19. Sonntag nach Trinitatis, 21. 0ktober 2001
Predigt über Johannes 5, 1-16, verfaßt von Reinhard Weber


Liebe Gemeinde,

wer möchte nicht gerne gesund sein, wenn er krank ist, und wer möchte das nicht um so mehr, wenn er ein chronisches, ein konstitutionelles Leiden hat, vielleicht sogar eines, das ihn schon ein Leben lang begleitet hat, mit dem er geboren und/oder aufgewachsen ist?!

Es ist ja wohl mitnichten so, daß man letzteres auf die Dauer nicht mehr spüren, es gar nicht mehr wahrnehmen würde. Zumal dann, wenn man dauernd die Gesunden um sich herum hat und ihre mindestens äußerliche Intaktheit sieht, spürt, wie man auf deren Funktionstüchtigkeit angewiesen ist. Da ist ja die eigene Eingeschränktheit nicht zu übersehen oder zu vergessen. Sie bleibt doch ein Stachel im Fleisch, auch wenn dieser nicht immer in der gleichen Schärfe wahrgenommen wird. Aber ganz los wird man ihn wohl nie.

Bei unserem Kranken in der Geschichte bekommt das ganze noch dadurch eine besonders erschwerende Note, daß er ständig mitansehen muß, wie andere von ihren Leiden befreit und in die Lage versetzt werden, wieder ein normales Leben zu führen, er aber je und je hintendran bleibt. Er ist einfach mit seiner Behinderung nicht schnell genug, um einmal vor den anderen in das Heilwasser zu gelangen und in es erlösend einzutauchen. Aber es ist nicht nur seine Behinderung und die aus ihr folgende Tatsache, daß er zu langsam und zu schwerfällig ist, um rechtzeitig an die Quelle des Lebens zu gelangen und sie wohltuend und heilend zu erreichen, die ihm zu schaffen macht, nein, es ist auch der mindestens ebenso harte, vielleicht noch härtere, evtl. sogar entscheidende Umstand, daß er mit dieser Ausweglosigkeit allein ist: "Herr, ich habe keinen Menschen..." Will heißen, nun bin ich schon mit dieser massiven Krankheit geschlagen und vom normalen Leben der Menschen abgeschnitten, nun habe ich schon diese eklatanten Lebensminderungen zu ertragen, nun ist mir schon diese Schwere auferlegt, 38 Jahre lang, die mich über alle Maßen bedrückt, aber damit nicht genug, es ist auch noch so, daß ich mit dieser Last und allen ihren Folgen ganz auf mich selbst zurückgeworfen bin, daß ich einen doppelten Nachteil zu verkraften habe und damit chancenlos bin, diesen Zustand je zu ändern, daß sich mithin meine Lage als eine unabänderliche darstellt. Meine Isolation vom Leben der Menschen ist eine nahezu vollkommene. Und das schmerzt insofern in einer unausdenkbaren Weise, weil sich diese Unabänderlichkeit auf dem Grunde einer ständig theoretisch möglichen Veränderung erhebt. Das Wasser der Heilung ist ja so nah! Greifbar nah, und doch so unendlich fern! Ich habe es ständig vor mir, es springt mir in die Augen, und doch entzieht es sich meinem Zugriff, ja demonstriert mir duch seine Nähe mein unwiderrufliches Gebanntsein in eine Ferne vom Leben, in ein Abgeschnittensein, das sich jenseits der Hoffnung einzurichten gezwungen ist. Es ist wie eine permanente Folter! Ich bin meinem Schicksal scheinbar unumkehrbar ausgesetzt, zu spät und allein im Angesicht der Erlösung der anderen. Gibt es Schlimmeres??? Erinnert uns das nicht an die Qualen des Tantalus, der -bis zum Hals im Wasser stehend- dennoch an ihm seinen unbändigen Durst nicht stillen kann, ebensowenig wie seinen Hunger an den je und je zurückschnellenden und sich so seinem verlangenden Zugriff entziehenden Obstbaumzweigen über ihm.

