hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch |
Predigt über Johannes 9,1-7 von Heinz Janssen |
Predigttext Johannes 9,1-7 (nach Martin Luther, Revision
1984)
1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren
war.
Liebe Gemeinde! "Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war" - das Evangelium von der Heilung eines Blindgeborenen nimmt uns mit auf Jesu Weg zu den Menschen. Jesus sah einen Menschen - das könnte jede und jeder von uns sein. Damals war es ein von Geburt an behinderter, blinder Mensch. Bis heute gibt es wie damals auch Blindheit im übertragenen Sinn. Bedenken wir zunächst: Eltern haben ein behindertes Kind. Wie schwer muss es für sie sein, diese Behinderung anzunehmen. Ist es nicht verständlich, wenn sich diese Eltern fragen: Womit habe ich/haben wir das verdient? Von solchen Familien erfahren wir: eine Familie mit einem behinderten Kind ist eine auch behinderte Familie, weil sie immer wieder Hindernisse überwinden muss. Sie kann nicht das sogenannte normale Leben führen wie andere, davon fühlt sie sich und ist tatsächlich oft wie ausgegrenzt. Die Behinderung betrifft alle, als Sorge, als Aufgabe, als tägliche Herausforderung. Und wie mag es dem Menschen gehen, der blind zur Welt kommt? Wie nimmt er die Welt wahr, um zu verstehen? Er muss seine anderen Sinne - tasten, fühlen und hören - viel stärker nutzen, weil Menschen wie er eine ganz wichtige Sprache nicht wahrnehmen können: die Körpersprache, die so viel über jeden Menschen aussagt. Er ist auf die "Zwischentöne" angewiesen. Er kann lernen zurechtzukommen. Aber quält nicht auch ihn die Frage: warum gerade ich? Orgelchoral zu EG 74,4 Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht, führ uns durch Finsternis zum Licht I. Entlastend die Antwort Jesu auf die Frage, wer angesichts der Krankheit gesündigt habe, der Behinderte oder seine Eltern: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Jesus weist den Zusammenhang von Sünde und Krankheit entschieden zurück und setzt einer nicht nur damals gängigen Meinung entgegen: "es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm". Diese Worte Jesu wären allerdings gründlich missverstanden, wenn wir heraushören, Gott lasse einen Menschen behindert zur Welt kommen, nur damit Jesus ihn heilen und sich damit - und Gott selbst - profilieren kann. Das Wunder liegt nicht in der Vorherbestimmung, sondern in dem Augenblick der Begegnung, darin, dass Jesus den Menschen, der ihm blind begegnete, sah, ihn wahrnahm und nicht an ihm vorbeiging. Jesus erkennt: da ist jemand, der Hilfe braucht. Und er weiß um das Gebot der Stunde: "es kommt die Nacht, da niemand wirken kann", sagt Jesus, und: "solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt". Die Nacht darf nicht die Oberhand gewinnen. Jesu Licht muss leuchten. Orgelchoral zu EG 72,1 O Jesu Christe, wahres Licht Die Werke Gottes werden auch heute noch offenbar, wenn wir "gegen allen Augenschein" glauben, darauf vertrauen können, dass in den dunkelsten Lebenssituationen Gott bei uns ist und uns nicht allein lässt. Die Werke Gottes werden an uns offenbar, und Gott wirkt in uns seine Werke, wenn uns die Leiden der anderen Menschen samt allem Leid der Welt berühren, wir sie vor Gott bringen und mit ihm teilen. II. Jesus wendet sich dem blind geborenen Menschen zu und handelt wie ein Wunderheiler, indem der dem Blinden einen aus Erde und Spucke gerührten Brei auf die Augen streicht. Eigenartig die Prozedur Jesu. Genügte es nicht, dass die Augen des Blinden schon seit Geburt verschlossen waren, muss Jesus sie nocheinmal mit Erde gleichsam verschließen? Haben wir es jetzt mit einer doppelten Blindheit, einer inneren und äußeren, zu tun? Jesus fordert den Erblindeten dann aber überraschend auf, den (heilenden) Erdschlamm, den er ihm auf die kranken Augen gestrichen hatte, im Teich Siloah abzuwaschen. Jesus lässt den Blinden selbst tätig werden, er muss sich