Markuskirche München
UNIVERSITÄTSGOTTESDIENSTE
Sommersemester 2001
Natur-Religion
Gipfel-Sturm, Prof. Dr. Wolfgang Steck (24.6.2001)

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt,
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Wald und Strom und Feld.


Die Bächlein von den Bergen springen,
die Lerchen schwirren hoch vor Lust.
Was sollt´ ich nicht mit ihnen singen
aus voller Kehl´ und frischer Brust?


Den lieben Gott laß ich nur walten.
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd´ und Himmel will erhalten
hat auch mein´ Sach´ aufs Best´ bestellt.
Joseph von Eichendorff (1822)

BEGRÜSSUNG UND GEBET

‚Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.' Mit diesem Psalmwort, das uns der Bach-Chor in einer einfühlsamen Vertonung gesungen hat, begrüße ich Sie alle zu unserem Gottesdienst.

Gipfelsturm - so heißt das Thema unseres heutigen Universitätsgottesdienstes. Aber man muß gar nicht zu den passionierten Gipfelstürmern gehören, um die Faszination der Bergwelt zu erleben. Man braucht dazu keinen Rucksack und keine Steigeisen, kein Kletterseil und keinen Eispickel, nicht einmal die Wanderschuhe. Man braucht nur ein Paar wache, nach oben gerichtete Augen. Denn die Bergwelt ist eine Welt der Sinne, das Reich der Visionen.

Wenn der Föhn das Alpenpanorama ans Firmament zaubert, direkt hinter die Türme des Liebfrauendoms, dann gehen einem die Augen über. Wir fangen zu staunen an und versenken uns in stiller Andacht in das Schauspiel der Natur. Wie eine Sinnestäuschung, so kommt einem die mächtige Kulisse vom Karwendel bis zur Zugspitze vor. Und doch weiß jeder, der schon einmal im Frühtau hinausgezogen ist: Es gibt sie wirklich, die andere, die ferne und zugleich so nahe Welt.

Manche haben sich das Bergpanorama ins Haus geholt, pastos in Öl gemalt, mit dicken Pinselstrichen aufgetragen. Der Blick geht in die Tiefe des Bildes und verliert sich in den Formen und Farben. Das Bergmassiv ist nach der Natur gemalt, der Hochwald und der Wasserfall, die Hütte, die Bank, der Brunnen, alles wie im wirklichen Leben. Und es ist doch wie das Abbild einer anderen, der ewigen Welt. Sie läßt uns alles um uns herum vergessen und zieht uns ganz in ihren Bann.

Wenn wir uns zu einer Bergwanderung aufmachen, dann geht es uns nicht anders. Am Morgen, wenn sich die Nebelschleier lichten und die Felsmassive aus dem weißen Dunst auftauchen, dann ist es, als würde die Welt noch einmal neu geschaffen, Stück um Stück. Und was für eine Welt! Ein Augenschmaus! Sinneslust in Hülle und Fülle! Man kann gar nicht alles mit einem Blick erfassen. Die Augen gehen hin und her und können sich nicht satt sehen.

Im Vordergrund das satte Grün der Almen, dahinter das fein schattierte Grau der Felswände, darüber die Gipfel mit ihren Glitzerhauben aus Schnee und Eis, und alles überwölbt von unserem bayrischen, weiß-blauen Himmel. Das ist eine Welt wie aus dem Bilderbuch, von Gott modelliert, damit seine Geschöpfe ihre helle Freude daran haben, die Gemsen und die Adler, die Geißen und die Kühe und - natürlich - auch wir, jeder von uns. Gott hat an uns gedacht, als er eines schönen Tages die Bergwelt erschuf. Oder hat er sie gleich viermal geschaffen: im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter? Später am Tag, wenn die Sonne im Zenit steht und die Gipfel in der gleißenden Mittagshitze zu flimmern anfangen, dann kommt es einem so vor, als hätte sich der Schöpfer noch einmal an die Staffelei gestellt, als würde er dem toten Gestein Leben einhauchen, bis die Berge unter seinen kräftigen Strichen erzittern, vor unseren Augen. Und manchmal mag es einem so vorkommen, als sei er selbst dort oben, im ewigen Eis, dort, wo sonst keiner hinkommt.

