6. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2001
Predigt über Jesaja 43, 1-7 von Maria Widl

Gedanken zu Jes 43, 1-7:
Jetzt aber - so spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir.
Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.
Denn ich, der Herr, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter. Ich gebe Ägypten als Kaufpreis für dich, Kusch und Seba gebe ich für dich. Weil du in meinen Augen teuer und wetvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker. Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir.
Vom Osten bringe ich deine Kinder herbei, vom Westen her sammle ich euch. Ich sage zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halt nicht zurück! Führe meine Söhne heim aus der Ferne, meine Töchter vom Ende der Erde! Denn jeden, der nach meinem Namen benannt ist, habe ich zu meiner Ehre erschaffen, geformt und gemacht.

Dieser Textabschnitt stammt aus dem Trostbuch des Deuterojesaja. Es ist um 550 v.Chr. entstanden, als sich das Volk Israel schon gut 50 Jahre im Exil in Babylon befand. Diese Erfahrung hat sein Selbstverständnis grundlegend verändert. Es hat einen Paradigmenwechsel vollzogen, würde man heute sagen. Was war geschehen? Das babylonische Reich, zur damaligen Zeit die Großmacht des Vorderen Orients, hatte in mehreren Wellen den Süden Israels annektiert, die gesamte Ober- und Mittelschicht deportiert und schließlich 586 auch noch Jerusalem und den Tempel zerstört. Die Israeliten wurden im Zwischenstromland angesiedelt, als halbfreie Bürger sozialisiert und in das florierende Wirtschaftsleben integriert. Sie gelangten zu beachtlichem Wohlstand und Einfluss, durften im großen Vielvölker- und Religionenreich auch ihren Glauben frei ausüben.
Trotzdem wollten die meisten zurück, heim ins Gelobte Land und den Tempel wieder aufbauen. Vermittelt durch die Propheten erkannten sie, dass das Exil kein politisch verursachtes Schicksal, sondern eine von Jahwe verhängte Strafe war, weil das Volk sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen eingerichtet hatte, statt den Geboten Jahwes zu folgen. Sie zogen daraus drei Schlussfolgerungen, die zu einem einschneidenden Wandel im religiösen Verständnis führten:

  • Erstens: Jahwe ist nicht nur ein Stammesgott, dessen Einfluss mit der Zerstörung seines Tempels verschwinden würde. Nein, er ist Herr der ganzen Welt und alle anderen Götter sind ihm unterlegen, sind Nichtse neben ihm. Aus einem Nationalkult wird eine umfassende, an ethischen Normen orientierte Religion.
  • Zweitens: Jahwe ist nicht ein ferner und fremder Gott, den man durch Opfer gnädig stimmen müsste. Er ist seinem Volk nah, weil er es liebt, und das ganz persönlich. Er wird sein Volk durch den "Gottesknecht" zur Freiheit führen (Das erste von vier "Liedern" über den leidenden Gottesknecht bei Deuterojesaja steht unmittelbar vor unserem Text). So entsteht im Exil die Hoffnung auf einen Messias.
  • Drittens: Das Volk dient Jahwe daher nicht am besten durch Opfer, sondern indem es das Gesetz befolgt. Im Exil entstehen die ersten Synagogen, Versammlungsräume, in denen die Angelegenheiten der Gemeinschaft besprochen, das Wort Gottes gelesen und sein Gesetz studiert werden. Aus einem Opferkult wird eine Buchreligion.

Diese drei Punkte - universales Gottesbild, Messiashoffnung und Orientierung am Wort Gottes - sollten auch nach dem Exil, das nach drei Generationen 539 zu Ende ging, das Judentum entscheidend prägen und später im Christentum eine neuerlich Wende erfahren.

Alle drei Momente spiegelt unser Text wider. Was hat er uns Heutigen zu sagen? Gibt es für uns dem Exil analoge Erfahrungen? Ich möchte drei ganz verschiedene nennen, für unterschiedliche Personengruppen unserer Gesellschaft mit diametral verschiedenen Welterfahrungen.

Die erste aktuelle Exilserfahrung machen die Gemeinden in der Diaspora der Neuen Länder ebenso wie viele traditionale Katholiken. Sie leben in einer durch und durch säkularen und gottfreien Welt, wo die Alltagsgeschäfte, die Wirtschaft und das allgemeine Wohlergehen im Zentrum stehen und Gottes Gesetze völlig ignoriert werden, bis zur kompletten Unkenntnis. Religiöse Riten und pseudoreligiöse Ersatzreligionen gibt es viele, alle religiösen Bedürfnisse scheinen befriedigt, niemand wird am christlichen Glauben gehindert; aber nur noch sehr wenige interessiert er. Angesichts dieser Erfahrung ist die Sehnsucht groß, die Zeit zurückdrehen zu können, heimzukehren in das Gelobte Land allgemein vollzogener Volkskirchlichkeit. "Wir müssen uns wieder an die Gebote Gottes halten", sagen sie. "Und wir müssen den Menschen verkünden, dass der Messias auch für ihre Sünden gestorben ist. Umkehr tut Not!" Wer sein Christsein auf diese Weise versteht, hat zwei zentrale Momente unseres Textes verinnerlicht: das Leben nach dem Gesetz und den Sühnetod des Gottesknechtes. Das dritte Motiv wird hingegen ausgeblendet: Gott ist Herr dieser Welt (und nicht der Teufel). Von daher lautet die Frohbotschaft des Jesaja aus unserem Text: "Fürchte dich nicht; denn ich bin bei Dir!"

