17. Sonntag nach Trinitatis, 7. 0ktober 2001
Predigt über Johannes 9,35-41 , verfaßt von Stefan Knobloch


"Sehend blind?"

35 Jesus hörte, daß die Pharisäer den geheilten Blinden hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? 36 Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? (Sag es mir,), damit ich an ihn glaube. 37 Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. 38 Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder. 39 Da sprach Jesus: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden. 40 Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? 41 Jesus antwortete ihnen: Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.

Jesus hat einen Blinden geheilt; nicht einfach einen, der durch Krankheit oder durch andere Umstände seine Sehkraft verloren, eingebüßt hätte. Jesus heilte einen, der von Geburt an, gewissermaßen von Natur aus, blind war. Über die sozialen Lebensbedingungen von Blinden in der Antike müssen wir uns nicht lange verbreiten; sie waren miserabel. Die Betroffenen lebten vom Betteln, mehr schlecht als recht. Doch das ist nicht das Thema unseres Textes. Vielmehr ist sein Thema die Heilung eines Blinden und die Wirkung, die diese Heilung auf andere hatte. In einer ersten Runde waren die Leute mit dieser Heilung nicht zurechtgekommen. Der jetzt sehend und quietschvergnügt herumlief, war das der Blinde? Oder sah er ihm nur ähnlich? Man fragte ihn, und er antwortete, wie er sein Augenlicht gewonnen hatte. Dahinter tauchte die Frage nach dem auf, der ihn geheilt hatte. Wer war das? Wo war er jetzt? Viele offene Fragen, die Anlaß waren, die Sache vor die religiöse Instanz zu bringen.

Hier kam heraus, daß der, der die angebliche Heilung vorgenommen hatte, einen Frevel begangen hatte, ein unlauterer Mensch sein mußte, einer, der nicht von Gott sein konnte. Denn er hatte die Heilung an einem Sabbat vorgenommen. Die Dramaturgie spitzte sich zu, indem auch noch die Eltern eingeschaltet wurden; aber die zogen sich aus der Affäre. Ihr Sohn sei alt genug; er könne selbst Rede und Antwort stehen. Sie fürchteten, aus der Synagoge exkommuniziert zu werden. Die nächste Runde, gewissermaßen wie beim Boxen, war an den geheilten Blinden gegangen. Da die Pharisäer die Runde bewußt hoch angesetzt hatten - "gib Gott die Ehre!" -, bekamen sie es exakt deshalb vom Geheilten besonders dick serviert. Noch mal darüber zu reden, wie die Heilung geschehen sei, nein, das stünde nicht mehr an. Wertungen stünden an, Wertungen, die zeigten, daß die einen, die Pharisäer, nicht sehend waren, während der andere, der Geheilte, sah. Für sie war Jesus ein Sünder; Klappe zu. Mehr war zu ihm nicht zu sagen. Für den Geheilten aber war Jesus mehr. Die Runde hatte damit geendet, daß sie den geheilten Blinden ausstießen, aus der Synagoge exkommunizierten. Er gehörte nicht mehr dazu. Wohin sollte er jetzt gehören?

Es kommt, nach dem Hinauswurf, zu einer zweiten Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten. Er, der bereits in dem "Verhör" - denn etwas anderes war es nicht - sich entschieden widersetzt hatte, gemeinsam mit den Pharisäern in Jesus einen gottlosen Gesetzesbrecher zu sehen, der sich über Gesetz und Ordnung hinwegsetzte, der Geheilte also, der in Jesus einen Propheten sah und zu dieser seiner Überzeugung stand, begegnet Jesus ein zweites Mal. Die Frage, die Jesus stellt, macht deutlich, worin die Heilungserzählung ihren Brennpunkt hat: nicht im Geheilten selbst, richtiger gesagt, nicht in der Tatsache seines gewonnenen Augenlichts, sondern in Jesus bzw. im Glauben an ihn. "Glaubst du an den Menschensohn?", so wird der Geheilte von Jesus gefragt. Der stöhnt nicht und lehnt nicht etwa ab mit der Bemerkung, was nun diese Frage solle. Schließlich, so hätte er sagen können, sei er mit dem Geschenk seines gewonnenen Augenlichts so randvoll beschäftigt, daß er darüber hinaus im Augenblick für nichts anderes Interesse habe. Er hat Interesse, er ist offen für das, was von Jesus kommt. Die Antwort, die er gibt, könnte von uns stammen, zumindest in ihrem ersten Teil: "Menschensohn? Wer ist das?" In seiner Frage schwingt aber eben keine achselzuckende Gleichgültigkeit mit, sie hat keinen abwehrenden Sinn, gewissermaßen im Sinn von, "Menschensohn? Wer soll das schon sein? Das interessiert mich nicht weiter." Nein, der Geheilte packt zu. Der griechische Text unseres Evangeliums macht das deutlicher als die deutsche Übersetzung. Der Geheilte antwortet nämlich mit einem "Und", mit einem neugierigen, gespannten "Und". "Und, wer ist das, Herr?" So, wie wir auch manchmal in unseren Gesprächspartner dringen und sagen: "Und, nun sag' schon..." "Und, wer ist das, Herr? Damit ich an ihn glaube." Die Antwort Jesu ist kurz und knapp und sie beginnt ihrerseits mit diesem zupackenden bzw. sich preisgebenden "Und": "Und du siehst ihn vor dir; und der, der mit dir redet, der ist es." Den Geheilten hält es nicht mehr. Er, der bisher schon eine Anfangsahnung, eine Anfangsüberzeugung hatte, nimmt die Selbstaussage Jesu, der Menschensohn zu sein, unverzüglich, ohne Zögern an. Er, der aus der Synagoge Ausgestoßene, gewinnt wieder Boden in der Zugehörigkeit zu dem, vor dem er sich niederwirft: "Ich glaube, Herr."