Am Ende des Tages dann der Abend in den Bergen, wenn sich die Sonne gemächlich hinter die Felswand zurückzieht, noch einmal kurz Atem holt und uns verschmitzt zublinzelt. Dann werden die Felsen farbig, die steinernen Fassaden fangen zu brennen an. Jetzt wissen wir endgültig, daß das nicht unsere Welt ist, sondern Gottes Wohnung; und wir waren bei ihm zu Gast. Im Alpenglühen ziehen wir uns aus Gottes Welt zurück. Aber im Herzen nehmen wir die Berge mit, und mit ihnen die geheimnisvolle, die göttliche Welt, in der sich unglaubliche Wunder abspielen, in der einem die Augen übergehen, in der sich das Herz weitet und der Geist frisch wird.

Wir feiern unseren Gottesdienst im Namen Gottes des Vaters, der die wunderbare Bergwelt geschaffen hat; im Namen des Sohnes, der auf den Bergen Palästinas Stille suchte; und im Namen des göttlichen Geistes, der über den Höhen und Tiefen des Lebens schwebt.

Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich. Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes. Du lässest Wasser in den Tälern quellen, daß sie zwischen den Bergen dahinfließen, daß alle Tiere des Feldes trinken und das Wild seinen Durst lösche. Darüber sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. Gott, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet; und die Erde ist voll deiner Güter. Amen.

ANSPRACHE

‚Mein Auge schaut, wohin es blickt, die Wunder deiner Werke'. Die Bergwelt ist eine beschauliche Welt. Man muß die Augen mitnehmen, wenn man in die Berge geht, den kurzsichtigen Blick für die kleinen Wunder am Wegesrand, für den Schmetterling und den Käfer, für den Enzian und das Edelweiß. Das haben wir als Kinder oft gesagt bekommen. Wer in Gedanken versunken dahingeht, der bleibt blind für den Zauber der Schöpfung. Und wer hastig einen Gipfel nach dem anderen erstürmt und dabei den Weg nicht genießt, der erlebt keine Wunder, keine blauen und keine weißen. Aber man braucht in den Bergen auch den Weitblick. Denn mit jedem Schritt nach oben wird der Horizont weiter und die Welt größer. Wenn man ganz oben angekommen ist, dann kann man erahnen, wie es dem Schöpfer ergangen sein mag, als er die ineinandergefügten Bergketten fertig vor sich liegen sah und mit den Augen vermessen hat: eine schwindelerregende Perspektive.

Wer in die Berge geht, der muß auch die Ohren aufstellen. Denn in den Bergen bleibt die Natur nicht stumm. Da fangen die Tiere und die Pflanzen zu sprechen an: ‚Mich' ruft der Wurm, ‚mich' ruft der Baum in seiner Pracht, ‚mich' ruft die Saat, ‚hat Gott gemacht'. Und selbst der Fels wartet darauf, daß er angesprochen wird; dann gibt er den Jodler im Echo zurück und ist stolz darauf, daß kein Ton daneben ging. Wer taub ist für die Stimmen der Natur, der bleibt selbst stumm. Er hört den Chor der Geschöpfe nicht; und deshalb kann er nicht in das Lob der Schöpfung einstimmen. Er wird auch nie erahnen, was das heißen mag: ‚der Berg ruft'.

Aber die Welt der Berge ist nicht nur eine Welt der Bilder und der Stimmen, eine beschaubare und belauschbare Welt. Sie ist auch eine Welt der Füße, eine begehbare Welt. Man muß sie abschreiten, Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen, über den anderen, neben den anderen. In beiden Dimensionen des Raums, in der Horizontalen und in der Vertikalen; und in beiden Richtungen der Wegstrecke, hin und her, von unten nach oben und von oben nach unten.

In der ersten Hälfte des Tages der stundenlange Aufstieg zuerst auf einem weichen Saumpfad über die Almen; das tut den Füßen gut. Dann mit staubigen Stiefeln über die Schuttreiße bis zu den Felswänden; das verlangt Kondition. Und endlich über den ausgesetzten Grat auf den Gipfel, ans Kreuz; das macht den Menschen rundum glücklich. Immer wieder ein anderer Bewegungsablauf, ein anderes Körpergefühl, eine andere geistige und seelische Verfassung. In der zweiten Tageshälfte den der kräftezehrende Abstieg, wo einem die Schwerkraft in die Glieder zieht und die Muskeln zu vibrieren anfangen. Auf dem Hinweg folgen wir den Spuren der anderen, immer im gleichen Rhythmus. Und auf dem Rückweg begegnen wir uns selbst wieder, den Eindrücken, die wir im Reich der Berge hinterlassen haben.