Eine zweite, andere Exilserfahrung machen heute jene, die erfolgreich im modernen Leben stehen, aber von seinen Sachzwängen aufgefressen werden. Väter sehen ihre Kinder höchstens am Wochenende, der Arbeitsstress wird zum alltäglichen Normalfall. Frauen gehen in der Dreifachbelastung unter, die ihnen das Powerfrau-Image zumutet. Der moderne Erfolgsmensch wird in seinem Wohlstand nicht froh, er fühlt sich vom wahren Leben abgeschnitten. Er befolgt die Gesetze, die ihm die Arbeits- und Konsumgesellschaft diktiert, unterwirft sich dem gnadenlosen Diktat einer spätmodernen Religion, deren Gott das Geld ist. Er verlangt jedes Opfer und er will geliebt werden. Der Trost der Religion hat maximal am Sonntag seinen Platz. Für ChristInnen, die solche Exilserfahrungen machen, bezeugt unser Text einen Gott, der mich ganz persönlich liebt, mich bei Namen kennt und beim Namen ruft, weil er mich für ein gutes Leben bestimmt hat. Er verlangt keine Opfer, sondern bringt sich selbst dar, geschenkt und ohne Leistungsanforderungen. Wer immer sich in diese Gotteserfahrung vertieft - und viele ChristInnen tun das, im alternativen wie im Bewegungssektor - der macht eine seltsam befreiende Erfahrung: Die Sachzwänge des modernen Lebens sind wie eine Gefängniszelle, in der der Schlüssel innen steckt. Dreh den Schlüssel im Schloss, indem du dein Leben an Christus und seinen Regeln für ein gutes Leben ausrichtest. Dann stoss die Tür auf und tritt ins Freie; niemand wird dich hindern können. Und Gott wird bei dir sein.

Eine dritte Exilserfahrung schließlich machen jene, die unsere gesamte Kultur von einer industrialisierten und globalisierten Wirtschaft und Technik überrannt sehen. Es sind die Globalisierungsgegner und die Ökobewegten, die dieses Wochenende wieder doppelt aufschreien: beim G8-Gipfel in Genua und beim Weltklimagipfel in Bonn. An beiden Orten wird überdeutlich, dass die Bewahrung der Schöpfung nach Gottes Bild, dass ein gedeihliches Leben in einer intakten Natur für die heutigen Armen der Erde und kommende Generationen zwar gern für politische Sonntagsreden herhalten darf, in der politischen Realität aber der unmittelbare Profit des weltweiten Kasinokapitalismus alles ist. Wissenschaftlich seriöse Alternativen sind längst bekannt: "Negawatt statt Megawatt" (Einsparungen beim Strom durch technischen Fortschritt), kluges Mobilitätsmanagement statt blinde Automobilisierung (für Kostenwahrheit im Verkehr), die "Tobin-Steuer" auf Spekulationsgewinne (0,1% würden genügen, den Welthunger zu beseitigen), Gesundheitsvorsorge statt Reparaturmedizin (incl. der Stammzellenforschung), Lebens- statt Genussmittel (für ökologischen Landbau statt Agroindustrie und Food-Design) usw. All diese Konzepte kommen nicht oder nur halbherzig zum Zug aus zwei Gründen: erstens wird keine neue Technologie serienreif gemacht, solang man mit der alten noch verdienen kann - trotz allgemeinem Schaden; zweitens werden alle Bereiche zurückgedrängt, die Leben als Gottesgeschenk sichtbar machen (Gesundheit, Lebensfreude, frisches Wasser, ertragreiche Natur usw.), um die Menschen von Industrieprodukten abhängig zu machen, an denen das Großkapital unverhältnismäßig verdienen kann. Wer solche Exilserfahrungen heute macht, sucht die Gesetze des Schöpfers in den Regeln der Natur, von der wir ein Teil sind, um sich in sie einzufügen. Sie/er hofft nach Kräften, dass die Erlösungsmacht und Leidensfähigkeit unseres Gottes alles zum Guten wenden wird. Unser Text bringt diesen Menschen neu in Erinnerung, dass Gott uns ganz persönlich geschaffen hat, kennt und liebt. Und dass diese Liebe schon immer und immer neu Berge versetzen kann, weil sie Vertrauen schafft und Möglichkeitsräume eröffnet.

Wir heutigen Menschen haben ganz verschiedene Exile. Das Trostbuch des Jesaja hat allen etwas zu sagen.

Univ.-Doz. Dr.habil. Maria Widl
Färbermühlg. 13/3/21
A-1230 Wien
Mail: maria.widl@univie.ac.at