf ruhe. So hat die Substanz des Wassers, vom Heiligen geheilt, selber auch die Kraft, zu heiligen, empfangen ... vermöge der alten Prärogative seines Ursprungs die geheimnisvolle Wirkung zu heiligen durch Anrufung Gottes. Denn es kommt sofort der Geist vom Himmel darüber herab und ist über den Wassern, indem er sie aus sich selbst heiligt. ... Wie geschrieben steht: ‚Und als Jesus aus dem Wasser stieg, sah er, daß sich der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn.' ... Daher verschlägt es nichts, ob jemand im Meere oder in einem Sumpfe, in einem Flusse oder in einer Quelle, in einem See oder in einem Wasserbecken abgewaschen wird, und es ist kein Unterschied zwischen denen, welche Johannes im Jordan, und denen, welche Petrus im Tiber getauft hat."

CHOR Randall Thompson, Alleluja


3. LESUNG Ambrosius von Mailand, Exameron

"Und Gott sprach: Es werde eine Feste inmitten der Wasser, und sie scheide die Wasser voneinander ... Das Wasser unter dem Himmel sammle sich an einem Ort, daß das Trockne sichtbar werde. Und Gott nannte das Trockene Land und die Sammlung der Wasser Meer. Und er sah, daß es schön und gut war.

Wohl ist der Anblick dieses Elementes schön, wenn schimmernde Wogenberge und -kämme darin sich türmen und die Riffe von schneeweißem Gischte traufen, oder wenn es über seiner Wasserfläche, die vor sanftem Windeswehen sich kräuselt und freundlich blinkt, seiner heiteren Ruhe purpurfarbene Pracht aufleuchten läßt, die so oft von ferne das Auge des Beschauers entzückt, wenn es nicht mit gewaltigen Wogen an die nahen Ufer schlägt, sondern sie gleichsam in friedlicher Umarmung umfängt und grüßt. Wie süß ist da sein Tönen, wie lieblich sein Wellenschlag, wie traut und melodisch sein Wogenrauschen!

Gut ist das Meer, vor allem weil es das Festland mit der nötigen Feuchtigkeit versorgt, indem es ihm wie mittels eines Adernetzes unversehens den Lebenssaft zuleitet. Gut ist das Meer: der gastliche Schoß der Flüsse, die Quelle des Regens, die Ablagerung des Schwemmlandes, die Einfuhrstraße für den Handel, die Verbindungsbrücke zwischen den entlegenen Völkern, die Hilfe in Nöten, die Zuflucht in Gefahren, das reizende Ziel für Vergnügungsfahrten, das Heilbad zur Genesung, die Verbindungsstraße für Getrennte, die bequeme Route zum Reisen, der Rettungspfad für notleidende Auswanderer, die Einnahmequelle von Zöllen, die Lebensmittelzufuhr bei Mißernten.

Wie wäre es mir möglich, die ganze Güte und Schönheit des Meeres zu ergründen, wie sie der Schöpfer schaute? Wozu auch mehr? Was anders bedeutet jenes melodische Rauschen der Wogen als den melodischen Sang des Volkes? Passend vergleicht man darum die Kirche mit dem Meere. Erst speit sie mit dem scharenweise eintretenden Volke ihre Fluten über alle Eingänge; sodann erbraust sie beim Gebete des ganzen Volkes wie vor hin- und widerflutenden Meereswogen, so oft im Wechsel der Psalmen der Sang der Männer, Frauen, Jungfrauen und Kinder widerhallt - ein melodisches Wogenrauschen.

Das verleihe uns der Herr: Glückliche Fahrt bei günstigem Winde, Landung im sicheren Porte, Verschontbleiben von Anfechtungen der bösen Geister, die unsere Kräfte übersteigen, Freibleiben von Schiffbruch im Glauben, den Besitz tiefen Friedens und, sollte je ein Fall die dräuenden Fluten dieser Welt wider uns erregen, den Herrn als Steuermann, der für uns wacht, mit seinem Worte gebeut, den Sturm stillt, die Ruhe des Meeres wiederherstellt."

