15. Sonntag nach Trinitatis, 23. September 2001
Predigt über Lukas 17, 5-6 , verfaßt von Heinz Janssen

Glaube wie ein Senfkorn
oder: Unscheinbare Anfänge, große Auswirkungen

(Gebete, Exegese, Literatur)

Predigttext Lukas 17,5-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Rev. 1984)
5 Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben!
6 Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.

Liebe Gemeinde!

Stärke uns den Glauben! - Wer von uns möchte nicht in diesen Bittruf der Apostel, der Jünger Jesu, miteinstimmen - gerade in diesen Tagen angesichts der unfassbaren Terroranschläge in New York und Washington. Die Bitte der Jünger Jesu mag uns zwar überraschen, vielleicht auch ein wenig irritieren, möchten wir doch den Aposteln von vornherein einen starken Glauben zutrauen.
Warum sollten gerade sie im Glauben schwach sein, die so dicht "an der Quelle" und mehr als andere mit Jesus vertraut waren?

Aber mit ihrer Bitte um Stärkung des Glaubens kommen uns die engsten Mitarbeiter Jesu menschlich ganz nah. In den biblischen Geschichten hören wir immer wieder, wie Menschen sich schwach im Glauben fühlten. Denken wir nur an die Durststrecken des Gottesvolkes in der Wüste. Auf diesem Weg - das "Gelobte Land" vor Augen - wollten die Israeliten wieder umkehren, zurück nach Ägypten, in ihr gewohntes Leben, sie glaubten nicht mehr an ihre Vision.

I. Wir kennen alle das Gefühl, schwach im Glauben zu sein. Wir sehnen uns nach Stärke im Glauben, die ausstrahlt und weiterhilft. Wieviele Menschen, besonders Jugendliche, sind heute von der Frage nach Lebenssinn, Orientierung und Glauben bewegt und erwarten Antworten!

Sorgen und schlimme Erfahrungen können auf einmal übermächtig werden, uns den Lebensmut, sogar den Glauben nehmen. Unvorstellbar, was die Menschen am 11.September in den Flugzeugen, die plötzlich als Mordwaffen missbraucht wurden, und in den Gebäuden, die Ziel des Terrors waren, erlitten haben - und dann die Angehörigen...

Es gibt auch die ganz persönlichen Lebenssituationen, in denen wir uns so hilflos vorkommen. Wir wünschen uns dann Kraft, um durchzuhalten. Es ist als wollten wir nach dem Rettungsanker greifen, der unser Lebensschiff in den Sturmfluten bewahrt. Dies könnte ein starker, bewahrender Glaube sein. Da klagt ein Mensch, dem eine schwere Krankheit plötzlich alle Lebenspläne zu durchkreuzen droht: "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr glauben." Dort verliert ein Mensch den Glauben an Gemeinschaftssinn und Nächstenliebe. Wendet er sich enttäuscht von der Kirche ab, scheint er denen Recht zu geben, die provozierend sagen: "Glaube - ja, Kirche - nein!" Hier ist tatsächlich eher das Gefühl der Schwäche, auch wenn wir manchmal in Hochstimmung geraten und "Bäume ausreißen" könnten. Unserem menschlichen Empfinden entspricht mehr, was jener Vater eines kranken Kindes vor Jesus ehrlich aussprach: "Herr, ich glaube; hilf meinem Unglauben!" (Markus 9,24) Dieses Eingeständnis lässt uns spüren: Es ist eben nicht damit getan, über den Glauben einigermaßen Bescheid zu wissen und das Glaubensbekenntnis auswendig herzusagen. Glauben ist mehr als etwas wissen und fürwahrhalten. Zwischen "glauben und glauben" gibt es einen Unterschied. Welche Erfahrungen mit Glauben in Kirche und Gemeinde haben mich weitergebracht, gestützt und getragen, welche wirkten eher hemmend oder gar belastend auf mich? Welchem Glauben schließen wir uns an?
(Darüber möchte ich mit der Gemeinde jetzt nachdenken. Ruhige Orgel-, Flöten- oder Gitarrenmusik kann dabei helfen.)

