13. Sonntag nach Trinitatis, 9. September 2001
Predigt über Matthäus 6,1-4 verfaßt von Udo Schnelle

Liebe Gemeinde!

Den ersten Christen hat sich Jesus von Nazareth vor allem als Lehrer eingeprägt. Auch uns begegnet Jesus als Lehrer, denn in der Bergpredigt spricht er seit 2000 Jahren als Lehrer zu uns. Aus dem Zentrum der Bergpredigt stammt unser Predigttext:

"Achtet darauf, eure Gerechtigkeit nicht zu üben vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden, sonst habt ihr keinen Lohn vor eurem Vater in den Himmeln. Wenn du aber Almosen gibst (oder: Wohltaten tust), posaune nicht vor dir her, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, um von den Leuten gerühmt zu werden. Wahrlich ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut; damit dein Almosen im Verborgenen (bleibt). Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir lohnen."

Jesus redet nicht zu denen, die keine Gerechtigkeit üben, sondern zu denen, die sie tun. Es geht um die rechte Praxis der Gerechtigkeit, die das Verhältnis zu den Menschen, aber auch zu Gott bestimmt. Die Forderung ist eindeutig: Richte das Tun der Gerechtigkeit nicht darauf, von den Menschen gesehen zu werden. Sei nicht darauf aus, den Beifall der Menschen zu finden. Das Gute soll im Verborgenen geschehen und sich nicht selbst in der Öffentlichkeit darstellen. Eine Aufforderung, die in unserer heutigen Medienlandschaft sehr seltsam klingt. "Tue Gutes und rede darüber; tue Gutes und stelle es zur Schau". Diese Schlagworte bestimmen unsere Wirklichkeit. Wer beachtet und ins Gespräch kommen will, der muß bewußt in die Öffentlichkeit gehen. Nichts soll verborgen bleiben, sondern alle haben ein Recht darauf, über die Medien alles zu erfahren. Die Selbstdarstellung ist für viele Berufsgruppen schon zur ersten Pflicht geworden. Politiker, Journalisten, Chefs großer Firmen, Rechtsanwälte und auch Bischöfe und Bischöfinnen leben von ihrer Darstellung in der Öffentlichkeit und sind nicht selten davon abhängig. In Umfragen und Politbarometern wird ihnen mitgeteilt, wie beliebt sie noch sind. Wenn von einer Bank, die ihre großen Gewinne im Verborgenen macht, eine Spende für einen guten Zweck übergeben wird, zeigt sich der Firmenchef mit einem übergroßen Scheck in der Zeitung. Es geht nicht mehr um die Inhalte, sondern vor allem um die Darstellung. Der Schein übertrifft heute bei weitem das Sein.

Jesus vertritt ein anderes Konzept. Warum stellt er dem Drang nach Öffentlichkeit das Tun im Verborgenen gegenüber? Weshalb bremst er das menschliche Verlangen, sich selbst in den Vordergrund zu stellen? Wer seine Gerechtigkeit zu einer Schau vor den Menschen macht, der ist zuallererst mit sich selbst beschäftigt. Nicht mehr das Tun und seine Folgen stehen im Mittelpunkt, sondern der Mensch selbst. Der auf die Öffentlichkeit ausgerichtete Mensch unterstellt sich dem Urteil anderer Menschen, er will in ihren Augen als gerecht erscheinen. Sein Tun gilt in Wahrheit nicht den anderen Menschen, es gilt ihm selbst. Auf diese Weise macht er sich abhängig vom Urteil der anderen, ja richtet sich nach diesem Urteil aus. Ein absichtsloses Handeln aus Liebe, ein Tun des Guten um des anderen Willen ist so nicht mehr möglich. Man wartet vielmehr auf den Lohn der Menschen, auf Beifall und Anerkennung.

Jesus verweist auf einen anderen Lohn, den Lohn Gottes: die Liebe. Unter den Augen Gottes ist der Mensch unabhängig von den Blicken der Menschen. Er muß sich nicht den Meinungen anderer unterwerfen und kann sich für die Gerechtigkeit auch gegen die Meinung der Mehrheit einsetzen. Wer nicht auf den Beifall der Menschen schielt, ist wirklich frei, unter den Augen Gottes für das Gute einzutreten. Das Gute, die größere Gerechtigkeit, von der Jesus in der Bergpredigt immer wieder spricht, ist die schöpferische Liebe, die auf den Lohn Gottes und nicht auf Bezahlung hofft.

Der Lohn Gottes - für evangelische Christen eine beunruhigende Vorstellung! Versteckt sich dahinter nicht eine Werkgerechtigkeit, die wir bei anderen vermuten und die bei uns selbst nicht zu finden sein soll? Für Jesus war der Lohngedanke ein natürlicher Bestandteil seines Gottesverhältnisses. Im Zentrum des Lohngedankens steht eine Vorstellung, die unser Leben in all seinen Beziehungen bestimmt: kein Tun und kein Unterlassen ist folgenlos. Wer das Gute tun und das Böse verhindern will, kann nicht folgenlos handeln. Er muß deshalb auch nicht auf die positiven Wirkungen, auf die Früchte, auf den Lohn seiner Arbeit verzichten. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, daß der Lohngedanke auch in unserer Beziehung zu Gott eine wichtige Rolle spielt.