Das ist die Lage, in der ihn Jesus antrifft und ihn heißt, aufzustehen, sein Bett zu nehmen und gesund hinwegzugehen.
Nun ja, das läßt man sich nicht zweimal sagen!
Daß diese Geschichte daraufhin noch ein Nachspiel hat, ihr gleichsam in unserem Text noch eine zweite, nachgeschobene Geschichte folgt, muß uns hier nicht weiter beschäftigen, denn diese Nachgeschichte erweitert unser eigentliches Thema in dem auch aus den ersten drei Evangelien bekannten Sinne, indem es die Wundergeschichte zu einem Streitgespräch, zu einer Apologie, einer Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten, will heißen zu einer Sabbatgeschichte umbiegt. Die Sabbatfrage ist aber nicht nur für uns heute in dem historischen Sinn nicht mehr akut, sie ist auch damals schon sekundär eingetragen, um die Wundergeschichte anderen Interessen dienstbar zu machen. Sie soll die Feindschaft der Juden gegen Jesus verständlich machen und sein späteres Geschick begründen, auch die urchristliche Freiheit gegenüber der strengen jüdischen Sabbatobservanz legitimieren. Das kann für uns hier außen vor bleiben.

Bleiben wir also bei unserem Kranken bzw. Geheilten. Was sagt uns diese Geschichte?
Gewiß wurde sie damals in erster Linie erzählt, um die Größe und Besonderheit der Person Jesu, seine gottmenschliche Kraft und Macht zu demonstrieren. Allein auf der Grundlage seines kurzen Befehlswortes: "Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!" bewegen sich gleichsam Himmel und Erde, wird das Unmögliche möglich, wird ein Zustand der Unzuträglichkeit und Ausweglosigkeit im Nu beeendet. So sehr also in dem Text auf den ersten Blick gesehen von dem Kranken geredet wird, so sehr dient das doch nur der Herausstellung der Person Jesu, ihrer herausragenden, ja überragenden Stellung. Die Schilderung der Schwere der Krankheit und der verzweifelten Not des unbekannten Mannes sind also nur die vordergründige Folie für die Jesuszentrierung des Ganzen, für die Aufwertung des Mannes aus Nazareth als eines göttlichen Menschen, als eines übermenschlichen Menschen sozusagen. Er, der Gottmensch, ist das geheime Zentrum und der eigentliche Held des Geschehens. So wird das gewöhnlich gesehen, und so scheint es ja auch auf den ersten Blick zu sein.

Jesus als Wundertäter, das ist ja nun ein breiter Zug der Darstellung der Evangelien überhaupt, ja vielleicht sogar der überragende, jedenfalls materiell. In diese Tendenz paßt mithin unsere Geschichte voll hinein. Und deshalb stellt sie uns auch eine generelle Frage.

Denn seien wir ehrlich: ist das für uns heute nicht eher befremdlich? Jedenfalls dann, wenn wir vernünftige, aufgeklärte Westeuropäer sind und keine obskuren, magiegläubigen Hinterweltler oder gar Scharlatane oder besser noch: Schamanen, Esoteriker, Charismatiker. Und die gibt es ja übrigens auch in Westeuropa wieder zuhauf, und auch im Raum des christlichen Glaubens und der Kirchen sind sie zunehmend häufiger zu finden. Ihnen genügt die vernünftige Wahrnehmung von Gott, Mensch und Welt nicht mehr, sie brauchen wieder übervernünftig Irrationales, Geistheilertum und spiritistische Sitzungen und solche Dinge, sie leiden an der Moderne und meinen, diese rückwärts kollabierend außer Kraft setzen zu können, ganz analog zu den Fundamentalisten der verschiedensten Couleur. Da ist dann natürlich auch die Wundergläubigkeit vergangener Zeiten wieder da, manchmal sogar ins Absurde gesteigert und emotional hochaufgeladen. Ich brauche das nicht näher zu konkretisieren. Wir kennen es. Auch die gefährlichen Folgen, die das bisweilen annimmt.