Ein Bild für Glaube kann Martin Luthers Ausspruch sein: "Das christliche Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern Gesundwerden, überhaupt nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern Übung. Wir sinds noch nicht, wir werdens aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber auf dem Weg." Dass das "Frommwerden" nach biblischer Überzeugung gleichbedeutend mit dem "Einander-gerecht-werden" ist, stellt unseren Glauben - gerade angesichts der derzeitigen globalen Gefahren - vor umfassende Herausforderungen. Jesus hat uns aber mit seinem Gleichnis vom kleinen Senfkorn zur Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden ermutigt und betont, dass Gott den Beitrag eines jeden einzelnen Menschen dazu braucht.

Dietrich Bonhoeffer hat ähnlich wie Martin Luther von einem Lernen im Glauben gesprochen. Glauben bedeutete für ihn "umdenken", und er betonte, "daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt..., nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten, - dann - so Bonhoeffer weiter - wirft man sich Gott ganz in die Arme". (Widerstand und Ergebung, S.183) Unter diesem Aspekt des Lernens können wir die Apostel verstehen, wenn sie Jesus bitten, ihnen den Glauben zu stärken. Was genau hat sie dazu veranlasst?

II. Der Bitte der Apostel gehen im unmittelbaren Zusammenhang die Worte Jesus voraus:
Es ist unmöglich, daß keine Verführungen kommen; aber weh dem, durch den sie kommen! Es wäre besser, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer, als daß er einen dieser Kleinen zum Abfall verführt. - Hütet euch! (V.1-3a)
Die Apostel müssen auf einmal Zweifel empfunden haben, ob sie dem Anspruch Jesu noch genügen können. Vielleicht haben sie gespürt, wie schwer es ist, den Glauben im ganz gewöhnlichen Alltag zu leben. Hat sie die Warnung Jesu beunruhigt und sie selbstkritisch fragen lassen, ob sie der Gefahr, die "Kleinen", die Schwachen in den Gemeinden, zum Abfall zu verführen, gar selbst erliegen werden? Jesus hat sie auf das Zusammenleben mit ihren Schwestern und Brüdern in den Gemeinden angesprochen: Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht; und wenn er es bereut, vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigen würde und siebenmal wieder zu dir käme und spräche: Es reut mich!, so sollst du ihm vergeben. (V.3b-4)

Wir können uns die Bedenken der Apostel lebhaft vorstellen: Wie ist das zu schaffen, immer bereit zu sein, dem Bruder, der Schwester, zu vergeben, ihnen stets eine neue Chance einzuräumen! Sie fühlten sich damit überfordert und meinten darum, zu schwache Gläubige zu sein. Ja, so mögen sie sich gefragt haben: Wie kann man überhaupt ein Jünger Jesu sein? In solchem inneren Zweifel, mit soviel Unsicherheit, wenden sie sich an Jesus und bitten ihn: Stärke uns den Glauben! (V.5).
(Hier kann ein Orgelchoral erklingen, der es den Hörenden ermöglicht, diese Bitte auf sich wirken zu lassen. Die Orgelstrophe EG 406,1, kann zunächst vorgelesen werden: Bei dir Jesu, will ich bleiben...)

III. Jesus antwortete: Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.
Jesu Antwort kommt überraschend: "Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn..." Martin Luthers Übersetzung: "Wenn ihr Glauben hättet..." erweckt den Eindruck, als habe Jesus bei seinen Aposteln keinen Glauben gefunden, nicht einmal einen Glauben, der so winzig wie ein Senfkorn ist. Vermisst Jesus bei ihnen tatsächlich den Glauben? Aber wer um Stärkung des Glaubens bittet, setzt Glaube bereits voraus. Für die Apostel hat der Weg des Glaubens schon begonnen - wie auch viele von uns heute mit ihrem Glauben nicht am Nullpunkt stehen, sondern Erfahrungen mitbringen. In diesem Sinn bedeutet der griechische Urtext wörtlich: "Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn".

