19. Sonntag nach Trinitatis, 21. 0ktober 2001
Predigt über Johannes 5, 1-16, verfaßt von
Christian-Erdmann Schott

Liebe Gemeinde!

An den Wundergeschichten haben die Menschen immer Anstoß genommen. Da gibt es Ratlose, die sagen: Wunder kann ich mir einfach nicht vorstellen. Ich komme damit nicht zurecht. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Da gibt es Gutwillige, die meinen: Ich möchte schon gern an Wunder glauben, - wenn ich nur wüßte, ob das alles stimmt. Sind das nicht Märchen, fromme Erfindungen, Legenden? Macht man sich nicht selbst zum Dummen, wenn man so etwas für bare Münze nimmt? Da gibt es Entschlossene, die erklären: Ich glaube nur, was ich sehe. Wunder habe ich noch nicht gesehen. Also, was solls? Und da gibt es Böswillige, die wissen, was Wunder sind: Lügen, die sich schlaue Priester und Pfaffen ausgedacht haben, um die Leute zu verdummen und sich an der Macht zu halten. Wunder sind Opium fürs Volk, Priesterbetrug.

Nun haben die Pfarrer seit Jahrhunderten versucht, die Wunder zu "erklären". Dahinter steckte durchaus auch ein persönliches Interesse. Sie wollten sie ja gern auch selbst verstehen. Und so haben sie viele Predigten gehalten und viele Bücher geschrieben und es immer wieder versucht - aber so ganz ist es ihnen nie gelungen. Die Wunder blieben sperrig, nie ganz erklärbar, rätselhaft.

Ich möchte heute anhand dieser Wundergeschichte drei Überlegungen anstellen:

I. Stellen wir uns vor, wir würden aus allen diesen Bemühungen ein Fazit ziehen und sagen: Wir verstehen die Wunder doch nicht, also schneiden wir sie aus dem Neuen Testament heraus und verzichten auf diesen Teil der Bibel und des Glaubens. Was wäre dann?
Hören wir diese Geschichte einmal ohne Wunder: Da ist einer krank. Und weil er krank ist, ist er für die Menschen uninteressant. Seine Eltern sterben. Er kommt in ein Heim. Dort dämmert er vor sich hin. Die Heimleitung erklärt: "Er hat keinen Menschen". So wird er halt durchgefüttert, ohne Perspektive, keiner fragt nach ihm, niemand bemerkt ihn. So geht es ja durchaus manchen Menschen in unseren Heimen, aber auch in freien Wohnbereichen: "Ich habe keinen Menschen". Das ist das Leben eines solchen Kranken ohne Wunder.

Aber nun zeigt dieser Kranke in unserer Geschichte eine bemerkenswerte Inkonsequenz. Er kennt seinen Zustand, aber er verkriecht sich nicht, sondern legt sich an diesen Teich Betesda, obgleich er weiß, daß er niemals als erster in das Wasser einsteigen wird. Wider alle Erfahrung, wider alle klare Einschätzung der Situation bleibt er dort und wartet - worauf?

Jesus fragt es aus ihm heraus: "Willst du gesund werden?". Damit wird die heimliche Inkonsequenz dieses Mannes ans Licht gezogen: Er will gesund werden, aber wie? Er weiß es nicht. Er hofft. Letztlich hofft dieser Kranke auf ein Wunder. Er wäre nicht lebensfähig, wenn er diese geheime, inkonsequente, unlogische Hoffnung nicht hätte.

Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Als Jesus gestorben war, durften ihn seine Angehörigen gerade noch in ein Grab legen. Dann wurde ein großer Stein davor gewälzt. Dieser Stein erhielt ein Siegel. Und das alles bewachten Soldaten. Er war nicht nur tot. Er war auch eingeschlossen und militärisch bewacht. Und nun geschieht etwas ebenfalls ganz Unlogisch-Inkonsequentes: Drei Frauen kaufen Salben, geben sehr viel Geld dafür aus und machen sich auf den Weg zu dem verschlossenen und bewachten Grab. Sie sagen es selbst: Wer wird uns den Stein von der Tür des Grabes wegwälzen? Vernünftig wäre es, sich erst einmal ruhig zu verhalten, das Geld zusammenzuhalten und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.