Unser Predigttext setzt voraus, daß der Selbstdarsteller seinen Lohn bereits erhalten hat. Er wurde schon von den Menschen entlohnt; an die Stelle des Gotteslohnes tritt bei ihm der Beifall, die Anerkennung oder die Bezahlung der Menschen. Jesus hingegen empfiehlt seinen Zuhörern, sich ganz auf Gott einzulassen und auf seinen Lohn zu warten. Zahlt Gott besser als die Menschen? Ist sein Lohn wertvoller, so daß es sich lohnt, darauf zu warten? Dieses Berechnen, das naheliegende Spekulieren auf den größten Vorteil durchbricht Jesus mit einem paradoxen Satz. "Deine Linke soll nicht wissen, was deine Rechte tut." Gott ist nicht zu berechnen, im Angesicht Gottes sind keine Berechnungen möglich. Der Wohltäter soll sich bei seinen guten Taten nicht selbst zusehen, sondern auf den Notleidenden blicken. Seine linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut, unauffällig und nicht selbstgefällig muß das getan werden, was nottut.

Auch wenn keine Berechnungen möglich sind, der Lohngedanke bleibt: Der Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir lohnen. Unter den Augen Gottes muß sich der Mensch nicht zur Schau stellen, um Anerkennung zu bekommen. Er braucht sich nicht zu verstellen, sondern kann das Gute um der Bedürftigen willen tun. Sein Tun wird nicht folgenlos sein, denn Gott nimmt es in seine Liebe zu uns Menschen auf. Das Tun des Guten geschieht um des Gotteslohnes willen und damit ganz um des bedürftigen Menschen willen, gleichgültig, ob dieser dafür etwas zurückgeben kann oder nicht. Ein überraschender Gedanke: Die Erwartung des Gotteslohnes ermöglicht überhaupt erst das gute Handeln um des Guten willen.

Was ist denn heute das Gute? Reicht es aus, treu Kirchensteuern zu zahlen und hier und dort eine kleine Spende zu geben? Allgemeine Regeln gibt es nicht, sondern jeder muß seinen Möglichkeiten und der Situation entsprechend immer wieder neu entscheiden. Das ist schwierig genug. Manch einer gibt generell nichts, andere entscheiden sich spontan. Mir flattern in letzter Zeit vermehrt Bittbriefe aus Afrika ins Haus. Unbekannte Menschen bitten um Hilfe und malen auch gleich drastisch die Folgen meiner möglichen Verweigerung aus: Hunger und Tod. Wenn mir in der Stadt ‚Haste mal ne Mark'-Jugendliche begegnen, weiß ich meistens nicht, ob ich etwas geben soll. Man wird skeptisch gegenüber weltweit organisiertem Betteln und ist nur ungern Geldgeber für Alkohol und Drogen. Also keine Patentrezepte, sondern nur die mühselige Entscheidung von Fall zu Fall. Entscheidend für Jesus ist das Motiv des Handelns.

Unter den Augen Gottes braucht sich der Mensch nicht zur Schau zu stellen, der Fromme muß nicht mehr scheinen als sein. Das griechische Wort in unserem Text für Heuchler meint ursprünglich einen Schauspieler, der eine Rolle zu spielen hat und dafür in der Antike eine Maske trug. Ein Heuchler täuscht etwas vor, er ist ein Schauspieler, der nicht wirklich meint, was er sagt. Der Fromme soll nicht wie ein Schauspieler eine Maske tragen und nach dem Applaus des Publikums heischen, um so seine eigene gute Tat zu genießen. Durch Selbstdarstellung kommt kein Mensch wirklich an die Liebe heran, denn er will damit die Liebe erwerben. Liebe läßt sich nicht erwerben, sie wird geschenkt, sowohl von Gott als auch von Menschen.Wer sein Menschsein auf die Darstellung nach außen, auf den äußeren Menschen verlegt, der wird niemals im Inneren reich und neu. Das Schielen auf den Beifall der anderen ist immer ein vergänglicher Akt, der immer neue und auffälligere Mittel einsetzen muß, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Die täglichen Talk-Shows im Fernsehen sind das auffälligste Beispiel dafür. Ein Leben unter den Augen Gottes hingegen weiß sich getragen von der Güte und Liebe des Schöpfers. Er allein weiß, was wir brauchen und er gibt es uns, damit wir es teilen und weitergeben. Zu dieser Einsicht will uns der Lehrer Jesus von Nazareth führen.

Amen

Prof. Dr. Udo Schnelle