Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch 
7. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juli 2001
Predigt über Lukas 9, 10 - 17 von Wilfried Theilemann
Lukas 9, 10 - 17:
Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida. Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Laß das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, daß wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Laßt sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. Und sie taten das und ließen alle sich setzen. Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrigließen, zwölf Körbe voll. 

Anmerkung zur Predigt

Liebe Gemeinde,

Es gehört zu einer fest verwurzelten Lebensanschauung, daß man sich stets an das Wirkliche halten soll, wenn man überlegt, welche Möglichkeiten bestehen. Und das Wirkliche ist aufs engste verbunden mit dem, was wir im wirklichen Leben erfahren. An diese Klugheitsregel soll man sich halten. Das hat seinen guten Grund. Denn wie oft träumt man von einer anderen Wirklichkeit, anderen Lebensverhältnissen, doch dann stellt sich heraus, daß der Traum eine bloße Träumerei ist angesichts der ganz anderen Wirklichkeit, die sich doch immer wieder durchsetzt. Das wird uns deutlich schon an einem ganz einfachen Beispiel: Wir schauen uns einen schönen Film an im Fernsehen oder im Kino, der Film nimmt uns in Beschlag, versetzt uns in eine andere Wirklichkeit, für 1½ Stunden vergessen wir unsere unmittelbare Wirklichkeit und gehen ganz auf in einer gespielten Wirklichkeit, die eine Scheinwelt ist. Und dann kommt der Moment, der Film ist zu Ende, das Gefühl schlägt um, weil sich die traumhafte Welt auflöst in die Wirklichkeit, die wir dann oft als die rauhe Wirklichkeit empfinden. Das vorherige traumhafte Glücksgefühl hat sich in Luft aufgelöst. Doch diese rauhe Wirklichkeit - wir müssen sie als die wahre Wirklichkeit bezeichnen. Diese Erfahrung von Wirklichkeit hindert uns allerdings keineswegs daran, uns nicht immer wieder  Zeit zu nehmen für das Erleben einer schönen Traum-Wirklichkeit, nach der wir uns sehnen, weil sie gleichsam eine Erholung ist gegenüber der rauhen Wirklichkeit, die wir zu ertragen haben. Aber das ist nur eine Seite. Schönes zu erleben ist ja keinesfalls immer bloß Träumerei. Wir nehmen uns doch so oft es geht Zeit für die schöne Wirklichkeit, für das, was wir glückliches, gelingendes Leben nennen: Freizeit, Urlaub, Beschäftigung mit dem, was uns Spaß und Freude macht, erfüllte Gemeinschaft, begeisternde Erlebnisse. Das ist die andere Seite, auch Wirklichkeit. Aber was ist denn nun die wahre Wirklichkeit? Wenn wir den Doppelsinn von Wirklichkeit vor Augen haben stellt sich uns die Frage: ist denn die schöne Wirklichkeit nicht die eigentliche, die wahre Wirklichkeit? Wir merken jetzt auf einmal, daß es gar nicht so selbstverständlich ist, was die wahre Wirklichkeit ist. Denn auf der einen Seite gibt es ja Glück, gelingendes Leben, Erlebnisse, die uns mit Freude erfüllen. Wenn wir das die wahre Wirklichkeit nennen, dann ist die rauhe Seite des Lebens rein negativ bestimmt. Doch das Andere gilt genauso: Nennen wir die rauhe Seite die wahre Wirklichkeit, dann sind Glück und Freude ja auch da, aber immer schon durch ihr Vergehen gezeichnet, haben durch ihr Vergehen immer schon den negativen Beigeschmack. Und: die glücklichen Stunden müssen wir zumeist immer erst der rauhen Wirklichkeit abgewinnen, dem rauhen Alltag, wie wir sagen, und dann: wie gewonnen, so zerronnen, wir können das Glück nicht festhalten. Wir merken, die Wirklichkeit unserer Erfahrung ist nicht einheitlich, sie ist beides, Freude und Erleiden, ein Doppelgesicht, zusammengesetzt aus Lachen und Weinen. Haben wir diese Doppelseitigkeit wahrgenommen, dann zeigt sich jetzt als wahre Wirklichkeit: Was unser Leben in Wahrheit bestimmt, ist das uns und alles Leben beherrschende Wesen der Zeit, die alle Dinge kommen und gehen läßt, die Zeit, die Werden und Vergehen bestimmt als ein Gesetz, dem nichts und niemand entkommen kann. Jetzt haben wir noch ein anderes Gesicht von Erfahrung der Wirklichkeit vor uns, das Gesetz der Zeit des Werdens und Vergehens von allem, das sich schließlich in dem Satz ausspricht: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Alles wiederholt sich: Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Einatmen und Ausatmen, Arbeit und Freizeit, die immer kreisenden Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Entstehen