Reformationstag, 31. Oktober 2001
Predigt über Jesaja 62, 6-7.10.12, verfaßt von
Juhani Forsberg, Finnland

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!

Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen "Heiliges Volk", "Erlöste des Herrn" und dich wird nennen "Gesuchte" und "Nicht mehr verlassene Stadt".

I
Auch die letzten Gefangenen waren auf dem Wege zur Heiligen Stadt. Sie war von dem fremden Eroberer beschämt und zerstört worden. Ihr Name und ihre ursprünglichen Einwohner waren entehrt. Der alte Glaube an Gott, der sein Volk leitet und schützt, war ins Schwanken geraten. Die Unsicherheit vor der Zukunft war handgreiflich. Wenn Gott, gegen seine eigenen Verheissungen, das Leben seines Volkes nicht mehr mit seinen Gütern segnet, woran kann man dann noch glauben?

Die weltpolitische Wende ermöglichte es, dass die armseligen Gefangenen und Zwangsumgesiedelten allmählich zurückkehren konnten. Der mühsame Wiederaufbau der Heiligen Stadt war begonnen, aber manche Unterbrechungen und Rückschläge machten auch die Wiederherstellung des alten Glaubens schwierig.

Es ist aber doch einer, der glaubt oder wenigstens hofft. Er ist ein Visionär, der im prophetischen Geist noch das Volk ermutigt. Er kann nicht schweigen, bis die Ehre der Heiligen Stadt wiederhergestellt worden ist. Was aber bedeutet die "Wiederherstellung" nach seiner Vision? Er spricht allerdings mit schönen Metaphern von dem kommenden Ruhm der Stadt und gibt Mahnungen an die Wächter auf ihren Mauern. Aber er spricht kein Wort von den ehemaligen irdischen Reichtümern oder von den unüberwindlichen Kriegsheeren mit ihren tapferen Soldaten, die den Nachbarnvölkern als Zeichen der alten Macht gelten sollten.

Nein, jetzt sind Wächter nötig, d.h. Beter und Erinnerer Gottes, die nicht schweigen, wie der Prophet selbst nicht schweigen kann. Die Aufgabe dieser Wächter ist nicht so sehr, vor den äusseren Feinden zu warnen, sondern Gott selbst daran zu erinnern, was er seinem Volk verheissen hat. Die Beter sollen sich selbst keine Ruhe gönnen, aber sie sollen auch Gott keine Ruhe geben. Die Beter sollen Gott solange daran erinnern, "bis seine Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und sein Heil brenne wie ein Fackel" (Jes 62:1).

Gerechtigkeit und Heil, sie sind die wahren Zeichen der Wiederherstellung der Heiligen Stadt. Die Beter bewirken mit ihrem Wächteramt nicht das Heil, sondern das Heil kommt von Gott. Das Heil kommt, obwohl es noch nicht sichtbar ist. Schon jetzt aber ist die Zeit da, in der das Volk die Verheissungen Gottes ergreifen und seinem Heil vorgreifen kann. Noch ist die Schande der Heiligen Stadt nicht vorbei, aber ihr neuer Name bringt ihre wiederhergestellte Herrlichkeit ihrem Volk, damit sie sie schmecken und ihre Nachbarn sie bewundern. Sie ist "Nicht mehr verlassene Stadt" weil in ihr "Heiliges Volk" und "Erlöste des Herrn" wohnen.

II
Die christliche Kirche entstand, als das kommende Heil in Jesus Christus sichtbar wurde. Die alten Propheten, gleichgesinnt mit den Wächtern auf den Mauern Jerusalems, hatten es schon vorgesehen: "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir..." "Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!" (Mt 21:5,9). Gerechtigkeit und Heil war auch jetzt der Inhalt der Verheissungen Gottes, sichtbar in Worten und Taten des Herrn, und noch mehr, in Jesus Christus selbst. Seine Person und seine Botschaft wurde nur von wenigen angenommen, aber zugleich wurde das Heil greifbar - nicht nur den Einwohnern der Heiligen Stadt, sondern allen Menschen und Völkern. Die Aussenstehenden blieben nicht nur Bewunderer des Heils, sondern sie wurden eingeladen, daran teilhaftig zu werden.