Glaube haben wie ein Senfkorn! - Durch diesen Vergleich mit einem Senfkorn veranschaulicht Jesus: Es ist nicht entscheidend, wie groß und stark dein Glaube ist. Glaube, der so winzig und unscheinbar ist wie ein Senfkorn, ist bereits Glaube. Der kleine "Senfkornglaube" ist starker Glaube! Jesus sucht Menschen, die glauben, Gott in allem vertrauen. Habt Glauben an Gott!, ruft Jesus seinen Jüngern an einer anderen Stelle zu (Mk 11,22). Der kleinste Glaubensfunke ist stärker als menschliche Vernunft es für möglich hält.

Wenn ihr Glauben habt so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.

Mit dem Bild vom Bäume (oder Berge) versetzenden Glauben hebt Jesus die Kraft des Glaubens hervor: "alle Dinge sind möglich dem, der glaubt"(Markus 9,23). Indem Jesus von einem Maulbeerbaum spricht, der als besonders wurzelfest bekannt war, gibt er dem Bild noch kräftigere Aussagen. So will Jesus seine Apostel gerade davor bewahren, ihr vermeintliches "Quäntchen" Glauben gering zu schätzen. Es kann in der Verbindung mit Gott kraftvoll wirken. Nicht dem Kleinglauben redet Jesus hier das Wort. Kleinglaube ist kein Glaube, ist vielmehr sein Gegenteil, nämlich Misstrauen. Gott sät kein Misstrauen, Gott sucht unseren Glauben, Gott will unser Vertrauen gewinnen.

Glaube wie ein Senfkorn! - Die Gemeinde wurde heute vor dem Gottesdienst mit einer kleinen Besonderheit begrüßt. Alle haben ein Senfkorn in die Hand gelegt bekommen. Schauen wir es an - wie winzig es ist! Geheimnis des Glaubens! Bedenken wir aber: auch Gewalt und Terror beginnen ganz winzig und unscheinbar, bevor sie übermächtig und zerstörend werden. Es gibt für Jesus kein Maß von Glauben, auch keinen richtigen oder falschen, wenn wir uns nur an jenem Gott orientieren, dem Gott Jesu, der "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" will. Darum gibt es keinen Grund mehr, sich über den Glauben des anderen zu erheben, guten Grund aber, miteinander ins Gespräch über Glauben und Leben zu kommen. Fundamentalisten, Liberale und Progressive in Kirche (und Gesellschaft) können Platz an einem Tisch haben!

IV. Jesus gibt uns den Hinweis, den wir brauchen. Trotzdem stellen wir an uns selbst höhere Erwartungen. Was unterscheidet uns denn heute von den Aposteln! - Da zweifeln wir plötzlich, ob wir den persönlichen oder beruflichen Aufgaben wirklich gerecht werden.Wir überfordern uns, auch in religiösen Dingen, meinen, nicht genug zu haben an Glaube und Liebe, wollen immer mehr und noch etwas dazubekommen. Wir sind mit uns selbst unzufrieden. Jesus überfordert uns nicht. Ein winziger Glaube ist stark genug, um Berge oder Bäume zu versetzen. Nichts ist bei Gott unmöglich! "Nur aus dem Unmöglichen kann die Welt erneuert werden" (D.Bonhoeffer).

Jesus wollte den Menschen Mut machen, ihren Glauben - erscheint er noch so winzig - nicht aufzugeben. Glauben heißt: mein Leben mit Gott in Beziehung bringen, sich Gott zuwenden. Es ist ein Geheimnis, dass Menschen glauben können, wir können es nicht fassen und nicht herbeiführen. Der Glaube, unser Vertrauen zu Gott, hat verändernde Kraft, und er wirkt unterschiedlich in unserem Leben. Dem einen hilft er, die Schöpfung zu bewahren und Leben zu gestalten, dem anderen, liebevoll mit Kindern umzugehen oder ein schweres Schicksal im Leben auszuhalten.