Wir müssen nicht meinen, daß der Geheilte in diesem Augenblick dem Wesensgeheimnis Jesu umfassend auf die Spur gekommen sei, daß er gewissermaßen in diesem Augenblick ein theologisches Examen über die Christologie mit Bestnote bestanden hätte, aber immerhin bricht sich in ihm etwas Bahn, was wir in unserer Glaubenssituation zu aktualisieren haben: Der Geheilte steht für ein persönliches Verhältnis zu Jesus. Sein Glaube ist nicht mehr sozialgestützt durch andere, er meint ein unmittelbares, persönliches Bezogensein. Hier blitzt etwas auf, was sich in der nachösterlichen Glaubenssituation in der Glaubensformel verdichtete: "Wenn du mit deinem Munde bekennst: 'Jesus ist der Herr' und in deinem Herzen glaubst: 'Gott hat ihn von den Toten auferweckt', so wirst du gerettet werden" (Röm 10,9). Der Bezug der Römerbriefstelle zu unserem Text liegt nicht unmittelbar auf der Hand, aber er läßt sich ungekünstelt herstellen. Beide Aussagen signalisieren, worauf es im Glauben ankommt. Das Bekennen mit dem Mund ist wichtig und gut, aber es muß aus dem Herzen kommen. Damit meine ich jetzt nicht, aus unserer Tiefe, aus letzter Ehrlichkeit. Man kann darin auch das andere mitschwingen hören, daß der Glaube, sosehr er immer von Gott getragen, gestützt und ermöglicht ist, gleichwohl unsere, meine persönlichen Züge annimmt, von mir aus den Erfahrungen meines Lebens, meiner Biographie reformuliert wird und immer wieder veränderte Gestalt annimmt. Man spricht heute gern von der individualisierten Religiosität, von der gesellschaftstrukturell bedingten Individualisierung auch der Religion. Das ungeschützte, nicht weiter sozial abgesicherte Bekenntnis des Geheilten, "ich glaube, Herr" - hat es nicht Berührungspunkte mit unserer Glaubenssituation? Es ist eben wohl nicht so, daß alles um uns herum uns nur dazu einlädt, wortlos und übermächtig, das mit Glauben und Religion sein zu lassen. Die Zeit der religiösen Individualisierung stellt auch einen Anreiz an uns zur Verfügung, den weniger sozialgestützten, wohl aber von Gott gestützten persönlichen Glauben an Jesus bzw. an Gott zu wagen.

Das Bekenntnis des Geheilten ist in ein bestimmtes Szenario gestellt. Einige Pharisäer sind Zeugen des Vorgangs. Es sei, so sagt Jesus, seine Aufgabe, Blinde sehend und Sehende blind zu machen. Daß hier nicht von der somatischen Blindheit der Augen die Rede ist, liegt auf der Hand. Von Blindheit im übertragenen Sinn ist die Rede, und zwar von der Blindheit, Jesus in den wahren Zusammenhängen seines Lebens und seiner Sendung nicht erkennen zu können. Die Pharisäer hören den Vorwurf an ihre Adresse heraus. Ihre Reaktion ist weniger eine Frage als eine Entrüstung: "Sag bloß, wir seien blind", bzw. "Nicht daß du meinst, wir seien blind." In ihrem Ton liegt Arroganz. Sie werden von Jesus nicht erreicht. Sie wissen es doch besser. Die Antwort Jesu ist in ihrer inneren Dialektik gewissermaßen als ein Stolperstein gedacht: "Daß ihr blind seid, ist eine ausgemachte Sache. Nur sagt und denkt ihr, ihr würdet sehen, ihr hättet die wahren, gültigen Einsichten in das Leben, in den Willen Gottes. Das macht eure Lage so prekär." Darum bewegt sich bei ihnen nichts, darum bleibt ihre "Sünde".

Auch dies kann noch einmal auf uns zielen. Die Tatsache der individualisierten Religiosität von vorhin ist das eine. Sie kann auf der anderen Seite zu einem Zusammenrücken religiös verängstigter Leute führen, die sich in den Bestand ihrer Glaubensüberzeugungen verkriechen, einigeln, sich mit ihm ummanteln, so daß sie die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, sich auszutauschen, verlieren. Letztlich, weil sie meinen, es besser zu wissen. So verständlich und plausibel bei der heutigen gesellschaftlichen Großwetterlage eine solche Haltung wäre - sie müßte sich von unserem Text fragen lassen, ob sie nicht "sehend blind" sei. Der geheilte Blinde sah, er sah mit den Augen des Leibes und mit den Augen des Glaubens. Tun wir es ihm gleich.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische Theologie
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