Ich meine, da gilt es, nüchtern zu bleiben und auf dem Boden der Tatsachen. Sicher mag es vieles geben, was wir nicht oder noch nicht rational erklären können, sondern einfach hinnehmen müssen und auch so stehen lassen dürfen. Vertrauen auf eine selbstkritische Vernunft, die um ihre Begrenzungen weiß, und übersteigerter Rationalismus sind etwas durchaus Verschiedenes. Aber auf keinen Fall sollten wir irgendwelche besonderen Ereignisse, und das können auch urplötzliche auftretende bzw. naturwissenschaftlich-medizinisch unerklärliche, nicht logisch ableitbare Heilungen sein, zu methodisieren versuchen oder sie zum Maßstab für den Glauben machen, gar als Bedingung für diesen. Das ist im übrigen auch nicht biblisch, denn dort wird ja stets der Glaube schon vorausgesetzt: "dein Glaube hat dir geholfen".

Daraus darf man aber umgekehrt auch nicht den Schluß ziehen, wenn es so sei, dann müsse eben im Falle des Nichteintretens eines Wunders der Glaube nicht groß genug gewesen sein. Hier gibt es weder so noch so etwas abzulesen oder zu konstruieren. Sich auf Wunsch- oder Gebeteserfüllungen zu versteifen, tut nie gut, auch sonst im Leben nicht. Es wäre auch ein irreligiöser Akt, insofern damit stets an Gottes Freiheit gerüttelt wird.

Im übrigen ist für den normalen Zeitgenossen der Gegenwart einfach ein anderes Weltbild und Lebensgefühl leitend und Voraussetzung als für die neutestamentlichen Schriftsteller. Darüber darf man sich nicht hinwegtäuschen, sondern das muß man ernst nehmen, alles andere wäre auch schwerlich seelsorgerlich zu verantworten. Wir können, selbst wenn wir es wollen, nicht so einfach wieder in eine Epoche zurückspringen, in welcher der durchschnittliche Mensch ein ganz anderes Verhältnis zur Natur hatte, in der er auch den Schickungen seines Lebens ganz anders gegenüberstand und sich anonymen Mächten ausgeliefert fühlte, die wir heute ganz anders herleiten und mit denen wir ganz anders umgehen. Wer wollte das im Zeitalter von Gentechnologie und Präimplantationsdiagnostik ernsthaft bestreiten. Der Mensch ist ja heute dabei, in den Prozeß der schöpferischen Selbstorganisation ursächlich einzugreifen. Das muß -und zwar schon allein die Möglichkeit dazu- auch unser Gottesverständnis und Gottesverhältnis notwendig verändern, selbst wenn wir uns das eine ganze Zeit lang zu verschleiern suchen. Und das ist ja auch in der Vergangenheit schon geschehen. Die Aufrichtung von Tabus macht hier gar keinen Sinn, ja sie ist kontraproduktiv.

Und das bedeutet für das Verständnis unseres heutigen Predigttextes, daß für uns ein solcher Wunderglaube, wie er hier vorkommt, -vorsichtig gesagt- eben befremdlich geworden ist. Selbst wenn wir zugestehen, daß es außergewöhnliche Ereignisse gibt, die wir mit den üblichen uns zur Verfügung stehenden rationalen Kategorien nicht zu fassen vermögen, und das auch im Bereich von Krankheit und Gesundheit, so wird dies doch nicht unser Weltverhältnis grundsätzlich in Frage stellen können. Wir dürfen und können nicht nur nicht mit solchen Ereignissen rechnen, nein, wir haben auch einen natürlichen inneren Abstand zu ihnen, so daß sie unser religiöses Verhältnis nicht begründen können, und das mit Recht. Jesus als derartiger Wundertäter ist uns ferngerückt, wir vermögen ihm, diesem Jesus, für unseren Glauben nichts Grundlegendes mehr abzugewinnen. Und darum berühren uns solche Berichte fast etwas peinlich, mindestens machen sie uns ratlos. Und das sollten wir uns auch ehrlich und frei eingestehen.