III
Wir, die heute den Reformationstag feiern, leben in einer Situation, die uns an die Worte des Visionärs erinnern. Wir glauben und hoffen, dass die ursprüngliche Botschaft von der Gerechtigkeit und von dem Heil Gottes nicht nur uns, sondern auch die "Aussenstehenden" überzeugen kann. Im Laufe der Jahrhunderte sind aber auch wir selbst unsicherer geworden, ob die alte Botschaft von Gerechtigkeit und Heil, die allein aus der Gnade Gottes kommt, noch gilt. Wir müssen auch uns selbst die Frage stellen, ob wir selbst inzwischen fremde Stützkonstruktionen gebaut haben, um unser Heil zu erreichen.

Wir feiern den Reformationstag zu dem Zeitpunkt, wo plötzlich auch eine äussere Unsicherheit uns alle überrascht hat. Wir haben uns doch lange an den Gedanken gewöhnt, dass keine allzu ernste Gefahr unseren normalen Lebenslauf bedrohen wird. Die Sicherheit des Lebens war eine Selbstverständlichkeit geworden. Natürlich haben wir alle schon immer gewusst, dass jeder Mensch sterblich ist. Aber dabei haben wir unser Leben - mehr oder weniger bewusst oder unbewusst - auf die Entwicklung einer relativen Sicherheit gebaut. An einem Tage aber wurde alles verändert. Wir alle fühlen uns bedroht. Nicht nur unsere Stützkonstruktionen des Lebens, sondern auch unser Glaube ist erschüttert. Hat es noch einen Sinn, an die Verheissungen von Gerechtigkeit und Heil zu glauben? Wo ist jetzt unser Gott?

Diese doppelte Unsicherheit hat verursacht, dass unsere Feier des Reformationstages schon im voraus alle Möglichkeiten einer oberflächlichen Selbstzufriedenheit verloren hat. Das ist aber letzten Endes kein Verlust sondern ein Gewinn. Wir sind gezwungen, zu den ursprünglichen Quellen unseres Heils zurückzukehren. Dabei leisten die Worte des Propheten eine heilsame Hilfe.

Lasst uns mit neuen Ohren den Worten des Propheten zuhören, die uns zum Wächteramt rufen. Wir sind nicht beauftragt, uns mit unseren Kräften nur gegen die Feinde zu wehren, die unsere Selbstzufriedenheit zerstört haben. Wir alle sind eingeladen, wieder Beter und Erinnerer Gottes zu werden. Dabei wird zugleich uns selbst wieder bewusst, wo unsere Gerechtigkeit und unser Heil zu finden sind. Noch mehr, uns wird auch wieder bewusst, was die Gerechtigkeit und das Heil in dieser Welt und für diese Welt bedeuten.

Das Heil ist nicht das Werk der Beter. Das ist ein Geschenk Gottes, dessen wir ohne unser Zutun teilhaftig werden. Wir sind aber eingeladen, in einem nie schweigenden Gebet, Gott selbst daran zu erinnern, was er uns versprochen hat. Das Heil ist ein reines Geschenk von Gott, aber das macht unser Gebet nicht überflüssig. Das Werk des Gebets ist ein harter Kampf angesichts der Unsicherheit des Lebens. Es ist aber zugleich eine uns gegebene trostvolle Möglichkeit, uns völlig der Gerechtigkeit und dem Heil Gottes zu überlassen. Auf diese Grundlage können wir die Feier des heutigen Tages stellen!


Juhani Forsberg
Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands
Hauptreferent für Theologie im Kirchlichen Aussenamt
juhani.forsberg@evl.fi