Die Bergwelt ist die Welt der gestiefelten Füße. Und für die, die sich höher hinauf wagen, ist sie auch eine Welt der Oberschenkel und der Unterarme, der Schultern und der Hände. Wer von einer Bergtour zurückkehrt, weiß, was er geleistet hat; er spürt es in seinem Körper, bis in die letzten Fasern seiner Muskeln. Man kommt nicht von allein auf den Berg; und man kommt auch nicht von selbst wieder herunter. Der Berg will bezwungen werden, gleich zweimal: zuerst wenn er uns beim Aufstieg zusieht und dabei mit kritischem Blick mustert, und dann wenn er uns beim Abstieg nachblickt und sich seinen Teil denkt. Manchmal kommt man dann selbst ins Grübeln und fragt sich: warum tust du dir das eigentlich an?

Ganz einfach: Es ist das Gespür für den eigenen Körper, das das Berggehen und das Bergsteigen zur Passion werden läßt, zu einer Leidenschaft, die den ganzen Körper durchzieht, von den Füßen über die Beine und den Rücken bis in den Kopf: Die Rhythmik der Bewegungen, die Balance der Gliedmaßen, der Akkord der Muskeln. Ist das nicht ein Wunder, wie alles in mir zusammenspielt, das Herz, der Atem, die Sehnen und Gelenke? Und nicht nur der Körper, auch der Geist und die Seele spielen mit, alles im Einklang miteinander. Wie ein Konzert, vollendete Harmonie. ‚Mich' ruf ich dann den Blumen zu, den Bergen und den Wolken, ‚auch mich hat euer Schöpfer zu dem gemacht, der ich bin'. Wer wissen will, wer er ist, wer sich selbst entdecken will, der muß in die Berge gehen. Denn in den Bergen kommt jeder zu sich selbst.


LESUNG Heiner Geißler, Bergsteigen als Passion (1997)
Jes 40, 28-31; Ps 19, 1, 5-7; Ps 90, 1-2

"Macht mir das Gipfelstürmen eigentlich Spaß? Was für eine Frage? Es ist ein sehr schönes Gefühl, auf dem Gipfel zu stehen, ein Gefühl des Glücks und der Freude, aber auch der Leistungsbestätigung. Und die Freude ist um so größer, je schwieriger der Aufstieg war. Bergsteigen ist eine immer wieder faszinierende körperliche und seelische, geistige und charakterliche Herausforderung. Es fordert Können und Umsicht, Solidarität und Moral. Etwas ist mir in den Bergen klar geworden: Glück stellt sich nicht ein, wenn alles leicht und bequem ist. Das Gefühl des Glücks ist die Antwort auf eine bestandene Herausforderung und das Ergebnis von Selbstüberwindung."

Jesaja 40: Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.

"Bergsteigen ist ein Abenteuer. Es gehört wahrscheinlich zu den letzten großen Abenteuern, die heute auf der Erde noch möglich sind. Es ist Sport in einer wilden und schönen Landschaft, in unmittelbarer Berührung mit der Erde und ihren Pflanzen, mit Fels und Eis in ständiger Abhängigkeit und Beobachtung von Sonne und Mond, den Sternen, dem Wetter, den Wolken am Himmel. Es sollte ein Abenteuer sein, das das Leben schöner macht."

Psalm 19: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Er hat der Sonne ein Zelt am Himmel gemacht; sie geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen ihre Bahn. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende; und nichts bleibt vor ihrer Glut verborgen.

"Die Berge sind für mich eine Zuflucht. Früher habe ich manchmal gedacht, daß man ganz weggehen können müßte, gerade in schwierigen Zeiten. Später wurde mir klar, daß ich, wenn ich nur noch in den Bergen wäre und Bergsteigen könnte, nicht unglücklich werden würde. Das Bergsteigen ist für mich eine Lebenserfüllung. Und ich weiß, solange ich das noch kann, kann mir vieles den Buckel rauf- und runterrutschen. Das Bergsteigen hat mich innerlich unabhängig gemacht. Ich kann in den Bergen fast alles vergessen, was mich stört. Man wird zwar vom Alltag wieder eingeholt, wenn man herunterkommt, aber man kann ja auch wieder hinaufsteigen. Und ich würde es dort oben sehr lange aushalten. Wenn ich dauernd in die Berge ‚müßte', würde mich das nicht schrecken."

