17. Sonntag nach Trinitatis, 7. 0ktober 2001
Predigt über Johannes 9, 35-41, verfaßt von Esko Ryökäs (Finnland)


35 Es kam vor Jesus, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?
36 Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's? daß ich an ihn glaube.
37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.
38 Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
39 Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.
40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind?
41 Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

Im Glauben sieht man Jesus

1. Gegen Abend spielen Kinder auf einem Sportplatz Fußball. Es ist Herbst, die Bäume und Büsche haben Herbstfarben. Es regnet, und der Platz ist nass geworden. Die Spieler und der Fußball sind schmutzig und grau. Die Mannschaft läuft gegen das Tor. Noch eine Abgabe und dann ein harter Schuss. Im letzten Moment gelingt es dem Torwart, den Ball abzuwehren. Er schießt ihn weit in das Gebüsch.

Aber wo steckt der Ball? Er ist weit in das Gebüsch geflogen. Es ist schon dämmerig geworden, die Büsche sehen dunkel aus und der Ball ist nass und schmutzig. Zuerst sucht der Torwart den Ball, dann einige Spieler seiner Mannschaft und zuletzt alle gemeinsam. Man läuft im Gebüsch hin und her, aber der Ball bleibt verschwunden. Endlich ordnen sich die Spieler in einer Kettenlinie und gehen langsam vor. Nach einigen Minuten ruft einer von den Spielern: "da ist er". Nach und nach bemerken auch die anderen den Ball. Er ist nicht leicht zu finden, aber wenn man weiß, was man sucht und wo, findet man ihn. So kann das Spiel fortgesetzt werden.

2. Im Leben kommen gibt es oft Situationen, in denen man nichts sehen kann, obwohl man sich sehr anstrengt. Und plötzlich gestaltet sich das Bild. Wenn man mit dem Auto im Dunkeln fährt, kann man nicht immer bemerken, ob ein anderes Auto kommt oder nicht. Wenn man ein Puzzle sammelt, ist es oft schwer zu sehen, welcher Teil des Bildes in einem einzigen Stück steckt. Wenn das Stück an seinem richtigen Platz ist, kann man das Bild gewöhnlich leicht erkennen. In der Psychologie hat man Bilder erzeugt, wo gleichzeitig zwei Objekte dargestellt sind, zum Beispiel zwei verschiedene Gesichter. Mit ein wenig Übung kann man die beiden abwechselnd sehen.

Im Johannes-Evangelium wird über die Situation berichtet, in der Jesus einen Blinden heilte, aber die Zuschauer stritten darüber, was sie gesehen hatten. Einige glaubten, dass es um einen ganz gewöhnlichen Menschen ging, andere dagegen, dass es sich um Gottes Sohn handelte. Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Realitäten. Einige sahen Gott nicht, obwohl sie es versuchten. Andere sahen die Situation ganz anders. So wie es schwierig war, den schmutzigen, grauen Ball im dunklen Gebüsch zu sehen und einige Spieler nur die Menschen neben sich sahen. Aber als die Augen aufgingen, fanden sie auch den Ball. Auf die gleiche Weise konnten einige Menschen in Jesus Gott sehen.

Der Glaube verändert unseren Begriff von der Realität. Durch den Glauben sieht man andere Dimensionen im Leben. Wenn man über den Glauben die Anwesenheit Gottes in unserer Zeit und im unseren Leben gesehen hat, wundert man sich, warum man es nicht schon früher sah. Es ist leicht, im nachhinein darüber zu staunen. Aber dieses Sehen kann man nicht selbst hervorbringen.

3. Vor einigen Jahren war in der fünften Klasse der Schule ein Junge. Wir nennen ihn Wilhelm. Er war ein fleißiger Junge. Er machte seine Schulaufgaben gleich als er nach Hause gekommen war, er studierte fleißig und konnte mühelos die Fragen des Lehrers beantworten. Er folge auch dem Schulunterricht sehr aufmerksam. Zuhause war er auch hilfsbereit. Somit wunderte sich seine Mutter, warum Wilhelm einmal nicht antwortete. Sie hatte ihn schon zweimal zu sich gerufen. Aber der Junge saß nur und reagierte nicht. Die Mutter ging zu ihm und fasste ihn an die Schultern. Hast du nicht gehört, ich habe dich zu mir gerufen. Wilhelm war überrascht: nein, ich habe nichts gehört. Die Mutter ließ es dabei, aber sie begann den Jungen zu beobachten. Wenn man mit ihm diskutierte, schien alles in Ordnung zu sein. Aber wenn er weiter weg war, antwortete er nicht mehr. Endlich entdeckte die Mutter: Wilhelm war schwerhörig geworden. Er hörte nicht, aber er hatte gelernt, an den Lippen abzulesen. Er hatte niemandem etwas gesagt, er wollte nur ein gewöhnlicher Junge sein und so sich benehmen.

Es ist leicht zu verstehen, dass er dabei keine Fortschritte machen konnte. Die Geschichte hat aber ein glückliches Ende. Die Mutter brachte sein Kind zum Arzt, und der Arzt stellte fest, dass Wilhelm eine Komplikation nach einer Erkältung hatte. Und als die medizinische Pflege anfing, bekam er sein Gehör zurück. Aber einige Zeit hatte Wilhelm als Hörender gegolten, obwohl er nichts hörte.