Leiden und Einschränkungen, sofern sie nicht mit unseren Mittlen behebbar sind, wollen meist ja schlicht ertragen und ausgehalten werden -und das ist ja schon für sich genommen oft eine ungeheure Aufgabe, und zu ihr brauchen wir den eigentlichen Glaubensmut-, auch wenn die Sehnsucht weiter auf ihre Überwindung tendieren mag. Wir wissen, daß wir die Negativität des Daseins in allen ihren tausend Formen nicht einfach negieren oder wegdrücken oder leugnen können, und wir wissen ebenso, daß dies auch Jesus nicht gekonnt und nicht gewollt hat. Sie ist da, und sie ergreift uns bisweilen ganz tief, ohne daß wir ihr entfliehen können. Dann gilt es, ja dann kann es unsere Aufgabe sein, eine wirkliche Glaubensaufgabe, diese Lage innerlich zu akzeptieren, sie anzunehmen und mit ihr umzugehen, und mancher und manche muß ja sogar das Unerträgliche ertragen, und die Frage ist dann, ob und wie wir das können.

Ich meine, hier sollten wir an unserem Predigttext eine Dimension zu entdecken versuchen, die möglicherweise sehr verborgen in ihm anwest hinter all dieser äußeren Großartigkeit des Wunderhaften und vielleicht auch schon damals seine eigentliche Aussage ausgemacht hat.

Es ist dies die Aufmerksamkeit Jesu, mit welcher er den Kranken ent-deckt, aufdeckt in seiner Situation und sie erkennt, mit welcher er sich ihm zuwendet und mit dieser Zuwendung auch sein Geschick wendet. Denn das ist ja die eigentliche Wende seines Geschickes, daß sich ihm da einer zuwendet, ihm, der von allen verlassen ist und immer zu spät kommt, der von allen übersehen wird, dem niemand hilft und zur Seite steht, auf den keiner aufmerkt. Hier wird er erstmals gesehen, und deshalb braucht er nun auch gar nicht mehr in den Teich. Er hat nämlich das Wasser in dem Wort der Zuwendung, darin hat er seine Heilung. Dieses Wort ist für ihn das Lebenswasser. Das läßt ihn aufleben, weil es ihn aus seiner Vergessenheit und Einsamkeit und Isolation befreit. Darin ist Jesus das Urbild des Menschsein, darin ist er der göttliche Mensch, das Wunder des von Gott her kommenden Daseins, daß er der Wahrnehmende ist, der Achtsame, der Sehende, daß er Gemeinschaft stiftet, und sei es die Gemeinschaft der Leidenden. Und darin ist er als das Urbild zugleich auch Vorbild. Denn das können wir immer, in die Gemeinschaft des Leidens eintreten, und oft ist es ja das Einzige, was wir können.

Mir scheint, das können wir aus diesem sonst anscheinend so sperrigen und befremdlichen Text gewinnen und mitnehmen:
In der Mitte des christlichen Glaubens steht der aufmerksame Jesus, der keinen übersieht oder vergißt, der die Einsamkeit dessen, der allein ist und an dem die Chancen des Lebens vorbeigehen, löst und ihn dadurch zum Mit-Menschen macht, der nicht dem Nichts des Nichtseins preisgegeben, sondern in der unvollendeten Sehnsucht seines Menschseins erkannt und als solcher integriert wird, und sei es in die Gemeinschaft der Leidenden.

"Weh dem, der allein ist", heißt es im Buche Kohelet (4,10). Davon weiß der Mann am Teich Bethesda ein Lied zu erzählen, aber die Erfahrung, die er mit dem Nazarener macht, ist die Erfahrung der Communio, und die ist als solche Befreiung von der schrecklichsten Not des Daseins, nämlich in seinem Sein als einem notvollen mit sich allein, und d.h. darin unerkannt und so nichtig zu sein. Von der Überwindung dieser Not handelt die Geschichte dieses Sonntags auf ihrem Grunde, und darin handelt sie von uns. Aber darin ruft sie auch nach uns, nach uns als denen, die in die Achtsamkeit dem Dasein als Mitsein gegenüber gerufen sind, also in das Aufmerken auf das Alleinsein, welches der Beachtung der Gemeinschaft entbehrt und darin an seinem Sein als einem in die Bedrohung durch das Nichts des Übersehenwerdens Gestellten leidet. Dieses Leiden als den geheimen Grund allen Leidens zu sehen, wahrnehmen und so wenden zu können, ist die Mitteilung des Seins Jesu an die, die er gesehen hat.

Amen.

Priv.-Doz. Dr. Reinhard Weber, Stud.-Pfr.
Rudolf-Bultmann-Str. 4
35039 MARBURG
weber@esg-marburg.de