GEMEINDE EG 504, 1-5 Himmel, Erde, Luft und Meer

PREDIGT

Wer sich abwendet - liebe Universitätsgemeinde - wer sich abwendet von der Anschauung des Universums, wer das All des Sternenmeeres in den Rücken nimmt, um heimzukehren zur Erde, von der er genommen, der sieht eine weiche Landung auf sich zukommen, eine Wasserlandung. Denn unsere Erde ist der Meeresstern im Sternenmeer des Sonnensystems. Die Astronauten, die Sternensegler haben sie den "blauen Planeten" genannt, der Meeresbläue wegen - blauer Planet Erde. Zu fast Dreivierteln wird der Globus von Ozeanen, Meeren und Seen bedeckt, so daß er mehr einem Wasserball als einer Erdkugel gleicht. Wasser, allüberall, wohin man schaut, nur hier und da von braun, gelb und grün gefärbten Landstrichen unterbrochen und zwischenhinein gesprenkelt mit tausenden von Inseln, winzig klein, wie Rettungsbojen, die nach dem Schiffbruch auf den Wellen treiben. So schaut die Erde aus, wenn man sie vom Himmel betrachtet.

Wer seinen Anflug über den großen Ozean wählt, den Pazifik, südlich des Äquators, auf Höhe des 150. Längengrades westlicher Breiten, der bekommt eine fast reine Meerwelt zu Gesicht, nur am Rande hier und da von der Landwelt Amerikas und Australiens begrenzt. Pazifisch wird der große Ozean genannt, friedlich, seiner häufigen Windstille wegen, verglichen mit den Stürmen der anderen Weltmeere, dem Indischen Ozean im Westen und dem Atlantischen Ozean im Osten. Aber die sind auch nicht viel mehr als des Pazifik bewegte Seitenarme, mit denen er den ganzen Globus umfaßt, links wie rechts herum.

Europa, in dessen Mitte wir uns hier befinden, mutet wie der in den Nordatlantik vorgeschobene Küstenstreifen Asiens an. Darf man es überhaupt einen "Kontinent" nennen, einen zusammenhängenden Erdteil mit eigenständigem Festlandsockel, wie Asien, Afrika, Amerika oder Australien? Die Bezeichnung paßt schlecht. Sie zeugt von überzogener Selbsteinschätzung aus vergangenen Tagen, als Europa sich für die Welt hielt, die alte Welt, historisch längst überholt. Die Natur gibt den Anschein nicht her, denn von oben, aus astronautischer Himmelshöhe gesehen, ist es eine Landzunge - mehr nicht, eine von Ost nach West sich zunehmend verschmalende Halbinsel zwischen Meeresbuchten des atlantischen Ozeans. Zweifach gestaffelt: im Süden das Mittelmeer nach den Enge von Gibraltar und das Schwarze Meer hinter dem Bosporus; im Norden, hinter dem Ärmelkanal die Nordsee und hinter dem Belt die Ostsee. Dazu die Inselkette von Island über Britannien bis zu den Azoren, als vorgelagerter Wellenbrecher für den stürmischen Atlantik. So schaut es aus, wenn man den Heimflug zur Erde über die nördliche Hemisphäre wählt, auf Höhe des Längengrades von Greenwich, der die Seewelt in Ost und West teilt: Europa - die westliche Wasserkante Asiens, eine halbinsulare Küsten- und Uferwelt mit den Alpen in der Mitte, als Wasserscheide, zwischen ihrer Nord- und Südhälfte.

