Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr (Volkstrauertag), 18.11. 2001
Predigt über Jeremia 8, 4-7, verfaßt von Ulrich Braun

Sprich zu ihnen: So spricht der Herr: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit Leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.

Liebe Gemeinde!

Gibt es das Killer-Gen? Existiert also ein Verbrecher-Gen, dass einen Menschen rettungslos auf die Bahn der Zerstörung und letztlich der Selbstzerstörung setzt? Diese Möglichkeit lässt sich mindestens nicht mit Sicherheit ausschließen. Die Frage vereinfacht die Sache natürlich geradezu fahrlässig. Aber sie ist so etwas wie die zeitgenössische Erscheinungsform des alten Grundproblems: ob Menschen nämlich frei sind, oder ob der Text ihrer Zukunft bereits irgendwo geschrieben steht.

Zur Zeit sind es die Buchstaben der genetischen Informationen, aus denen wir Aufschlüsse über den Text unserer Zukunft erwarten. Mehr als uns lieb ist scheint in unseren Genen geschrieben. Größe, Haar- und Augenfarbe, Krankheitsdispositionen und ein Großteil der Anlagen, die über unsere Lebenserwartung entscheiden. Da kann man schon auf den Gedanken verfallen, auch Charaktereigenschaften und letztendlich handlungsleitende Faktoren könnten in den Genen festgeschrieben sein.

Vollkommen auszuschließen ist das nicht. Jedenfalls existiert bislang kein schlüssiger Beweis für die ein oder andere Seite, und möglicherweise kann dieser Beweis so niemals erbracht werden. Mit der Behandlung der Frage nach dem Killer-Gen führen wir also einen Indizienprozess.

Was es gibt, sind Beispiele notorischer Tunichtgute. Jede Lehrerin, jeder Lehrer kennt seine und ihre Pappenheimer. Ohne besonders vorurteilsbeladen zu sein, ist der Kreis der üblichen Verdächtigen in der Regel einigermaßen überschaubar.

Unter diesen üblichen Verdächtigen gibt es dann jede Form von Abstufung von liebenswert und pfiffig bis unverbesserlich und uneinsichtig. Alles irgendwie noch bekannte und nicht vollends beunruhigende Phänomene.

Vollends beunruhigend ist erst die Spielart, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder aufgetreten ist: Die verstockte, keinem guten Zureden zugängliche Bosheit, die auch noch mit großem Aufwand an lautstarker Selbstbehauptung auf der Richtigkeit des eigenen Irrwegs besteht.

Ein Mob hat einst in Straßen Athens den Tod des Sokrates gefordert und ebenso hat eine Volksmenge in Jerusalem nach dem Henker für Jesus gerufen. Verblendete fanatisierte, irgendwie unfreie Menschen, die dem Gesetz der Gruppe und der Masse folgten.

Wenn die Pferde einmal durchgegangen sind. Gibt es kein Halten mehr - wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt, beschreibt der Prophet Jeremia diesen bedenklichen Zustand.

Menschen haben sich immer wieder in den Sog dieser Phänomene ziehen lassen. Kreuzritter sind gegen Jerusalem gezogen, die Heilige Stadt zu befreien. Auf ihren Wegen sind sie oftmals im Blut derer, die sie Heiden nannten, gewatet. Menschen haben sich zur Herrenrasse ausgerufen, haben andere verfolgt und den Mord an den vermeintlichen Untermenschen industrialisiert. Menschen sind im Namen eines Glaubens bereit, andere umzubringen.

Folgen Menschen damit einem genetischen Programm, einem Gesetz ihrer Natur? Dann wäre also der Text der Kreuzzüge, Lynch-, Rache-, Lust- und Massenmorde in die Erbinformation der Menschheit eingeschrieben - und es spräche Einiges dafür, dass sich dieser Text in die Zukunft fortschreiben wird.

Angesichts der geschichtlichen Verstrickungen des Menschen können wir eigentlich nur in gewaltige Depressionen geraten. So gewaltig kann die Depression sein, dass Entlastung not tut. Und diese Entlastung könnte darin gefunden werden, dass der Geschichte menschlicher Bosheit geradezu naturgesetzlicher Rang zugemessen wird - die Festlegung durch die Gene, eine Fehlprogrammierung der Schöpfung sozusagen, wäre die zeitgenössische Variante. Sie würde die Situation des Menschen nicht wirklich verbessern, aber wir wären wenigstens nicht mehr selber Schuld an dem ganzen Elend.

Diesen Ausweg der Entlastung gestattet der Prophet Jeremia seinen Zeitgenossen nicht. Es steht schlimm um sie. Sie gehen offenkundig in die Irre und machen keinerlei eventuell umzukehren und den eigenen Kurs zu überdenken. Im Gegenteil: sie beharren darauf, den alleinseligmachenden Weg gefunden zu haben.

Jeremia zeichnet ein wahrhaft deprimierendes Bild. Und das Allerschlimmste daran ist, dass die Zeitgenossen eben nicht einem tödlichen Naturgesetz und dem Text ihrer genetischen Bestimmung, sondern ihrem Willen folgen. Sie tun, was sie tun, freiwillig. Sie könnten auch anders. Jedenfalls tun sie, was sie tun in dem Bewusstsein, es gewählt und selbst entschieden zu haben.