Beide Geschichten zeigen dasselbe: Wir Menschen sind gar nicht so rational, wie wir gern meinen. Wir sind so sehr auf Hoffnung, auch nicht begründbare Hoffnung angelegt, daß wir ohne diese Ausrichtung gar nicht leben könnten. Ohne diese weithin irrationale Hoffnung würden wir vor jeder geschlossenen Tür kapitulieren, vor jedem verschlossenen Grab resignieren. Unbewußt-bewußt erwarten wir - wie dieser Kranke in Betesda und wie die Osterfrauen - , daß irgendetwas geschieht, das die Situation auf wunderbare Weise verändert.

II. Die Wunder des Neuen Testamentes sollen/wollen gar nicht verstanden, begriffen, erklärt werden. Sie wollen herausfordern. Sie sind Provokationen, die uns daran erinnern wollen: Bei Gott ist vieles möglich. Er ist größer und geheimnisvoller als unser Verstand es zu denken vermag und vielfältiger in seinen Bezeugungen als unsere Erfahrung sich das träumen lassen kann. Die Wunder der Bibel sind Ausdruck und Zeichen der grenzenlosen Freundlichkeit und Souveränität Gottes. Sie sagen: Es muß nicht sein, daß einem, der krank ist und keinen Menschen hat, niemals geholfen wird. Es muß nicht sein, daß eine verschlossene Tür, ein verschlossenes Grab für immer verschlossen sein müssen. Es muß überhaupt nicht sein, daß alles so ist und so bleibt wie es ist. Die Wundergeschichten wollen zur Hoffnung auf Gott ermutigen und zum Beten locken.

Umfragen zeigen, daß sehr viele Menschen beten; viel mehr als in die Kirche gehen. Die meisten beten in Angst oder in Sorgen um die Kinder, den Partner, Verwandte, Freunde. Die Bitte, Gott möchte eingreifen und helfen, ist im Kern jedesmal die Bitte um ein Wunder. Es ist oft die letzte Tür, an die wir noch klopfen, wenn alle anderen Möglichkeiten nicht mehr greifen. Viele haben erfahren, daß Gott ihnen tatsächlich geholfen hat, häufig ganz anders als sie es sich gedacht hatten. Es gibt Menschen, die nur darauf ihre Genesung oder ihre Rettung bei einem Unfall oder ihre Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft oder ihr hohes Alter in gefährlicher Zeit zurückführen: "Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte" (EK 329).

Die Provokation liegt schon in der Frage "Willst du gesund werden?". Sie klingt fast wie Hohn. Denn dieser Mann ist - wie alle, die dort sind - aus diesem einzigen Grunde da. Natürlich will er gesund werden. Durch diese Frage aber will Jesus diesen Kranken in Betesda dahin bringen, daß er ihm seine Not schildert und klagt, daß er mit Jesus, zu Jesus über seine Krankheit spricht. Das tut der Mann dann auch. Und es wird deutlich: Diese Heilung ist eine Gebetserhörung; Antwort auf ein Gebet, zu dem Jesus den Kranken selbst ermutigt hat - so wie er mit diesem Beispiel alle, die das hören, ermutigen will.

III. Die sehr interessante, häufig diskutierte Frage, was von den von Gott nicht erhörten, was von den tatsächlich oder nur scheinbar erfolglosen Gebeten zu halten ist, wird hier nicht erörtert. Statt dessen ist in der Fortsetzung dieser Geschichte die Frage nach unseren Reaktionen auf Gottes Wunder gestellt. Oben haben wir gesagt, insgeheim warten wir auf Wunder und geben die Hoffnung auf eine wunderbare Fügung unserer Dinge nie auf. Jetzt ist ein Wunder geschehen. Der Kranke vom Teich Betesda kann gehen. Die natürliche, "normale" Reaktion wäre Freude, helle Freude "Das es so etwas gibt!" und zwar auf allen Seiten - von den Angehörigen bis zu den Ärzten, unter Einschluß der Schriftgelehrten. Aber diese normale Reaktion tritt nicht ein. Pharisäer und Schriftgelehrte machen Jesus den Vorwurf : Das darf nicht sein. Am Sabbat darf man nicht arbeiten und darum auch keine Wunder tun. Und der Geheilte darf sein Bett auch nicht herumtragen. Das ist gegen die Ordnung, gegen das Gebot, es ist gegen Gott. So werden Tradition, Scharfsinn, Theologie aufgeboten, um zu beweisen, daß ein solches Wunder nicht sein darf, obgleich es doch in unserem tiefsten Interesse liegt, daß Gottes Größe und Freiheit Grenzen jeder Art überwinden kann und tatsächlich überwindet, um uns zu helfen.