Groß geworden ist Europa denn auch auf maritimem Wege, durch seinen Zug zum Meer, und zwar westwärts fortschreitend, vom Orient zum Okzident, vom Morgenland ins Abendland. Denken wir an den Mythos vom Göttervater Zeus, der in Gestalt eines weißen Stieres die schöne Europa vom Strand in Tyrus übers Meer nach Kreta entführte; an den Sieg der Griechen über die aus Asien an die Ägäis vorgedrungenen Perser, mit der Flotte auf dem Wasser errungen; an Aeneas, der aus dem brennenden Troja übers rettende Meer entfloh, um am Tiber, in Rom, die Stadt des neuen Reiches zu gründen; oder an Columbus schließlich, der von Sevilla aus, am Westrand der mittelmeerischen Welt, die Passage über den Atlantik bahnte, hinüber nach Amerika, in die neue Welt, jenseits des großen Teiches und dadurch Europa allererst weltgroß machte.

Denken wir aber vor allem an uns selbst, an den Weg, den die Religion, die wahre, die Gottesreligion genommen hat. Denken wir an den Wasserweg des Glaubens, per Schiff, von Palästina aus, begonnen in den Häfen der Levante, am Ostrand des Mittelmeers. Der erste Versuch, im Alten Testament, war halbwegs zum Scheitern verurteilt - wie gehört. Denn Jona glaubte seiner Mission durch Flucht aufs Mittelmeer entkommen zu können. Er hielt seinen Prophetengott für einen Land- und Berggott, dessen Reich in den Häfen endet, wo die Schiffe ablegen zur großen Fahrt gen Westen. Kein Meergott. Da irrte er zwar und mußte durch den erregten Zorn des Elements und die Mithilfe des wundersamen Ungeheuers aus seiner Tiefe eines Besseren belehrt werden. Aber zurückgeholt wurde er vom Meer, heimgebracht zum Ausgang des Fluchtversuchs, um seinen Weg ostwärts anzutreten, nach Ninive, ins Binnenland.

Auch der zweite Versuch sah anfangs nicht viel anders aus, der des Neuen Testaments, mit Paulus unternommen, dem Heidenapostel für die Weltvölker der Ökumene rings ums Mittelmeer. Auch sein Weg von Jerusalem über Zypern und Kreta Richtung Rom endete mit dem Schiffbruch im Sturm. Er wurde auf den Planken der havarierten Galeere in Malta an Land gespült, nachdem die Matrosen zur Rettung allen Ballast über Bord geworfen - vergeblich. Anders aber als Jona kam Paulus wirklich an auf den Westufern des mare nostrum, wie die Lateiner das Mittelmeer nannten: unser Meer. Anders auch als Jona konnte Paulus seinen Kurs fortsetzen in den Okzident, nach Rom, und wir dürfen uns glücklich preisen, daß sein Brief an die Römer nicht zu dem Ballast gehörte, der vorher über Bord gegangen. Den hatte er sicherheitshalber mit dem Postboot vorausgeschickt: "Es kommt ein Schiff geladen, bis an den höchsten Bord." Ohne ihn wäre das Evangelium im Westen nie angekommen. Ohne ihn wäre auch nicht das Wasserlob erklungen, das die mediterranen Kirchenväter westlicher Breiten , Tertullian und Ambrosius, angestimmt haben - wie gehört: von den Wassern im Anfang der Schöpfung, über den Durchzug Israels durchs Schilfmeer, bis zum Auftauchen Jesu aus den Fluten des Jordan, der Sturmstillung auf dem Galiläischen Meer, dem sündenabwaschenden Reinigungsbad der Taufe und dem symbolischen Schiff der Kirche mit seinem hin und her wogenden Psalmengesang und seinem rettenden Steuermann an Bord, der es durch die Stürme der Zeit in den Hafen der Ewigkeit bringt: "Glückliche Fahrt bei günstigem Winde, Landung im sicheren Port, Freibleiben von Schriffbruch im Glauben".