Psalm 90: Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge waren und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.


CHOR James Furman, Go, tell it on the mountains


LESUNG Heinrich Clauren, Rast auf der Alm (1819)

"Endlich war die Sennerhütte erreicht. Sie hatte eine himmlische Lage. Die Jungfrau lag in ihrer ganzen Pracht dicht vor mir, hinter und neben ihr ragten das Mittagshorn, das Tschingelhorn und andere Riesengletscher hinauf; aber die Jungfrau hob über all diesen himmelhohen Felsen ihr silbergeschmücktes Haupt in die azurblauen Regionen ihres Gottes empor! Das sind die ewigen Grundpfeiler der Erde, diese zu den Wolken starrenden ungeheuren Granitfelsen.

Ich lag auf blumigem Rasen, und darüber die eisigen Gletscher. Rund um mich herum war alles so still, als habe hier der ewige Friede seine Altäre gebaut. Tief unter mir das freundliche Lauterbrunnen und das schauerlich-furchtbare Ammertental und in der Ferne das Tosen der Sturzbäche, die seit Jahrtausenden sich in die Täler ergießen und nimmer versiegen; und weiter hinab das einsame Klingeln der zerstreuten Herden, zuweilen auch das Meckern einer jungen Geiß oder das Schwirren eines lustigen Käfers, der sich bis hierher verirrte, um das Getümmel der Welt einmal von oben herab zu beschauen. Es war einer der seligsten Augenblicke meines Lebens. Eine namenlose Behaglichkeit ergoß sich über mein ganzes Inneres, ich hätte laut mich freuen mögen, wenn nicht eine gewisse Wehmut mein Gefühl gefesselt hätte. Ich kann es nicht beschreiben, aber es kam mir vor, als wär´ ich so fromm noch nie gewesen."


GEMEINDE Wem Gott will rechte Gunst erweisen


PREDIGT

Die Bergwelt ist eine vieldeutige Wirklichkeit, eine Welt mit doppeltem Boden: heimatlich und zugleich unwirtlich, wohl geordnet und zugleich unberechenbar, von beglückender Sinnlichkeit und voller irritierender Sinnestäuschungen. Sie zieht einen an und weist einen ab; sie verzaubert und sie zermürbt einen. Sie ist eine Region, in der viele das Lebensglück finden und manche ihr Leben lassen. Die Bergwelt ist eine andere Welt, eine Kontrastwelt zur alltäglichen. Sie ist zugleich eine Welt im Zwielicht, auf der Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Diesseits und Jenseits. Und sie ist eine heilige Welt, dem Himmel näher als der Erde.

1. Für viele von uns sind die Berge zu einer zweiten Heimat geworden. Sie haben sich in der Bergwelt eingerichtet wie in ihren eigenen vier Wänden. Auf vertrauten Wegen gehen sie auf ihre Hausberge. Sie rasten an ihren liebgewonnenen Plätzen und genießen die Aussicht, die sich längst in die Erinnerung eingegraben hat. Sie haben ihre Lieblingshütten; da kennt der Wirt seine Stammgäste und serviert ihnen die Brotzeit, noch bevor einer den Rucksack in die Ecke gestellt hat. Man singt die vertrauten Berglieder, tauscht Erfahrungen aus und begießt die unverbrüchlichen Freundschaften unter Bergkameraden. Wenn einer zum erstenmal in ihre Runde kommt, dann freuen sich die erfahrenen Wanderer auf den Zuwachs in der Bergfamilie und stellen ihm die umliegenden Gipfel und den Hüttenwirt vor.

Die Bergwelt ist eine Welt der Beständigkeit und der Zuverlässigkeit. Da wird nicht laufend umgebaut, ummöbliert und umgeräumt; da hat alles seinen festen Platz und seine gewohnte Ordnung. Als wollten sie sich davon überzeugen, daß hier alles beim Alten bleibt, daß die Berge immer noch an derselben Stelle stehen und die Wanderer noch immer so denken und sprechen wie früher, so zieht es die Bergbegeisterten morgens hinaus. Und wenn sie am Abend glücklich und zufrieden nach Hause kommen, dann sind ihnen ihre Berge noch enger ans Herz gewachsen. Die Bergwelt ist eine Heimat par excellence. Sie vermittelt uns das Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit. Gott hat die Berge für uns geschaffen. Und was Gott zusammengefügt hat, das kann kein Mensch voneinander trennen.