und Vergehen, Leben und Tod. Wir brauchen keine weiteren Aufzählungen, um zu sehen, wie die Herrschaft der Zeit eben alles durchherrscht. Wie ein eisernes Gesetz durchwaltet die Zeit offensichtlich alles Geschehen. Darum: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Wenn wir uns jetzt unseren Text aus dem Lukasevangelium vor Augen halten, dann erzählt er von einer Wirklichkeit, die ganz und gar nicht in das eben ausgeführte Verständnis von Wirklichkeit zu passen scheint. Fünf Brote und zwei Fische - und 5000 Menschen, die alle satt werden. Etwas Neues. Ein Wunder. Doch Wunder passen nicht in unser Wirklichkeitsverständnis. Man soll sich an das Wirkliche halten, und das ist, wie wir sahen, das ständig wechselnde Gesicht der Wirklichkeit, das Doppelgesicht des Werdens und Vergehens, von Freude und Leid. Wir sind geneigt, die Wundergeschichte als bloße Geschichte zu nehmen, die mit Wirklichem nicht vereinbar ist. Doch genau dagegen geht unsere Geschichte an, sie will die unmittelbare Wirklichkeit vom Grund der Wahrheit her zur Sprache bringen, will die Wahrheit zeigen, die nicht dasselbe ist wie das, was wir unmittelbar als Wirklichkeit nehmen. Fünf Brote und zwei Fische, das ist angesichts einer Volksmenge von 5000 Menschen so gut wie nichts. Der Gegensatz zwischen dem Vorhandenen und dem für 5000 Menschen zur Sättigung Notwendigen ist bewußt so groß gehalten, daß jedes natürliche Erklären unmöglich ist. Das Wenige für alle aufzuteilen wäre unsinnig, das gäbe für jeden -  eben nichts! Darum geht es offensichtlich in der Wundergeschichte: den Horizont unseres gewöhnlichen Verstehens aufbrechen. Wie selbstverständlich nehmen wir unser natürliches Erklären als Maßstab zur Beurteilung für das, was Wirklichkeit beanspruchen kann. Natürlich gilt: von Nichts kann man nicht satt werden, das gilt in der Wirklichkeit. Aber gilt diese Selbstverständlichkeit von der Wirklichkeit im Ganzen des Lebens? Ist die Wahrheit unserer Lebenswirklichkeit auch nur das, was für uns selbstverständlich ist? Indem die Geschichte von der Speisung der 5000 etwas für unser Denken und Vorstellen Unmögliches ausspricht, fordert sie uns heraus, entweder kopfschüttelnd abzuwinken, oder aber das, was wir als selbstverständlich einfach annehmen und voraussetzen, aufbrechen zu lassen für ein anderes Verstehen. Das, was wir für wirklich halten, daß die Welt und das Leben letztlich von dem ewigen Gesetz des Werdens und Vergehens bestimmt ist, nach dem denn auch im Grunde gilt, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, soll aufgebrochen werden, weil es nicht die Wahrheit der Wirklichkeit ist. Dann aber gilt: vor der Möglichkeit der Täuschung, daß nur das wirklich ist, was nach unseren Maßstäben dafür gilt, will uns die Wundergeschichte bewahren. Jesus zieht sich mit seinen Jüngern zurück an einen einsamen Ort, aber die Volksmenge hat das mitbekommen und zog ihm nach. Jesus läßt sich auf die Situation ein und spricht zur Menge vom Reich Gottes und heilt die Kranken. Mittlerweile ist es Abend, die Jünger werden unruhig, schließlich wenden sie sich an Jesus, um ihn, der offensichtlich ganz in seinem Reden und Handeln aufgegangen ist, in die Wirklichkeit zurückzuholen: "Laß das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste." Jesus antwortet mit einer ungeheuren Herausforderung: "Gebt ihr ihnen zu essen." Das ist für die Jünger ein völlig unmögliches Ansinnen bei fünf Broten und zwei Fischen. Entsprechend unserem menschlichen Realismus sagen die Jünger: "es sei denn, daß wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen". Das wäre ja vielleicht gerade noch eben vernünftig - realistisch möglich, aber doch unmöglich in einer Wüstengegend. Da ist offensichtlich nichts mehr machbar. Und doch werden alle satt. Was in den Augen der Jünger und auch in unseren Augen unmöglich ist, ist wider unser Erwarten möglich! Das sagt die Speisung der 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen. Wider alles Erwarten unsererseits - das heißt doch, daß  wir von Gott nichts erwarten. Wir rechnen in unserem unmittelbaren menschlichen Bewußtsein gar nicht mit der Wirklichkeit Gottes. Wenn aber Gott ist, dann ist er die alles bestimmende Wirklichkeit, sonst ist das Wort "Gott" eine sinnlose Vokabel. Jesus vertraut auf Gott, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist. Er ist allerdings kein magischer Wundertäter, der unsere menschlichen Wünsche nach Glück erfüllt. Jesus