Ob es das Killer-Gen gibt? Es lässt sich weder ausschließen, noch beweisen - derzeit nicht und vielleicht niemals wirklich. Aber als Entlastungsstrategie scheitert die Suche nach einem Naturgesetz des Bösen wenigstens im Jeremia-Text vollständig.

Die Tiere folgen den Gesetzen ihrer Natur. Storch, Turteltaube, Kranich und Schwalbe kennen die Rhythmen ihres Zuges. Sie kennen die Wege und werden von ihren Instinkten sicher geleitet. Kämen sie je von ihren Wegen ab, hätte die Natur versagt. Darauf können wir Menschen uns offenbar nicht herausreden: "aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen!",

Das ist der entscheidende Unterschied: Das Tier folgt der Navigation der Natur. Der Mensch muss für das einstehen, was er als seinen Weg wählt. Das ist eine wenig tröstliche Lösung unseres Problems. Menschen gehen zwar mit erschütternder Häufigkeit in die Irre, aber sie sind auch noch selber schuld.

Wenn uns Jeremia schon keinen Trost anzubieten vermag, dann zwingt er uns doch zur Nachdenklichkeit darüber, was wir mit den Indizien machen, die uns auf den Gedanken haben verfallen lassen, es müsse wohl eine Art von Naturnotwendigkeit sein, die den Menschen zum Bösen bestimmt. Spuren dessen finden sich ja auch an prominenter Stelle der biblischen Geschichten.

Die Karriere des Menschengeschlechts beginnt mit dem Sündenfall und wird sogleich mit dem Brudermord des Kain an Abel fortgesetzt. So dauert es auch nur acht Kapitel, bis selbst Gott, dessen Schöpfungsbilanz doch ursprünglich gelautet hatte: Und siehe, es war sehr gut!, feststellt: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.

Also doch: unverbesserlich, resozialisierungsresistent, notorisch, rettungslos. Folglich kommt nur Sicherheitsverwahrung in Frage..

Wenn aber das Gesetz des Bösen nicht einfach Natur und eine Fehlprogrammierung des Menschen ist, dann muss der Fehler anderswo in der Schöpfung liegen. Dieser Fehler ist die menschliche Freiheit. Und sie ist zugleich das größte Geschenk, das Gott seinem Geschöpf gemacht hat, um dessentwillen er sagen kann: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner.

Gott hat den Menschen nicht einfach programmiert, sondern seinem sein die Offenheit hinzugefügt (1) . So beschreibt es der Philosoph Rüdiger Safranski in seinem Buch "Das Böse oder das Drama der Freiheit".

Das Drama der Freiheit ist es eben, dass der Mensch wählt. Er muss es, und das ist angesichts der vielfältigen Gefahren und drohenden Irrwege ein ziemliches Drama. Die Sehnsucht nach dem Paradies kleidet sich dabei zumeist in die Erinnerung an die Kindheit, da alles noch einheitlich und fraglos war.

Paradies bedeutet Einheit, aber noch nicht wirklich Bewusstsein von Freiheit, weshalb Hegel das Paradies abschätzig als "Garten der Tiere" bezeichnete. Unsere Erinnerung lässt uns glauben, dass wir alle die Austreibung aus dem Paradies schon einmal und zwar selbst erlebt haben - als unsere Kindheit zuende ging .(2)

Da stehen wir nun mitten im Drama der Freiheit und finden bei Jeremia jedenfalls keinen Trost. Vielleicht nur so viel: Selbst angesichts der Verstocktheit des Menschen nimmt Gott das Geschenk der Freiheit nicht zurück. Er behaftet den Menschen bei seiner Verantwortung - und belässt ihm so seine Würde. Der Mensch wird nicht einmal angesichts seiner verheerenden Geschichte entmündigt.

Die Würde des Menschen bedeutet dann auch, ihm weiter zuzumuten, den Text seines Lebens selbst zu verfassen. Akteur und Autor zu sein im Drama der Freiheit.

Das ist schon eine erbarmungswürdige Existenz, die Menschen führen müssen. Mitten im streckenweise entmutigenden Drama des Lebens soll Vergebung und Erbarmung eben nicht Entmündigung heißen. Vergebung und Erbarmung wird aber die Offenheit des Lebens festhalten und bewahren, dass nämlich Umkehr möglich sein soll und Veränderung. Dass am Ende einer doch sagen kann: Was haben wir getan? Dass ihm seine Bosheit Leid tut und er sein leben zu ändern vermag, obwohl er derselbe zu bleiben verurteilt ist, der er zuvor gewesen ist.

Am Ende scheint ein Trost durch den strengen Zorn Gottes hindurch: Nicht die Ermäßigung, dass wir für den Text des Lebens, sei es durch unsere Gene, sei es durch eine andere Festlegung der Natur, am Ende nicht verantwortlich wären, sondern einfach die pragmatische Feststellung, dass die Zukunft noch nicht geschehen ist. Nirgends steht geschrieben, was in ihr geschieht. Aber was uns ist, zu entscheiden, werden wir zu verantworten haben.

Amen

(1) Vgl. Rüdiger Safranski, Das Böse - oder das Drama der Freiheit, München 1997, zitiert nach Taschenbuchausgabe, Frankfurt 1999, S. 24
(2) vgl. ebd. S. 25

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen-Nikolausberg
EMail: Ulrich.F.Braun@t-online.de