2. Wer sich mit den Bergen auskennt, der weiß freilich auch, daß er hier nur eine eng umgrenzte Heimat findet. Ringsum stehen die schroffen Gipfel, dicht gedrängt, wie ein unüberwindlicher Zaun. Man kennt sie mit Namen und spricht von ihnen, als seien es alte Bekannte. Aber wir waren noch nie wirklich dort. Und wir wissen, daß wir dort auch nie hinkommen können. Die in den Himmel ragenden Felsen gehören nicht zu unserer irdischen Bergheimat. Sie stehen jenseits unserer Bergerfahrung. Wir wissen nicht, wie die Welt von dort oben aussieht, manchmal nicht einmal, was sich hinter den Bergen ‚verbirgt'; wir können es nur erahnen. Und was wir wirklich von den zackigen Gipfeln wissen, das verheißt nichts Gutes.

Manchmal greifen die Berge das heimatliche Revier an. Mit sorgenvollem Blick sehen wir zu, wie sich hoch oben an den Gipfel etwas zusammenbraut, in Windeseile. Der blau-weiße Himmel verdüstert sich, die Sonne verschwindet. Es wird dunkel in der Bergheimat und kalt; bald wird es schneien. Dann müssen wir aufbrechen, so schnell es geht, und aus den eigenen vier Wänden fliehen. Die Berge nehmen uns, was sie uns gegeben haben: Geborgenheit, Zuverlässigkeit, Sicherheit. Sie werden von Vertrauten zu Fremden, von Freunden zu Feinden.

Manchmal überkommt einen auch die Abenteuerlust. Dann machen wir uns auf in unbekanntes Gelände und versuchen, die begrenzte Heimat Schritt für Schritt auszudehnen, die Grenzsteine zwischen Diesseits und Jenseits zu verrücken und die unbegangenen Berge in unser Tourenbuch aufzunehmen. Dann zeigt sich die Bergwelt von einer ganz anderen Seite: als eine Welt der Unberechenbarkeiten, der Überraschungen und Bedrohungen. Aus der verläßlichen Heimat wird eine fremde und unbegreifliche Welt, eine Wirklichkeit, in der andere Gesetze gelten.

Die Geometrie ist in den Bergen anders als im flachen Land. Die Distanzen lassen sich nicht richtig einschätzen. Das eine Mal sind wir plötzlich am Ziel, obwohl das eigentlich gar nicht sein kann; dann werden Köpfe geschüttelt und Karten studiert. Das andere Mal dehnt sich der Weg immer weiter, so als würde einer vor uns hergehen und hinter jeden Hügel einen neuen bauen. Man fängt dann an mit den Kräften zu sparen. Schließlich müssen wir umkehren, bevor wir das Ziel erreicht haben. Wir wissen, daß wir nicht ankommen, heute sicher nicht und vielleicht niemals. Manchmal verschieben sich auch die Raummaße. Wenn wir den Anmarsch hinter uns haben und mit dem Aufstieg beginnen wollen, dann steht eine kleiner Berg plötzlich wie eine hohe Wand vor einem. Der Weg ist uns verstellt. Es gibt kein Weiterkommen, nur noch die Umkehr.

Auch die Gravitationsgesetze funktionieren in den Bergen anders als im Flachland. Denn die Bergwelt ist die aufgestellte, die vertikale Welt. Auf der Ebene gibt einem die Schwerkraft Bodenhaftung. Den Rucksack geschultert schreiten wir mit sicheren Schritten vorwärts. Am Fels ist das anders; da zieht einen die Schwerkraft in die Tiefe; jeder Höhenmeter will erkämpft sein. Die Naturgesetze müssen mit Seil und Haken überlistet werden und mit einer anderen Gangart, senkrecht auf allen Vieren. Da wird der Körper immer länger.