Jesus mutet seinen Aposteln zu, den Gefahren und Herausforderungen in ihrem (Gemeinde-)Leben mit der Kraft des Glaubens zu begegnen. Er vermittelt ihnen damit, dass der Glaube im Alltag lebendig sein muss. Und was "bringt" uns der Glaube? - Jesus sagt im Zusammenhang seines anschließenden Gleichnisses über den "Lohn" eines Lebens und Tätigseins im Glauben: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen war, dann sprecht: Wir haben keine besondere Leistung vorzuweisen. Wir haben nur getan, was wir ohnehin tun mussten.(V.10 nach der Übertragung von J.Zink) Für meinen Glauben kann ich also keinen Dank erwarten, aber ich kann danken, dass ich glauben darf.

Amen.

Kyrie-Gebet zum Gedenken an die Opfer des Terrors und ihre Angehörige
Jesus Christus spricht: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Kinder heißen. / Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison./ Lasst uns beten mit Worten aus Psalmen der Bibel (Psalm 61/64/67): Höre, Gott, mein Schreien und merke auf mein Gebet! Ich rufe zu Dir, denn mein Herz ist in Angst./ Verbirg mich vor den Anschlägen der Bösen, vor dem Toben der Übeltäter. Sie verstehen sich auf ihre Bösen Anschläge und sprechen: Wer kann sie sehen? - Sie haben Böses im Sinn und haltens geheim./ Gott sei uns gnädig und segne uns, lass Dein Antlitz leuchten, dass man auf Erden erkenne Deinen Weg, unter allen Völkern Dein Heil. - Jesus, Du hast gesagt: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Kinder heißen. In Deinem Namen rufen wir: Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison. (Die Gemeinde nimmt das Kyrie singend auf.)

Exegetisch-homiletische Beobachtungen:
Da die Adressaten der Perikope die Jünger bzw. die Apostel Jesu sind, die bereits auf dem Weg des Glaubens waren, halte ich keine "Missionspredigt". Ich spreche die versammelte Gemeinde auf ihren schon vorhandenen Glauben an und ermutige sie weiterhin zu einem Leben im Glauben. In diesem Sinn und aufgrund des griechischen Urtextes (V.6 "echete" scheint älter als "eichete" zu sein), nach dem für Jesus der Glaube seiner Apostel nicht in Frage steht, ist statt "Wenn ihr Glauben hättet..." (so M. Luther) zu übersetzen: "Wenn ihr Glauben habt..." (vgl. die Parallele zu unserer Perikope Mt 17,20; 21,21). Den näheren Kontext (V.1-4 und 7-10), in den die Verse 5f. eingebettet sind, mitzubedenken, ist zu empfehlen, da darin anklingt, warum die Apostel Jesus um Stärkung des Glaubens bitten (V.1-4) und was zum Wesen des Glaubens gehört (V.7-10).

Materialien: Die Gottesdienstteilnehmer/-innen möchte ich vor dem Gottesdienst an der Kirchentür mit einem Senfkorn begrüßen. Ich klebe es mit Tesa auf ein Kärtchen mit der Aufschrift "Glaube wie ein Senfkorn".

Literatur: A.Schlatter, Das Evangelium des Lukas, Stuttgart 1931, S.384-388. - Joachim Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums, KEK Sonderband, Göttingen 1980, S.262f. - E.Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, S.174f.

Liedvorschläge:
EG 432 Gott gab uns Atem - EG 181.6 Laudate omnes gentes -
Kleines Senfkorn Hoffnung (aus: IMP 1008 "Unterwegs") - EG 289,5 Sei Lob und Preis mit Ehren - EG 789.7 Bleib mit deiner Gnade bei uns (zwischen den Fürbitten) - EG 171 Bewahre uns Gott

Heinz Janssen, Pfarrer an der Providenz-Kirche zu Heidelberg und Lehrbeauftragter für Altes Testament an der J.W.Goethe-Universität zu Frankfurt/M.
Evang. Pfarramt Providenz
Karl-Ludwig-Str. 8a, 69117 Heidelberg
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