18. Sonntag nach Trinitatis, 14. 0ktober 2001
Predigt über 2. Mose 20, 1-17, verfaßt von Bert Hitzegrad


1 Und Gott redete alle diese Worte:
2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,
6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.
8 Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest.
9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
13 Du sollst nicht töten.
14 Du sollst nicht ehebrechen.
15 Du sollst nicht stehlen.
16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

Liebe Gemeinde!

Wenn ich beim Elternabend der Konfirmanden die Eltern frage, warum sie ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht angemeldet haben, dann sagen mir gerade diejenigen, die wenig mit Kirche und Glaube zu tun haben, daß ihre Kinder wenigstens die 10 Gebote lernen sollen. Denn das, so meinen sie, sei doch wichtig für einen jungen Menschen. Und für Gebote und für das Wissen, was gut und richtig ist, stehe ja immer noch die Kirche.

Und sie mögen dann daran denken, wie sie selbst gequält wurden, die 10 Gebote samt Erklärungen auswendig zu lernen und wie es schon hunderten von Konfirmandenjahrgängen vor ihnen erging.
Vielleicht wollen sie auch ihre eigene Autorität stärken, wenn es im vierten Gebot bei Martin Luther heißt: „Du sollst Vater und Mutter ehren!"
Vielleicht erhoffen sie aber auch einfach nur im Verlust aller Werte ein Relikt an Orientierung, mit dem ihre Kinder einigermaßen sicher an den Klippen und Untiefen des Lebens vorbeischippern.
Vielleicht. Vielleicht steckt aber auch der innere Wunsch dahinter, daß diese Gebote nicht nur Lernstoff sind, sondern einen Aufbruch bedeuten aus Strukturen, die verhärtet sind, die die Freiheit nehmen, die Lebensperspektiven verhindern.

Vielleicht leiden gerade diese Eltern unter dem Druck der modernen Gesellschaft wie er z.B. von der Schichtarbeit ausgeht. Über ein ganzes Jahr wissen Schichtarbeiter schon genau ihre Schichten im voraus. Sie wissen, wann Früh- und wann die Spätschicht dran ist. Nicht der Wechsel von Alltag und Sonn- und Feiertag bestimmen die Woche, nein, es ist der Schichtplan. Sie wissen auch, welches Wochenende einmal frei ist - und sie wissen, daß dieses System mit unheimlicher Wucht auf Ihnen lastet. „Den Feiertag heiligen!" - wie soll das gehen? Wenn nicht gerade die Schicht ruft, dann ist Ausschlafen angesagt nach einer Woche, die die Nacht zum Tag werden ließ. Der Schlaf ist dann heilig und vielleicht noch das gemeinsame Mittagessen, das einzige Gemeinsame der Familie in der Woche. Den Feiertag heiligen, zur Kirche laufen, zur inneren Ruhe kommen? Das ist nur ein frommer Wunsch.
Vielleicht, vielleicht geht es den Kindern ja einmal besser!?

Und die Kinder? Sie erleben es oft, wie ihre Welt kaputt geht. Sie sind nur Manövriermasse, die hin- und hergeschoben wird, wenn Vater und Mutter sich trennen. Sie sitzen zwischen den Stühlen und spüren, daß es kein Entrinnen aus diesem Dilemma gibt. Hätte jemand doch den Eltern gesagt: „Du sollst nicht ehebrechen!" Aber, wer soll das tun? Es ist doch normal, wenn Ehepartner - ohne Rücksicht - ausgetauscht werden. Im Fernsehen passiert das alle Tage. Ulla Kock am Brink spannt Sabine Christiansen den Mann aus, Boris Becker hat ein Kurzzeitverhältnis mit ... - na, wir wissen doch schon alles, und es ist alles gut so!
Oder nicht? Gibt es da nicht den Wunsch, auszubrechen?

Wie schwer es ist, auszubrechen, wie wir gefangen werden, der Freiheit beraubt, erleben wir, auch die Konfirmanden und ihre Eltern, zur Zeit in der aggressiven Stimmung weltweit. „Du sollst nicht töten!" Dieses Gebot gilt für Christen selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich für andere Religionen - für die Juden, aus deren Heiligem Buch, unserem Alten Testament, wir die 10 Gebote in ihrer ursprünglichen Form heute als Predigttext gehört haben. Dieses Gebot gilt aber ebenso für Moslems, denn der Prophet Muhammad hat in freier Form die 10 Gebote auch für den Koran übernommen.