Auch auf unsere fünf Sinne können wir uns in den Bergen nicht verlassen. Die Bergwelt hat ihre eigene Akustik. Laute und leise Töne vermischen sich miteinander, dunkle und helle Klänge überlagern sich. Das Summen der Insekten, das Plätschern des Baches, das Rauschen eines Wasserfalls, die knirschenden Schuhe im Sand, das helle Klappern von Steinplatten, wenn wir darübergehen, und das langezogene Rieseln, wenn das Geröll ins Rutschen kommt - alles fließt ineinander. Weiter oben dann die bleierne Stille des Himmels, als hätte einer den Ton der Außenwelt abgedreht, damit wir die Laute im Innern des Körpers besser hören können: das Klopfen des Herzens und das Summen im Ohr. Dazwischen das verwischte Zischen in der himmlischen Weite, wenn die Vögel im Wind segeln; eine berauschende und betörende Klangkulisse.

Und natürlich die Verschiebung der optischen Perspektiven. Morgens geht der Blick im Schatten der Berge nach oben bis an die beleuchtete Grenze zwischen Himmel und Erde. Mittags dann der ersehnte Gipfelblick: die unendliche Weite, wo das Auge keinen Halt findet; ringsum das Panorama der Gletscher und unten im Tal die irdische Welt als Miniatur. Die Häuser, die Felder, die Wegnetze und die Bachläufe, alles im Kleinformat und alles so wohl geordnet, wie am 7. Schöpfungstag: ein kleines Paradies. Man möchte nicht glauben, daß das unsere Welt ist, bis dann beim Abstieg alles wieder die gewohnten Proportionen annimmt. Und mit jedem Schritt verliert sich der Zauber der anderen Optik.

Aber wer aus den Bergen zurückkommt, der weiß etwas von der anderen, der zweiten Wirklichkeit. Die Welt geht nicht in dem auf, was wir tagtäglich von ihr wahrnehmen. Es gibt eine Welt jenseits des tristen Alltagslebens. Wir haben die himmlische Welt gesehen. Und wir wünschen uns, etwas von der oberen Wirklichkeit in die untere mitzunehmen: die Freiheit über den Wolken, die Gelassenheit, wenn die Alltagswelt in Vergessenheit gerät, eben: das Glück der Berge. Und wenn uns dann der Berg wieder ruft, dann bekommen wir Herzklopfen. Wir folgen seinem Appell und lassen uns in die andere Welt entführen.

3. Die Berge sind eine andere Welt, eine Welt, in der es nicht mit rechten Dingen zugeht. Das haben schon unsere Vorfahren geahnt, längst bevor sich einer getraute, als erster einen Fuß über die Grenze zu setzen und in die fremde Welt einzudringen. Die Höhenlinien grenzten die aufeinander aufgeschichteten Wirklichkeitsregionen voneinander ab. Unten in den Tälern legten die Bauern ihre Felder an, die Obstgärten und die Weinberge, irdische Abbilder des Paradieses. In der unteren Wirklichkeit brachten die Frauen ihre Kinder zur Welt; und wenn ein Leben zu Ende gegangen war, dann gaben sie es der Erde zurück. Sie schütteten einen kleinen Erdhügel auf und setzten ein Kreuz darauf; der Bergfriedhof ist noch heute ein Abbild der Berge, auf denen die Gipfelkreuze stehen. Weiter oben, in den steilen Bergschluchten hausten fremdartige Wesen, Drachen und Dämonen, von denen man nur aus grausamen Märchen wußte; und es war besser, nicht mehr von ihnen zu erfahren. Ganz droben, auf den Alpengipfeln, wohnten die Götter, die die Seelen der Toten zu sich holten, in eine Welt, die einem zu Lebzeiten verschlossen blieb, fern und unzugänglich.

Über die Jahrhunderte hinweg blieben die Berge geheimnisumwittert. Der Kyffhäuser, wo Kaiser Friedrich von Hohenstaufen nach seinem Tod in das Innere des Berges entrückt wurde; die Venusberge, in denen der Teufel im Kreise der verdammten Seelen hauste; der Fuji, wo auf der Baumgrenze die Trennungslinie zwischen Erde und Himmel verläuft; der Ararat, der als ‚Mutter der Welt' gilt und wo Noah mit der Rettungsarche gelandet sein soll; der Olymp und der Athos und natürlich die feuerspeienden Berge: der Ätna, die Schmiedewerkstatt der Zyklopen, oder der Stromboli, wo einst der Gott der Winde zuhause war. Wer schon einmal beim Anflug auf Teneriffa den Gipfel des Teide gesehen hat, den Vulkankrater, der auf der undurchdringlichen Monsunwolke aufsitzt, der weiß für immer, wo die Götter wohnten, bevor die Bergtouristen zu ihnen hinaufkletterten und sie vollends in den Himmel vertrieben.