auf den Weg machen. Der Blinde konnte Jesus nicht sehen, aber er hörte ihn, und er tat, was er gehört hat: er folgte der Aufforderung Jesu. Dieses Sich-auf-den-Weg-machen des in der Blindheit noch Gefangenen brachte ihm die Heilung. Der sich nach dem Licht sehnende Mensch muss die Chance seines Lebens ergreifen. Die göttliche Gnade des Heils und der menschliche Glaube sind hier aufs engste miteinander verbunden, treten in eine unmittelbare Beziehung. Der Name des Teiches Siloah, an dem der Blinde seine "Erleuchtung" hatte, heißt auf deutsch - wie ausdrücklich im Bibeltext vermerkt wird - "gesandt". Dadurch wird hervorgehoben: der Geheilte soll seine (Gottes-) Erfahrung nicht für sich behalten. Gott sendet ihn in die Welt, ins Leben, damit es auch für andere Tag wird. Leuchtet damit bereits eine Symbolik auf, die in das Leben eines jeden Menschen greift, der gesunde Augen hat und meint sehen zu können? Orgelchoral zu EG 161,3 O du Glanz der Herrlichkeit, Licht vom Licht, aus Gott geboren III. An dieser Stelle beginnt die Bedeutung für diese andere Art von Blindheit, die in unserer Bibelgeschichte anklingt, besonders in der Auseinandersetzung in den frommen Kreisen, die sich an diese Heilung anschließt. Die Auseinandersetzung mündet in die Frage der Pharisäer: "Sind wir denn auch blind?" Gut, wenn auch wir (wenn wir gesunde Augen haben) uns dieser Frage stellen. Denn das gibt es tatsächlich: wir können sehenden Auges blind sein. Antoine Saint-Exupéry lehrt uns in seiner Erzählung "Der kleine Prinz": "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar". Hat vielleicht auch Jesus diese Wahrheit mit dem Auftragen des Erdbreies verdeutlichen wollen, der ja noch mehr von der Außenwelt abschirmte und eher den Blick nach innen lenkte? Sind wir die blinden Pharisäer auf den Kirchenbänken? Wer
möchte sich so etikettieren lassen? Fällt es uns aber nicht selten
schwer, hinzuschauen, wo es nötig ist? Und manchmal schauen wir mit
Herzklopfen weg, stecken den Kopf in den Sand nach der Devise "was ich
nicht weiß, macht mich nicht heiß"! Wie oft hat die Kirche
weggeschaut? Wieviele Christen/-innen schauen heute weg, wenn andere Menschen
in Gefahr sind, ihnen ihre Würde und ihr Leben genommen wird? Sogar
der Glaube kann blind machen, daran erinnern die Kriege, die unter Missbrauch
des Namens Gottes geführt wurden und werden, auch die Kleinkriege
in unserer Gemeinde und Gesellschaft.
Meditative (Orgel-) Musik IV. Gibt es auch Wunder für all die Menschen, die meinen, sehend
zu sein? Ja - und ob! Es ist ein Wunder, wenn Fremde nicht als bedrohlich
empfun-den werden, sondern als eine menschliche Bereicherung. Es ist etwas
Wunderbares, wenn uns von irgendwoher Hilfe kommt, mit der wir nicht gerechnet
haben. Nicht zu vergessen die täglichen kleinen Wunder, für die
wir oft blind sind. Das größte Wunder aber ist, wenn wir mit
Jesus den Mut fin-den, so im Vertrauen auf Gott zu leben, wie Jesus es
uns vorgelebt hat. Dann werden die Werke Gottes offenbar, und es hat nicht
die Nacht die Macht über uns, sondern der Tag bestimmt uns und mit
ihm das Licht, das uns hinweist auf Jesus, den Christus Gottes. In dem
Namen Jesus ist das ganze Wollen Gottes, sein Wohlwollen und sein Gott-mit-uns-und-für-uns
umschrieben. Jesus, hebräisch Jeschua, bedeutet: Gott hilft, rettet,
heilt. Von ihm erleuchtet werden wir für andere zum Licht und bringen
die Frucht, auf die Gott voller Hoffnung wartet. So sind wir die Kirche
Jesu Christi - als geheilte, sehende und heilende Gemeinschaft, in der
wir einander wahrneh-men, achtsam miteinander umgehen und immer wieder
'ein Licht anzünden, wo die Finsternis regiert'.
Amen.
Exegetisch-homiletische Anmerkungen
Eingangsgebet (mit Worten von Dietrich Bonhoeffer):
Tagesgebet (nach Agende der EKKW):
Psalmvorschlag: Psalm 36,6-10 (EG 719) Gott, Deine Güte
reicht, so weit der Himmel ist
Heinz Janssen,
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