Und dann erleben wir den Haß und die Auseinandersetzungen der Israelis und der Palästinenser in Israel mit täglichen Meldungen über Tote - „Du sollst nicht töten!"
Wir haben die Bilder vom 11. September 2001 vor Augen als Flugzeuge mit vielen Menschen an Bord zu fliegenden Bomben wurden und Tausende töteten - „Du sollst nicht töten!"
Und wir erleben gerade jetzt die Angriffswellen durch die Amerikaner, um die Drahtzieher des Anschlags auszulöschen. Tote gibt es schon zu beklagen und Millionen von Flüchtlingen, die einer ungewissen Zukunft entgegen gehen - „Du sollst nicht töten!"
Der „Bündnisfall" ist eingetreten. Auch Deutschland ist hineingerissen in diesen Strudel der Gewalt. Auch deutsche Soldaten können in den Konflikt kommen - in den Konflikt zwischen dem 5. Gebot und dem Gehorsam als Soldat und der Zusage zum Bündnispartner.

Die 10 Gebote als Lernstoff? Die 10 Gebote als Regeln für das Zusammenleben der Menschen? Oder steckt bei den Eltern der Konfirmanden - und auch bei mir als unterrichtendem Pastoren - mehr dahinter, wenn wir es gemeinsam für nötig erachten, auch heute noch diese Gebote zu lernen?

Zunächst: Die Jugendlichen übernehmen heute nicht mehr ungefragt Normen und Werte. „Weil es immer so war" gilt schon lange nicht mehr. „Weil Mose die 10 Gebote am Sinai von Gott empfangen hat" ist für die Konfirmanden auch kein Begründungzusammenhang mehr. „Weil sie unmittelbar von Gott gegeben sind" - deshalb hatten die 10 Gebote für viele Generationen unbedingte Autorität. Nur für viele Konfirmanden lautet heute die Frage nicht mehr: „Was soll ich tun?", sondern sie fragen danach, „Was ist für mich sinnvoll?"

Gebote, Regeln müssen einleuchten. Man muß sie bei Personen, die Vorbild sind, als gültig und sinnvoll erleben. In jedem Fußballspiel ist den Jugendlichen selbstverständlich, daß das Foul im Strafraum vom Schiedsrichter gepfiffen wird und zum 11-Meter führt. Daß jeder Ladendiebstahl geahndet werden muß, mag auch noch - theoretisch - einleuchten. Praktisch jedoch ist es erschreckend, wiewiele der Kids schon einmal den unerlaubten Griff zur CD gewagt haben - „Es merkt ja doch keiner!"

Gebote und Regeln müssen einleuchten. Deshalb formulieren wir am Anfang jedes Konfirmandenkurses gemeinsam „Regeln für den Unterricht". Wir setzen sozusagen einen Vertrag auf - ohne Unterschriften, aber doch mit dem Einverständnis aller, wenn es um Pünktlichkeit (auch des Unterrichtenden) geht, um Fairneß, die anderen ausreden zu lassen und nicht dazwischen zu quatschen oder um den Respekt voreinander, damit niemand ausgelacht wird, wenn etwas ganz Persönliches zu sagen ist.

Läuft es einmal nicht nach den Regeln, die alle anerkannt haben, reicht im Unterricht ein Hinweis auf den eingangs erstellten „Vertrag" - theoretisch. Denn das Leben der Konfirmanden ist meistens dynamischer als starre Regeln.

Dennoch: Die Akzeptanz ist groß. Und die Erfahrung, daß der Unterricht nicht ganz so stressig ist, ist für alle Seiten gut.
So vorbereitet, hören sie die 10 Gebote. Wie sie erlebt haben, daß die Regeln für den Unterricht aus einer Beziehung und einem Vertrauen untereinander erwachsen sind, fragen sie nach der Beziehung, die hinter den alten Geboten steht.