Inzwischen haben sich die letzten Geister und Dämonen und nach ihnen auch die Göttinnen und Götter aus den Bergen zurückgezogen und ihre Welt den Menschen überlassen. Die Erdenbürger bestiegen die Berge und besiedelten die Almen. Der Alpenverein legte ein feingliedriges Wegenetz mit genauen Beschilderungen an. Für die Bequemeren unter den Bergwanderern wurden Lifte gebaut, für die richtigen Bergsteiger Haken in den Fels geschlagen. Jetzt tummeln sich auf den Bergen Massen von Sportbegeisterten: Wanderer und Kletterer, Snowboarder und Paraglider.

Die Berglandschaft wurde entmythisiert und profanisiert; sie wurde zu einem Bestandteil der gewöhnlichen, der irdischen Welt. Aber so ganz ließen sich die Berge nicht in das eindimensionale Weltbild der aufgeklärten Zeitgenossen einplanieren. Die Bergwelt behielt ihren Charme, ja sie bekam ihr Geheimnis gerade von denen zurück, die es ihr Zug um Zug geraubt hatten. Denn bei den schnellebigen Stadtmenschen lösten die uralten Gebirgsformationen heftige Emotionen aus. Die Gipfel und die Schluchten, der Fels und das Eis wurden zu Kulissen romantischer Idyllen stilisiert, tausendfach in Öl gemalt und in gefühlsschwere Gedichte gefaßt.

Die Berge wurden mit himmlischem Glanz versehen und mit sagenumwobenen Figuren bevölkert. Anstelle der Dämonen zogen die Jäger und die Wilderer in die Berge ein, allen voran der Jennerwein vom Tegernsee; und auf der sündlosen Alm ging die von einer erotischen Anziehungskraft umgebene Sennerin ihrer naturverbundenen Arbeit nach. Bergromane und Bergfilme führen uns die Dramatik der Bergwelt vor Augen. Vor den hohen Kulissen der schwedischen Berge, im Björntal, singen ewig die Wälder. Und weit droben, auf der schweitzerischen Alm, beim Peter und beim Almöhi findet Heidi die Freiheit, die sie in der Frankfurter Stadtluft vergeblich suchte.

In den Bergen wohnt die Freiheit - so lautet bis heute das vielstimmige Credo der Bergreligion. Für den einen ist es die frische Luft der Bergwälder, in denen sie den Hauch der Schöpfung atmen; für die anderen sind es die bedrohlichen Grenzsituationen, in denen sie sich selbst austesten und ihre Spielräume erweitern. Und allen liegt die Erhaltung der Natur am Herzen, die Bewahrung der Welt, in der sie Glück suchen und Gott finden. Sie alle versammeln sich zu Bergwallfahrten und Berggottesdiensten. Denn sie spüren, daß die Religion der Berge seit altersher im christlichen Glauben verwurzelt ist.

4. Wer im Alten und im Neuen Testament blättert, der wird ständig durch eine symbolgetränkte Bergwelt geführt. Der Berg ist Sinnbild der Wohnung Gottes; er ist zugleich die heilige Stätte, wo sich Gott dem Menschen offenbart. Wer einmal den Sonnenaufgang auf dem Sinai erlebte, der braucht keinen Hollywood-Film mehr anzusehen, um zu begreifen, warum Mose die steinernen Tafeln auf einem Berggipfel entgegennahm. Und wenn er nicht von Touristenscharen aus aller Welt umgeben wäre, dann würde er die Arme ausbreiten, um nachzuerleben, wie das damals war, als Mose die Schlacht gegen die Amalekiter aus der Bergperspektive beobachtete, mit weit ausgebreiteten Armen, mit einer liturgischen Segensgeste und zugleich in der Körperhaltung, in der Jesus Jahrhunderte später auf einem kleinen Berg vor den Toren Jerusalems starb. Und dann: die letzte Aussicht des Mose auf das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließt, bis er dann drunten im Talgrund zu Grabe getragen wird.

