19. Sonntag nach Trinitatis, 21. 0ktober 2001
Predigt über Johannes 5, 1-16, verfaßt von
Andreas Pawlas

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.("Sie warteten darauf, daß sich das Wasser bewegte. 4 Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt.") Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Liebe Gemeinde!

Ist das nicht eigentlich eine Zumutung: Denn da fragt Jesus doch tatsächlich diesen Menschen, der da achtunddreißig lange Jahre krank krank und lahm dalag auf seinem Bett, "Willst du gesund werden?" Muss das für den nicht beinahe so sein, wie eine schallende Ohrfeige?

Da sehnt sich einer so viele Jahre mit allen Faserns seines Wesens danach, endlich wieder gehen, laufen, springen, ja tanzen zu können, und dann diese Frage, ob er gesund werden will. Hätte der Kranke da nicht aufschreien müssen? Hätte er da nicht den neben ihm liegenden Teller, seinen Becher oder sogar seine Krücke in diesem Aufschrei der Empörung nach Jesus werfen müssen, diesem offensichtlichen Menschenverächter, diesem steinherzigen Fremden, diesem Verspotter allen Elends?

Aber, liebe Gemeinde, hören wir da eigentlich auch nur andeutungsweise etwas von einem solchem Wutausbruch? Ist uns auch nur mit einem Nebensatz etwa so ein Aufschrei der missachteten Kreatur berichtet? Nein? Das macht mich stutzig.

Oder hatte der lahme Kranke einfach nicht mehr die Kraft dazu, seine ganze Verletzung und Empörung in die richtigen Worte und Taten zu kleiden? Oder - hatte er vielleicht nach einiger Zeit gewusst, sich in seiner Krankheit und in seinem Unvermögen irgendwie einzurichten?

"Nein, ich weine nicht mehr", sagte mir die junge Frau, die seit vierzehn langen Jahren an Multipler Sklerose leidet, und wo ich bei jeden Besuch sehen kann, wie alle ihre Bewegungsmöglichkeiten von Monat zu Monat schlechter werden. "Nein, ich weine nicht mehr", sagt sie, "ja, vor Jahren, da habe ich so viel geweint aber jetzt kann ich nicht mehr weinen." Und sie muss ja auch irgendwie ihren Alltag bewältigen, sie muss ja auch schauen, wie sie irgendwie mit allem zurecht kommt. Das alles ist ja schwierig genug. Und so hat sie sich mit ihrem Unvermögen arrangiert. So hat sie sich recht und schlecht in ihrem Unvermögen eingerichtet: Nein, Hoffnung ist da nicht mehr. Es geht nur noch darum, irgendwie über die Runden zu kommen. Und selbst das kostet ihr schon so viel Kraft, dass sie mittags ganz erschöpft zum Mittagsschlaf in die Kissen sinkt. Nein, ja nicht an den morgigen Tag denken, der eigentlich nur noch Schlimmeres bringen kann. Am Besten überhaupt nicht denken.

Kennen wir solches Gefühl eigentlich, aus unseren eigenen Enttäuschungen, aus unseren eigenen Leiden, aus unseren eigenen Sorgen? Worauf sollten wir denn auch noch hoffen, wie haben doch alles probiert. Alle Ärzte, alle Behörden, alle professionellen Helfer und Ratgeber sind doch schon durchgefragt und haben dann ihre Hilflosigkeit mündlich und schriftlich festgestellt. Und was machen da eigentlich z.B. die vielen, vielen kränkenden Absagen, die ein junger Mensch heutzutage auf Anfragen für eine Lehrstelle bekommt, Schlimmes mit seiner Seele?

Ja, worauf sollten wir dann noch hoffen? Es kann doch nur um das vorsichtige Bewahren der geringen Kräfte und Antriebe gehen, die uns nun noch verblieben sind. Es kann doch nur darum gehen, alles Leben vorsichtig wie in ein Schneckenhaus zurückzuziehen; denn es ist alles wund und empfindlich genug. Darum keine Wut mehr, nein, keine Empörung mehr, kein Schreien und kein Weinen mehr. Und dieses Lähmende, von nichts und niemandem mehr etwas zu erhoffen, wird irgendwann nicht einmal mehr ausgesprochen. So ist in der wundpflegenden Stille mit einem Male die vergiftende und zerstörende Sünde der Hoffnungslosigkeit ganz selbstverständlich zu Hause.

Aber dann bricht mit einem Male die Frage Jesu Christi in unser Leben ein; "Willst du gesund werden?" Und wenn Christus da mit einem Male vor einem steht, und fragt: "Willst du gesund werden?", dann ist manch einer vielleicht so verwirrt, dass er gar nicht mehr weiss, was er denken soll. Heisst das etwa, die Beine wieder bewegen können, wie früher? Aber was soll mir das nützen, wenn ich so hoffnungslos und traurig bleibe, wie ich jetzt bin? Oder heisst das etwa, das Leben wieder in die eigene Hand nehmen nehmen dürfen? Aber wie soll das gehen, wenn die achtundreissigjährige Lähmung von Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit mich nach wie vor eisern gefangen halten und ich darum nur alles grau in grau sehe? Wie würde es sich darum für mich anhören, wenn mit der Frage Jesu Christi "Willst du gesund werden?" mitklingen würde: "Willst du wieder eine Perspektive haben?" "Willst du wieder lebendig werden?" "Willst du wieder froh und dankbar werden?"