Vielstimmig ist das Meereslob drüben erklungen - wie gehört. Aber wir selbst, auf dem gleichen Längengrad zwar wie Tertullian von Karthago und Ambrosius von Mailand, aber diesseits der Alpen, durch sie vom mare nostrum getrennt? Was ist mit uns? Auch hierher ist die Botschaft auf dem Seeweg gekommen - nicht über die Berge. Deutschland wurde von den britannischen Inseln aus missioniert, von Irland, Schottland und England aus, wohin die Mönche des Frühmittelalters westwärts über den Atlantik gesegelt waren, um von dort über den Kanal und die Nordsee hinweg per Schiff das Christentum auf den Kontinent zu tragen, angefangen bei den Friesen an der Waterkant und dann flußaufwärts, gen Süden, durchs finstere Waldesrauschen Germaniens hindurch bis ins lichte Vorland der Alpen, zu den Bayern nach Freising und den Mönchen von München.

Wer von hier aus auf natürliche Weise den Weg zurück zum Ursprung antreten wollte, der dürfte auch nicht den visionären Höhenflug über die Berge wählen, sondern müßte abermals den Wasserweg nehmen. Er müßte der alpenentsprungenen Isar folgen, talwärts gen Norden, bis nach Deggendorf; müßte dann vom Fluß in den Strom übergehen und dem Lauf der Donau folgen, die im großen Bogen ostwärts die Berge umfährt, um ins Schwarze Meer zu münden. Und von dort schließlich würde er mit der Westdrift durch die Dardanellen ins Mittelmeer einfahren, genau auf der Höhe, wo Paulus erstmals von Asien nach Europa übergesetzt, weil er nachts im Traum einen mazedonischen Mann sah, der ihm winkte, mit dem Schiff herüberzukommen aus der Troas, um in Griechenland das Evangelium zu verkünden. "Gruß dir, du Gruß von drüben!"

Der Kreis wäre damit geschlossen. Unsere Fahrt um den wässrigen Kontinent hätte sich gerundet, aber zu Ende ist sie noch nicht. Denn der Zug zum Meer hält an, bis heute. Nach wie vor und mehr denn je ziehen in der warmen, der Sommerszeit, ganze Völkerscharen hinaus in die Natur, die Natur der Wälder, der Berge und der Wasser, an die Bäche, Flüsse, Ströme und Seen. Vor allem aber dort hinaus, wohin auch die Wasserströme davonziehen, nämlich zur See, zur offenen See, an die Buchten, Strände und Küsten der Meere, wo das Waldesrauschen zum Rauschen der Brandung wird und der Sturm das Wellenspiel aufgipfelt zum schäumenden Tanz der Wogen. Keine Wege sind zu weit und keine Mühen zu groß, tagelange Mühen, um das Schauspiel zu erleben, das Naturschauspiel des Meeres. Waldeslust - Bergeslust - Meereslust auf großer Fahrt.

Von Erde sind wir und zu Erde sollen wir wieder werden. Aber vom Erdboden abzuheben und kopfüber einzutauchen ins stürmische Element, den Grund unter den Füßen zu verlieren, des Schwimmens wegen, um getragen zu werden vom Auf und Ab, vom Heben und Senken, Steigen und Fallen der Wogen, und leibhaft das Spiel der See mitzuspielen, in Rückenlage, nur den Himmel vor Augen und kein Land in Sicht, bis die Brecher über einem zusammenschlagen - das beschert Erdlingen ein ozeanisches Gefühl wie am ersten Tag. "Flut ruft der Flut im Tosen der Wasserstürze, deine Wellen und Wogen gehen über mich hin". Deshalb der Zug zum Meer, alljährlich in breiten Touristenströmen, durch die Wälder und die Auen, talwärts bis zur Mündung in die See, dem Naturlauf des Wassers folgend.

Und die anderen, denen es nicht gegeben, das Schauspiel leibhaft mitzuspielen und angstfrei ins Gewoge einzutauchen, die aber gleichwohl den Weg nicht scheuen, um keinen Preis? Was ist mit denen? Die bleiben am Rande stehen, um sich zu versenken, meditativ zu versenken in den Anblick. Kann doch der Gang zum Meer offenbaren, was das Land nirgends zu bieten vermag, nicht in Wäldern und Auen und selbst auf den höchsten Gipfeln seiner Berge nicht - die Aussicht ins Unendliche. Weil der Rücken der Erde nicht flach ist, sondern gekrümmt - etwa einen Meter Höhe auf einen Kilometer Entfernung gekrümmt - können wir Menschen weit nicht sehen. Erdlinge sind kurzsichtige Wesen. In meinem Fall, bei einer Augenhöhe von nahe bei zwei Metern, endet die Sichtweite bei weniger als zwei Kilometern. Sagen wir passender: sie endet nach einer Seemeile.