Die Landschaft, die sich Mose von Gott erklären ließ, ist die Berglandschaft Palästinas mit ihren beiden großen Gebirgsketten diesseits und jenseits des Jordan. Es ist die Landschaft, wo Jesus auf einem Berg vom Teufel auf die Probe gestellt wurde: ‚schau dich um; alles, was du siehst, soll dir gehören, wenn du auf die Knie fällst, und mich anbetest'. Und es ist die Region, in der Jesus, der Wanderprediger, seine Bergpredigt hielt. Auf einem Berggipfel wurde Jesus verklärt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und von einem Berg stieg er in den Himmel auf; eine Wolke nahm ihn mit sich in die unendliche Weite; den Jüngern blieb nur der Abstieg ins Tal und die Hoffnung, daß Gott sie einst zu sich holen würde in das Reich der Himmel. Und zwischen den vielen biblischen Berggeschichten die Erzählung von dem Berg, der uns Christen ins Herz geschrieben ist, der Berg mit den drei Holzkreuzen, der Galgenberg vor den Toren Jerusalems.

Einmal im Jahr machten sich die israelitischen Familien auf den Weg, hinauf nach Jerusalem. Wenn man ihre Wallfahrtslieder nachsummt, die Psalmen, die die Pilger sangen, dann hören wir von einem Berg, den es nur in der Vorstellung gibt, nicht wirklich. Heute findet man den Berg Zion in den Stadtplänen Jerusalems verzeichnet, südwestlich der Stadtmauer. Aber für das wandernde Gottesvolk war der Zion mehr als eine geographische Erhebung. Zion, das war der Name für eine Stadt, die sich die Menschen nur in ihren kühnsten Träumen ausmalen können, und zugleich der Berg, der die Gipfel Kanaans und die Berge aller Länder überragt, der einzige Berg, den Gott für sich selbst geschaffen hat, nur für sich.

Aber das sollte nicht für immer so bleiben. Das Ende der Zeit dachten sich die Israeliten als eine große Wallfahrt, bei der die Völker der Erde von allen Seiten zum Bergsitz Gottes kommen und ihm huldigen werden. Und wenn sich die Herzen der Frommen vom irdischen Jammertal lösten und ihre Gedanken in die Ferne schweiften, weit über Berg und Tale, weit über Flur und Feld, dann spürten sie einen Hauch der Welt, in der Gott am Ende der Zeit auf uns wartet. Dann wird für uns alle gelten, was der Psalmsänger einst an der Spitze der Wallfahrt gesungen hat: ‚Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Gott, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird meinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Der Herr behüte dich vor allem Übel; er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit'.


GEMEINDE EG 150, 1-3 Jerusalem, du hochgebaute Stadt


FÜRBITTEN EG 178.9 Kyrie eleison

Die Aussicht des Gipfels führt uns die überwältigende Schönheit der Schöpfung vor Augen. Vater, laß uns offen bleiben für diese Momente des vollkommenen Glücks. Denn nur allzu schnell bauen wir in unserem Alltag eine Mauer um uns und erkennen nicht mehr die Schönheit unserer Umgebung, die Herzlichkeit unserer Mitmenschen, das Gnadengeschenk unseres Daseins, in der deine Liebe zum Ausdruck kommt.
Vater wir rufen zu dir

Kein Gipfelglück ohne mühevollen Aufstieg,
kein erkennender Weitblick, ohne den nötigen Abstand zum Alltäglichen und Althergebrachten errungen zu haben.
Wir bitten dich, Vater,
schenke uns den Mut, festgefahrene Denkweisen und Lebensmuster hinter uns zu lassen, wecke in uns die Neugier und die Sehnsucht nach neuen, unbekannten Wegen.
Wir rufen zu dir

Gipfelsturm ist Ausnahme-Erlebnis. Kein Mensch der Welt ist auf dem Gipfel daheim; unser Zuhause ist das Tal, mit seinen Menschen; seinen Dörfern; seiner Lebhaftigkeit; seinem Alltag.
Vater wir bitten dich: Laß uns in diesem Tal nicht nur die "Talsohle", den "Tiefpunkt" des Lebens sehen; laß uns auch die Gemeinschaft erkennen, die wir dort finden dürfen, die Normalität des Lebens, ohne die uns so oft die Kraft ausgehen würde.
Wir haben im Tal nicht das erhabene Erlebnis des Gipfels; aber richtig verstanden kann das Tal, umringt von den umliegenden Bergen, für uns zum Schutzraum werden, an dem wir Kraft für neue "Gipfel-Stürme" schöpfen können.