Jedoch vielleicht würden wir zunächst genauso wie der lahme Kranke am Teich Betesda irgendetwas Unzusammenhängendes, Verlegenes oder Verwirrtes stammeln. Denn der, der so fragt und einen dabei so anschaut, der sieht nicht so aus, als würde es ihm dabei um Floskeln gehen.

Aber wie sollte das denn wirklich gehen, gesund zu werden, und alles wirklich neu und anders zu haben an Leib und Seele? Es ist doch schon alles ausprobiert worden. Es hat doch alles schon nichts genützt. Und wie sollte man etwas wollen mögen, das wirklich kein Mensch kann. Ja, liebe Gemeinde, das klingt zwar so vernünftig, aber letztlich ist darauf nur zu sehen, wie die Sünde der Hoffnungslosigkeit es mit ihrem einschläfernden Gift erreicht hat, dass man niemandem, weder Gott noch der Welt irgendetwas zutraut.

Darum also: solange der Verstand noch einigermassen funktioniert schnell etwas dahergesagt: Etwa darüber, wie man schnell in das heilsame Wasser kommen kann oder eben auch nicht. Und es ist ja auch schon ganz nett, wenn einmal ein Fremder mit einem spricht.

Aber insgeheim weiss das natürlich jeder: wenn man das mit dem ins Wasser kommen, bzw. eben nicht ins Wasser kommen, wirklich ernst genommen hätte, dann hätte man sich doch schon seit mindestens zwanzig Jahren wegtragen lassen von diesem Ort der ständigen Demütigung, an dem es andere einem wöchentlich vormachen, wie es einem besser gehen kann, aber man selbst ausgeschlossen ist und bleibt.

Aber jetzt kommt das wirklich Aufregende! Denn Jesus nimmt dieses Gerede des Lahmen überhaupt nicht ernst. Nein, Jesus lässt sich nicht ablenken durch kranke Gedanken und Einwendung, die man nur hat, weil einem die Sünde der Hoffnungslosigkeit bereits das Leben geraubt hat. Und Jesus wird noch nicht einmal ärgerlich über alles das, was wir an klugen oder weniger klugen Ausführungen zu unseren Lebensperspektiven zu Stande bringen. Sondern er spricht schlicht und einfach zu dem Kranken: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Das ist die Frohe Botschaft. Das ist das Evangelium!

Da können wir uns tausendmal Argumente einfallen lassen, warum die Umstände so schlecht sind, und warum wir einfach keine Hoffnung mehr haben können, und dass immer die anderen nur Schuld haben, und dass wir darum auch zurecht so unzufrieden und störrisch, so miesepetrig und hart gegen jedermann sind. Es ist Jesus der sich von uns nicht abweisen und abwehren lässt. Es ist Jesus der uns begegnen will, und zu unserer Seele sprechen: "Lass alles zurück, was dich krank gemacht hat. Trau endlich deinem Gott zu die Dinge zu änderen, ja, alle Dinge, alle grossen und auch die kleinen, und wenn nicht jetzt sofort, dann aber bestimmt in seinem ewigen Reich. Darum sei frei und erlöst zu einem neuen Leben, das sich ausstreckt von hier bis in alle Ewigkeit. Hebe deinen Blick und deine Seele zu deinem Gott, der dich liebt und anschaut und durch den dein Leben eine völlig neue Perspektive hat".

Wenn einem das der lebendige Gott von Angesicht zu Angesicht sagt, wer könnte dann eigentlich noch ruhig bleiben? Wenn einem das der lebendige Gott von Angesicht zu Angesicht sagt, wer könnte dann noch alles beim Alten lassen? Dann nimmt der eine sein Bett weil er mit seinem Beinen wieder laufen kann, und dankt Gott von Herzen darüber. Da bleibt der andere im Bett liegen und freut sich, dass alles wieder läuft, weil seine Seele gesund und hoffnungsvoll geworden ist und dass er selbst gar nicht mehr laufen muss und dankt genauso Gott von Herzen darüber.

Und was sollte es einen dann scheren, dass Sabbat ist? Im Gegenteil: mit Gott zu rechnen, von ihm zu hören und von ihm umgewandelt zu werden, das ist doch etwas, was ganz bestimmt zur Ehre Gottes dient an dem Tag, an dem wir Gott die Ehre geben sollen und dürfen.

Was scheren einen dann noch kleinliche Regeln und Vorschriften, denn Gottes Güte und Barmherzigkeit ist doch grösser als alle Menschenzwänge.

Wenn einen so Gottes Güte und Barmherzigkeit frei und froh gemacht hat, und egal ob man noch das Bett hüten muss oder draussen in der Sonne herumhüpfen kann, dann erfüllt einen doch ausschliesslich Dankbarkeit und Freude darüber, dass Christus einem die Lebensperspektive so verändern kann. Und wer würde dann nicht davon weitererzählen? Wer würde dann nicht gern seinen Nächsten anstecken mit dieser Dankbarkeit und Freude, und ihm auch gern helfen, damit auch in seinen Gliedern bald neues frohes Leben pulst? Ja, das ist die Perspektive für uns, die wir uns heute von Jesus Christus ansprechen lassen. Das ist unsere Perspektive erst heute und dann in Ewigkeit. Gott sei Dank! Amen.

Dr. Andreas Pawlas
Andreas.Pawlas@web.de