vertraut Gott, vertraut darauf, daß Gott größer ist als das Gesetz der Zeit eines ewigen Werdens und Vergehens, nach dem es unter der Sonne letztlich nichts Neues gibt. Er vertraut darauf, daß Gott das Heil der Menschen will und dieses Heil durch alles Werden und Vergehen hindurch unumstößlich durchsetzt. Und das tut und dabei bleibt Gott nicht nur entgegen unseren Erwartungen von dem, was möglich ist, sondern dabei bleibt er auch trotz des Widerstandes des Menschen gegen Gott. Jesus hat nichts anderes getan als die Heilswirklichkeit Gottes bezeugt in Wort und Tat. In unserer Geschichte: "und (er) sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften". Er, der die Heilswirklichkeit Gottes bezeugte und darum der Heiland heißt, wurde gekreuzigt, weil er das Heil Gottes nicht in der Weise verwirklichte, wie es menschlichem Wirklichkeitsverständnis entspricht. Gott hat auf diese Tötung Jesu nicht mit dem Geist der Rache geantwortet, sondern seine Antwort auf Karfreitag ist und bleibt Ostern. Ostern bedeutet: nicht der Tod ist das letzte Ende, sonder Leben, heiles Leben, nicht tödliches Leben, wie es unser jetziges Leben ist. Unser Glaube ist ein Vertrauen auf Gottes Heil als die Wirklichkeit durch das Doppelgesicht unserer Lebenswirklichkeit, durch Lachen und Weinen hindurch. Indem wir auf Gottes Heilswirklichkeit vertrauen, ist dieses Heil im Vertrauen schon da, schon wirklich, obwohl es zugleich als vollendete Wirklichkeit noch aussteht, also erwartet werden muß. Es gibt in unserer Sprache ein Wort, daß diesen eigenartigen Wirklichkeitscharakter gut darstellt, es ist das Wort "Zuversicht". Wir sagen ja oft: In dieser Angelegenheit bin ich ganz zuversichtlich, d.h. wir verlassen uns darauf, daß eine Sache gut ausgeht. Wenn jemand erkrankt ist und sich einer schweren Operation unterziehen muß, dann ist er in Angst und Bedrückung, weil er nicht weiß, ob er durchkommt. Sagt der Arzt ihm dann, daß er solche Operationen schon sehr oft mit gutem Erfolg durchgeführt hat, dann ist der Patient doch ganz zuversichtlich, hoffnungsvoll, wenn auch im Hintergrund noch die Angst lauert, es könnte vielleicht doch schief gehen. Aber die Zuversicht, die der Patient hat, versetzt ihn doch in Hoffnung, macht ihn lebendig in seinem Leiden an der Krankheit. Wenn nun aber Gott sagt, und so steht es im 2. Buch Mose: "Ich bin der Herr, dein Arzt", wenn Gott der Arzt unseres Lebens ist, dann ist eine Zuversicht möglich, die nicht mehr in Verzweiflung am Leben erstickt werden kann. Diese Zuversicht ist die Gewißheit des Glaubens, die in Glück und Leid, durch Leid und Tod hindurch in Geduld darauf vertraut, daß Gott das Heil erfüllen wird, wann und wie er will. Das ist das Neue unter der Sonne. In dem Wort Zuversicht steckt das Wort "Sicht", es ist die Sicht der Ewigkeit als das allezeit mögliche Neue in der Zeit, das uns erneuert. Es ist die Sicht, in der wir jetzt schon sehen, was sein wird, wenn wir nicht mehr sind - die neue Zeit eines Lebens ohne Tod. Indem der Glaube an Gott festhält, auch dann festhält, wenn es in unserem Leben nicht nach unserem Wollen und Wünschen geht, befreit er uns von einer so oft verderblichen Grundangst um unser Leben, befreit uns damit zum Tun der Liebe als Antwort auf Gottes Liebe zu uns. Zuversicht - das ist ein Leben, das seine Wirklichkeit nicht als Zulaufen auf das Vergehen sieht, sondern als die Freiheit zum Wirken in der Welt aus der Kraft der inneren Gewißheit heraus, daß bei Gott alle Dinge möglich sind. 

Amen.

Anmerkung zur Predigt:

Die Predigt ist eine Themenpredigt. Sie behandelt die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis. Ausgangspunkt ist die im Lebensvollzug erfahrene Doppelseitigkeit von Freude und Leid, deren Wechsel unter dem Diktat der Zeit, was zu der Einsicht führt, daß es eigentlich nichts prinzipiell Neues unter der Sonne gibt. Den Kontrast dazu bildet der Test, die Speisung der 5000. Mit dem "Wunder" sollen die vom Menschen für selbstverständlich gehaltenen Verstehensbedingungen aufgebrochen werden für die Einsicht, daß bei Gott alle Dinge möglich sind - durch Leid und Freude hindurch. Dabei kommt ansatzweise zugleich die präsentische wie futurische Eschatologie in den Blick durch die "Zuversicht". Wegen der Thematik der Predigt sind der Bezug auf das Abendmahl oder auch auf die Dimension Feiern und Teilen nicht aufgegriffen.

Wilfried Theilemann
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