Nach Auffassung des Evangelisten Johannes weist diese eigentlich nicht normale Reaktion auf eine tiefer liegende Störung unseres Verhältnisses zu Gott hin. Was hier als Reaktion auf einen Einzelfall, auf ein einzelnes Wunder Jesu Christi greifbar wird, ist nur ein Ausschnitt aus der Reaktion auf das große Geschenk, das Gott der Menschheit mit der Sendung des Sohnes gemacht hat. Eigentlich entspricht diese Sendung und das, was der Sohn uns bringt, den tiefsten Bedürfnissen, der Sehnsucht und Hoffnung der Menschheit. Eigentlich müßte die Menschheit sich freuen, jubeln über das Wunder Gottes, das Jesus Christus heißt - so wie die Engel in der Weihnachtsgeschichte gejubelt haben. Aber nein. Da wird nach Gründen gesucht, um das Wunder kleinzureden und sich dem Anspruch des Sohnes entziehen zu können. Der Evangelist weiß darauf nur eine Antwort: Die Menschen sind verblendet. Sie sehen nicht, was ihnen wirklich zum Frieden dient. "Er (Jesus Christus) war in der Welt ..., aber die Welt erkannte ihn nicht" (Joh. 1,10). Oder noch schärfer: Sie wollte ihn nicht (an)erkennen. Unter diesem Vorzeichen gesehen, ist der Rückgriff auf das Sabbatgebot nur eine Ausrede, um nicht an Jesus Christus glauben zu müssen.

Wir sollten unsere Ausreden überprüfen und durchschauen lernen. Sie halten uns im Vorläufigen fest, in der Not tragen sie nicht. Vielmehr führen sie zu einer mißvergnügten Verkniffenheit, die sich aus Freudlosigkeit und innerer Unfreiheit speist. Der Kranke von Betesda wußte es besser. Er hatte keine Vorurteile und hat sich in seiner Verlassenheit auf Jesu Angebot unverkrampft, normal, seiner Bedürftigkeit entsprechend eingelassen. Er ist reich belohnt worden. Wenn wir uns mit jemandem in dieser Geschichte identifizieren wollen, dann mit ihm.

Aber da ist noch eine Frage: Was ist mit den vielen anderen Kranken um den Teich Betesda, ja in der Welt bis heute, die nicht geheilt wurden? Die Wunder, die damals wie heute geschehen sind, weisen hin auf die großen, weithin noch gar nicht ausgenutzten Möglichkeiten Gottes. Seit den Propheten des Alten Testamentes haben die Frommen auf dieses Potential gehofft und darauf gewartet, daß es zur Auswirkung kommt. Wenn es dazu kommt, werden alle gesund werden. Dann ist das Reich Gottes für alle sichtbar da. Das ist die große Perspektive, in der wir leben. Darum hatten die frühen Christen recht, wenn sie sagten: Dann wollen wir auch den Sabbat nicht mehr halten. Wir wollen diese Lebensperspektive unterstreichen, indem wir unsere Woche mit dem Sonntag beginnen lassen, dem Tag des Wunders der Auferstehung und der Hoffnung auf die Vollendung.

Eigentlich ist es schade, daß diese schöne Wundergeschichte ohne Dank und ohne Jubel-Schluß-Chor endet. Sie endet eher traurig, mit dem Verfolgungsbeschluß der Schriftgelehrten. Dies aber nur, weil der Geheilte aus dem Blick gekommen ist. Der Evangelist Johannes wird erlauben, daß wir am Ende diesen Gesundgewordenen noch einmal besonders hervorheben und dankbar einstimmen in das Lob Gottes, das seitdem er und viele andere bis in unsere Zeiten gesungen haben, weil sie die Wunder Gottes in ihrem Leben vielfältig erfahren haben.

Amen.

Dr. Christian-Erdmann Schott
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