4. Dieses trifft auch für den Glauben zu. Wilhelm versuchte vorzuspielen, dass er hört, obwohl er nicht hören konnte. Es ist auch möglich den Gläubigen vorzuspielen, obwohl man nicht glaubt. Aber auf Dauer gelingt das nicht. Es gelang dem Wilhelm nicht, und es gelingt auch nicht dem Nichtgläubigen. Man kann nicht durch Anstrengung Glauben erreichen, so wie der Taube nicht hören kann. Er mag sich anstrengen so viel er will, er hört trotzdem nicht.

Im Johannes-Evangelium fragte Jesus denjenigen, der sein Sehvermögen wiedererhalten hatte: Glaubst du an den Menschensohn?

Der Geheilte wusste, dass er geheilt war, aber er wusste nicht, wer ihn geheilt hatte. Deswegen antwortete er mit einer Gegenfrage: Herr, wer ist's? dass ich an ihn glaube. Darauf antwortete Jesus: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's. Dieses war die entscheidende Hilfe. Sofort sagte der, dem geholfen wurde: Herr, ich glaube, und betete ihn an.

Der Glauben entsteht durch die Begegnung mit Jesus. Diese Begegnung kann im Beten sein, sie kann durch Heilung entstehen, sie kann durch Bibellesen, durch das geschriebene Wort geschehen. Diese Begegnung kann auf verschiedene Weisen erfolgen - und dadurch entsteht der Glaube. Der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Wenn man dieses Geschenk erhalten hat, braucht man nicht versuchen, ein Gläubiger zu sein, man braucht nicht die Taten Gottes im tagtäglichen Leben zu suchen. So wie der Ball lange Zeit versteckt blieb und man hat ihn gefunden, und ließ ihn nicht mehr verloren gehen - auf die gleiche Weise hilft der Glaube, die Realität anders zu sehen.

5. Der Vater ist vier Wochen auf einer Geschäftsreise. Heute kommt er zurück, sagte die Mutter ihrem fünfjährigen Sohn. Sie machen gemeinsam sauber. Der Tisch wird gedeckt, die feinen Kaffeetassen werden auf den Tisch gestellt und ein großer Sahnekuchen wartet im Kühlschrank. Dann ziehen sie sich an, und gehen auf den Bahnhof. Der Inter-City -Zug wird gleich ankommen. Es ist spannend. Hat sich der Vater nun einen Bart wachsen lassen? Er hat den Rasierapparat im Badezimmer vergessen, hat die Mutter dem Jungen erzählt. Hat der Vater Mitbringsel? Es sind viele Leute auf dem Bahnhof, wird der Vater uns finden, erkenne ich ihn wieder?

Es gibt viele Leute auf dem Bahnhof, denn es die Zeit des Feierabends. Viele eilige Erwachsene kommen und gehen. Jetzt sollte der Zug des Vaters kommen, auf dem Bahnsteig fünf. Der Zug hält an, die Türe gehen auf, die ersten steigen aus und beeilen sich. Aber wo ist der Vater? Viele mit und ohne Bart steigen aus, aber keiner sieht bekannt aus. Erkenne ich ihn wieder? Die Leute gehen und kommen und wir warten und warten. Ich halte mich an der Hand der Mutter fest. Jetzt sieht die Mutter mich nach und zeigt auf das Ende des Zuges. Dort sind viele Leute. Aber der letzte, der kommt, scheint dem Jungen bekannt zu sein. Die Brille und das Lächeln, ja das ist mein Vater. Und jetzt laufen sie ...

6. Beim Warten wird einem kleinen Jungen die Zeit lang. Aber wenn der Vater kommt, kennt man ihn wieder, obwohl viel Zeit vergangen ist. Das Wiedererkennen braucht seine Zeit, aber allmächlich erkennt man die bekannte Gestalt. Wen man kennengelernt hat, erkennt man wieder.

Die Text des Evangeliums berichtet das gleiche über Jesus. Wenn man gelernt hat, Gottes Werk im Leben zu sehen, ist das Leben nicht mehr wie früher. In der Mitte von allem Schmutzigem und Grauem sieht man, dass Gott anwesend ist, dass er betreut und begleitet.

Wenn man zuweilen das Gefühl hat, dass Jesus nicht in der Nähe ist, kann man sich auf seine Ankunft auf die gleiche Weise vorbereiten wie der fünfjährige Junge sich auf die Ankunft seines Vaters vorbereitet hat: Er deckte den Tisch. Wir können die Bibel nehmen und lesen. Wenn man Jesus nicht sieht, ist es gut zu fragen: Herr wer ist's? dass ich an ihn glaube. Und wenn Jesus nahekommt, kann man das tun, was der Mann im Evangelium getan hat: er betete ihn an. Danach ist das Leben nicht mehr so wie früher. Man hat Jesus nahe kommen können. Man braucht nicht mehr zu suchen, man braucht nicht mehr vorzuspielen, man braucht nicht mehr auf ihn warten. Man sieht ihn!

Prof. Dr. Esko Ryökäs
Universität zu Joensuu
Esko.Ryokas@joensuu.fi