Denn an der See geschieht es, daß die Dinge mit der Entfernung vom Ufer, an dem wir stehen, zunehmend hinter der Krümmung verschwinden, und zwar von unten herauf, daß es aussieht, als ob sie im Wasser versinken würden. Bei den ausfahrenden Schiffen steigt die gekrümmte Meeresoberfläche von der Wasserlinie am Rumpf empor bis zur Reeling und von dort die Aufbauten entlang zu den Masten, bis auch sie weniger und weniger werden und schließlich mit ihren Spitzen gänzlich in den Fluten versinken, daß nichts übrig bleibt, nichts als der reine, gegenstandslose, von allen Haftpunkten entleerte Horizont des Meeres, der in endloser Ferne an den Himmel grenzt - endlos und erdlos.

Sie finden dies Seherlebnis ins Bild gesetzt auf der Vorderseite unseres Programmzettels, Naturreligion - Wellenspiel: die Reproduktion eines Gemäldes von Ivan Aivazovsky, einem armenisch-russischen Maler des 19. Jahrhunderts. Im Vordergrund die geschrägte, vom Wasser halbwegs überspülte Mole mit dem Seemann, der hinausschaut aufs tobende Meer, steifer Wind von vorne, den Seesack geschultert. Vor ihm die ausfahrenden Schiffe, gestaffelt über die Wasserwölbung hinweg. Der Zweimaster in der Mitte, unter halb gerafften Segeln fahrend, ist mit seinem Rumpf noch großteils sichtbar, während die anderen nur mit ihren Aufbauten und Mastspitzen noch herausragen. Überwölbt wird die Szene vom tiefliegenden, sturmwolkenverhangenden Himmel, der in unabsehbarer Ferne dem entleerten Horizont aufruht.

Die See und nur die See macht solche Seherlebnisse möglich. Die Seen tun es nicht, denn die haben immer ein anderes Ufer, das jenseits mit seinen Höhen sichtbar die Wasserkrümmung überragt, - zumal die bayerischen Seen mit ihrer Alpenfront im Rücken. Weshalb der Zug zum Wasser an ihren Ufern ja auch nicht Halt macht, sondern mit dem Stromlauf weiterzieht zum Meer, zum offenen Meer, das den Blick ins Endlose freigibt, wenn alles darin versinkt, daß seine Erhabenheit sich nur mit dem Himmel vereint, und nichts dazwischen. Meeresbläue von unten - Himmelsbläue von oben, eines im anderen gespiegelt, daß der Horizont vor den Augen verschwimmt und die Trennlinie zwischen wogendem Himmel und bewölkter See imaginär zu werden beginnt. Wie am zweiten Tag, als Gott das Firmament schuf, das gläserne, um die Wasser unter der Feste zu trennen von den Wassern über der Feste, nichts dazwischen als nur der Spiegelhorizont von oben und unten. So wurde es Mose offenbart, als er vom Berge aufs Meer hinausschaute, aufs Mittelmeer, nach Westen gewandt, mit dem Morgenlicht des ersten Tages im Rücken, dem ersten Tageslicht der Sonne ex oriente.