Dann ist gut, wenn man nicht bei Luther im Katechismus nachschlägt, sondern bei der Überlieferung der Gebote bei Mose. Denn Martin Luther hat nur den Anfang des ersten Gebotes übernommen „Ich bin der Herr, dein Gott!" Damit wird etwas ausgesagt über die Autorität, die für manche Konfirmandeneltern noch gelten mag, die aber mehr und mehr am Bröckeln ist. Wichtig ist zu wissen, was es für ein Gott ist, der da die Gebote ausgibt und sich das Recht herausnimmt, ihm zu gehorchen. „Ich bin der Herr, Dein Gott, der ich Dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt habe!" Hinter diesen wenigen Worten verbirgt sich die phänomenale Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Eine Geschichte von Beziehungen über Jahrhunderte hinweg, eine Geschichte von Vertrauen, das Menschen bewog, ihre Heimat zu verlassen und Neues zu wagen, eine Geschichte der Befreiung, eine Geschichte der Erlösung aus der Knechtschaft der Sklaverei.

Unter diesem Auftakt, unter diesem Vorzeichen ist jedes der Gebote zu lesen, zu lernen und zu verstehen. Es geht um Befreiung, es geht um Freiheit. Es geht auch heute um die Freiheit von Strukturen, die uns erdrücken und die Luft zum Atmen nehmen.
Wissen, was gut und richtig ist - mit Sicherheit, darüber geben die Gebote Auskunft. Ein Stück Freiheit erleben und anderen gewähren, das will dieses alte Bündnis zwischen Gott und seinem Volk und dazu lädt es uns heute wieder ein.
Denn: Was uns in der großen Politik manche Gewissensnot und manches Kopfzerbrechen bereitet, ist bei Gott schon lange eingetreten: der Bündnisfall, die bedingungslose Zusage, daß Gott auf unserer Seite steht.

Dies war für Martin Luther ganz eindeutig. Deshalb ließ er in seinem Katechismus nicht nur Teile des ersten Gebotes fort, sondern auch ein ganzes Gebot, das zweite nach alttestamentlicher Zählung: „ Du sollst dir kein Gottesbild machen ...!" Um doch auf die 10-Zahl zukommen, benutzte er einen Trick: Das letzte der Gebote, die Mose empfangen hatte, teilte er einfach auf - so waren's wieder 10.

Doch das „Bilderverbot" einfach fortzulassen hatte bei Luther einen guten Grund: Für ihn hat Gott sich in einem Bild der Liebe gezeigt, in einem Menschen, in dem Gott seine besondere Beziehung zu uns Menschen zum Ausdruck brachte und mit dem er für bedingungsloses Vertrauen warb. Jesus Christus stellt uns in hellen warmen Farben das Bild Gottes vor Augen. Und mit ihm wird Gottes Bund neu formuliert: Die Erlösung aus der Knechtschaft, die Befreiung zu einem neuen Leben, das das Volk Israel spüren durfte, wird zu einer neuen Erfahrung für diejenigen die Gott und den Nächsten lieben wie sich selbst. Der Bündnisfall ist schon längst eingetreten, seitdem Christus aufgetreten ist, um uns das Gebot der Liebe zu geben und um es selbst zu leben.

An diesem Bild der Liebe, an Gottes Bild der Liebe die 10 Gebote zu lernen und zu verstehen - das fällt den Konfirmanden leichter als sich unter Autoritäten zu beugen.
Und dann spüren sie hoffentlich, daß die Gebote Gottes Angebote sind, eine neue Freiheit zu erleben.
Denn wenn Gott - wie im ersten Gebot - keine anderen Götter neben sich duldet, dann meint er ja eigentlich: „In meiner Nähe brauchst Du Dich von niemandem und nichts abhängig zu machen und unterkriegen zu lassen. So wie Du bist, bist Du o.k. Du bist frei, Du darfst frei sein. Du darfst dich auch ändern!"

Wenn die Konfirmanden die Gebote so lernen, dann kann sich etwas ändern. Und dann, dann lernen auch ihre Eltern noch einmal ganz neu die alten Regeln kennen, die Gott seinem Volk gab. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

Pastor Bert Hitzegrad
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