Im Anfang war das Meer, das unendliche, das von sich aus keine Grenzen kennt. Die mußten ihm erst gesetzt werden, als es Licht wurde. Und Gott sprach: "Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag an ... Hast du je dem Morgen geboten, dem Frührot seinen Ort gewiesen? ... Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, da es hervorbrach wie aus dem Mutterleib? ... Als ich Gewölk zu seinem Kleide machte und es in Dunkel hüllte wie in Windeln. Da ich ihm den Lauf brach mit meinem Damm, ihm Riegel setzte und Türen - und sprach: ‚Bis hierher und nicht weiter! Hier sollen sich legen deine stolzen wogen!'" (Hiob 38,4-11)

In der religiösen Phantasie der Alten hat die Schöpfung recht eigentlich erst mit der Eindämmung des Meeres begonnen, mit seinem Zurückdrängen und Wegsperren, um ihm die Erde für das Tier- und Menschenleben abzuringen. Nur soweit galt ihr der Schöpfer auch als Herr des Meeres, durch seine Grenzsetzung: "... bis hierher und nicht weiter", bis zu den Küsten und Dünen, den Dämmen und Deichen, die der wogenden Allgegenwart Einhalt gebieten. Für den Widerruf der Schöpfung genügte deshalb, daß Gott die Gegenwehr einstellte. Eigens aktiv zu werden, war nicht vonnöten. Er mußte nur von seinen Aktionen ablassen. So geschehen in der Sintflut, als es ihn reute, die Landwelt geschaffen zu haben - reute wegen der Bosheit der Menschen. Es genügte, die Scheidung der Wasser unter und über dem Firmament rückgängig zu machen, die Schleusen des Himmels zu öffnen und die Quellen des Meeres zu entriegeln, um alles Land untergehen zu lassen im Fluten von oben und unten. Land unter - wie am Anfang, als nur der Sturm über der grenzenlosen Urflut schwebte.

Aus diesen Bildern der "Genesis" spricht weniger die Lust des Meeres als sein Leid, die Gefahr, die von ihm droht, wenn es sich mit dem Gipfel des Sturms, dem Orkan, zusammentut, daß es steigt und steigt über alle Grenzen hinweg. Als alles Land unter war, hat sich denn auch die religiöse Phantasie der Alten nur mit einem Kunstgriff der grenzenlosen Naturgewalt des Wassers zu erwehren gewußt - mit der Kunst des Schiffbaus: eine wahrhaft göttliche Erfindung, weil sie obenauf schwimmt und das Element mit seiner eigenen Tragkraft überwindet.

Darf man Mose glauben, war es der Allmächtige selbst, der auf den Gedanken kam, als er seine eigene Reuetat bereute und deshalb auf Abhilfe inmitten der Sintflut sinnen mußte. Genaue Anweisungen gab er Noah für die Arche: aus welchem Holz sie zu bauen sei - dem der langstämmigen Tanne - wie die Bretter zu biegen und abzudichten seien - mit Pech von innen wie außen - wie die Decks in den Rumpf einzuziehen und schließlich die Aufbauten zu überdachen seien, um die Höhlung auch nach oben dicht zu machen, wasserdicht und so vom Grund abzuheben und das Leben auf schwankendem Boden durch die Flut hindurchzuretten, ohne zu Grunde zu gehen.

Die Kirchenväter des Mittelmeeres, des südlichen, haben im Urschiff der Arche den Prototypen für das rettende Kirchenschiff in den Sturmfluten der Weltzeit gesehen. Bei den Friesen, an der Nordsee, wo wir das Festland betreten, hängt deshalb solch ein Schiff im Schiff der Kirche. Schließen wir mit den von dort flußaufwärts gekommenen Versen:

"Wenn wir in Wassersnöten sein,
so rufen wir zu dir allein,
o treuer Gott, und bitten dich:
Hilf uns doch jetzt und gnädiglich.

Der Sturmwind braust und saust gar sehr,
das Meer bewegt und schlägt noch mehr,
das Wasser steiget in die Höh
und dräuet uns bei voller See.

Die Deiche sind gar nicht imstand,
zu schützen unser festes Land,
wo nicht, o Gott, dein Allmachtshand
befestigt unser Land und Sand.

Drum steur und wehr, o Vater, ab,
daß nicht das Meer werd unser Grab;
verhüte, daß durch deinen Grimm
wir nicht im Wasser kommen um!"
Amen


GEMEINDE 506, 1-4 Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht