6. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2001
Predigt über Jesaja 43, 1-7 von Peter Kusenberg

1 Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner statt,
4 weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
6 ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde,
7 alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Jesaja 43,1-7

Liebe Gemeinde!
"Fürchte dich nicht!" Dieser Zuspruch Gottes aus dem heutigen Predigttext zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bibel, vom Ersten Buch Mose bis zur Offenbarung des Johannes. "Fürchte dich nicht!" So redete Gott mit den Vätern des Volkes Israel, Abraham, Isaak und Jakob. "Fürchte dich nicht!" sprach er zu Mose und Josua.
Dieselben Worte hört im Neuen Testament Maria den Engel sagen, der ihr ankündigt, sie werde Gottes Sohn zur Welt bringen. Was hören die Hirten in der Weihnachtsgeschichte ebenso wie die Frauen am leeren Grab Jesu? "Fürchtet euch nicht!"
Jesus spricht so den Fischer Petrus an: "Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen." Den Apostel und Missionar Paulus ermutigt in Griechenland eine nächtliche Vision "Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht!"
Und am Ende der Bibel schließlich, in der Vorausschau des Sehers Johannes auf das Ende der Welt, erklingen die Worte noch einmal: "Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte."
Gott steht am Anfang und am Ende. An die Anfänge erinnert Jesaja, der Verfasser des Predigttextes. Er und seine Zuhörer sind schon in der zweiten Generation im Exil, nach verlorenem Krieg Gefangene der Babylonier. Doch nun kündigt er die Heimkehr an.
Wie schon die Vorväter aus Ägypten durch Gottes Hand befreit wurden, so erinnert er, so wird Gott auch nun die Gefangenen und Verstreuten zurückführen, weil er die Treue hält, die er seinem erwählten Volk geschworen hat. "Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!"
Es ist Absicht, dass Jesaja die Israeliten hier mit dem Namen "Jakob" anspricht. Denn Jakob ist der Vater der 12 Stämme Israels. Und es fällt auf, dass die befreiende Tat Gottes in Jesajas Augen bereits geschehen ist: "Ich habe dich erlöst", nicht: "Ich werde dich erlösen". So sicher ist er. Gott vergisst Israel nicht. Also fürchte dich nicht.
Und wir heute? Von Gefangenschaft kann bei uns doch keine Rede sein. So grenzenlos frei sind wir, dass wir Mühe haben, den Überblick zu behalten. Frei zu wohnen, wo wir wollen, freie Auswahl an Nahrung, Unterhaltung und Gesellschaft. Jeder Werbeblock im Fernsehen ist eine Serie von Hymnen an die Freiheit.
Sie merken wahrscheinlich schon: genau da ist der Haken. Das Überangebot macht mich unsicher. Ist es dort am günstigsten? Oder ist nicht dies hier viel interessanter? Brauche ich eigentlich noch dies, und hat womöglich der Nachbar schon das? Und frage ich eigentlich noch danach, wer die Zeche zahlt für die Annehmlichkeiten, die ich nicht mehr missen möchte?
Es klingt vielleicht nicht besonders originell, aber ich möchte die meisten von uns heute als "Gefangene der Freiheit" bezeichnen. Die Orientierung geht im Getümmel des allgemeinen permanenten Ausverkaufs verloren. Es kann passieren, dass ich mich im Supermarkt des Lebens verirre, wie ein Kind, das zwischen den Regalen auf einmal die Eltern nicht mehr findet.
"Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" Es tut gut, wenn uns jemand beim Namen ruft, wenn wir die Orientierung verloren haben. Ein überfüllter Bahnhof oder Flughafen, oder eine Feier mit zahllosen Gästen, lauter unbekannte Gesichter - dann tut es gut, einen Bekannten zu entdecken, der mich mit meinem Namen anspricht. Der mir das Gefühl nimmt, allein unter Fremden zu sein.
Heute ist der Sonntag des Taufgedächtnisses. Er soll an die Taufe erinnern, auch an die eigene. Nicht in dem Sinne, dass ich an die Einzelheiten zurückdenke, wie es bei meiner Taufe zugegangen ist. Das ist mir nicht möglich, und ich bin sicher nicht der einzige, der nur noch ein paar alte Fotos und vielleicht noch bruchstückhafte Erinnerungen an das hat, was andere mir erzählten.
Nein, der Sonntag heute will mich erinnern, dass ich getauft bin, und er stellt zugleich die Frage: Was bedeutet es denn eigentlich, dass ich getauft bin?
"Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" Die Stimme, die hier spricht, ist mir vertraut. Gott hat sich in der Taufe an meine Seite gestellt. Bei der Taufe wurde nicht nur mein Name genannt, sondern ich wurde auch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft. Mein Name wurde mit Christi Namen verbunden. Und damit hineingenommen in sein Leben.
Die Taufe bedeutet nicht nur einen ganz besonderen Moment zu Beginn unseres Lebens. Denn es geht da um unser ganzes Leben. Ein Mensch kann sich von der Kirche lossagen, kann sich von ihr trennen, ganz austreten. Wer nicht mehr Mitglied ist, verliert damit bestimmte kirchliche Rechte, kann z.B. nicht mehr Pate werden oder am Abendmahl teilnehmen. Aber die Taufe verliert er nicht.
Denken Sie nur an das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn, das ja eigentlich besser das Gleichnis vom wiedergewonnenen Sohn heißen müsste. Der Sohn verspielt und verliert, als er sich vom Vater trennt, den ausbezahlten Erbteil - doch er ist immer noch Sohn.
"Fürchte dich nicht!" heißt auch: in Kraft meiner Taufe muss ich keine Angst um mein Leben haben. Ich muss mich nicht vor Menschen fürchten, auch nicht vor Anforderungen, die mich manches Mal schier zu erdrücken scheinen. Ich muss nicht fürchten, zu kurz zu kommen, etwas zu verpassen in dem Supermarkt der grenzenlosen Freiheit. Gott nimmt mir die Angst um mein Leben. Ich muss mich nur darauf besinnen, in wessen Namen ich getauft bin.
"Ich habe dich bei deinem Namen gerufen." Jeder Mensch trägt seinen eigenen, unverwechselbaren Namen. Darüber denken wir nicht groß nach, es geschieht sozusagen automatisch. Und wenn es doch einmal mehr als einen Willi Müller im Dorf gibt, dann hat er in der Regel noch einen Zusatz- oder Spitznamen, der für Eindeutigkeit sorgt. Das ist gut so. Wir können nicht verwechselt werden. Auch nicht einfach ausgewechselt wie eine Nummer.
Und wenn Gott mich "bei meinem Namen" ruft, dann ist das ebenso eindeutig. Er ruft nicht "den Dritten von links" oder "den Langen mit dem Bart", sondern er meint mich, weil er mich kennt. Mein Name ist ihm vertraut, mein Name ist mit seinem verbunden.
Bei der Taufe werden Vor- und Nachname genannt. Der Familienname sagt, aus welchem Haus wir stammen, wohin wir gehören, wer unsere Nächsten sind. Ich brauche niemand zu erklären, wie wichtig die Menschen sind, die das Leben eines Kindes am Anfang prägen. Wir wissen doch auch selbst, wie entscheidend unsere Eltern, Großeltern und Geschwister unser Leben beeinflusst haben.
"Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." In der Vorstellungswelt des Alten Testaments hat die Kenntnis des Namens oft noch eine magische Dimension. Da ist der Einfluss aus Religionen der Nachbarvölker spürbar. Namen lassen sich beschwören, verfluchen, zum Zaubern verwenden. Dann klingt es unheimlich und bedrohlich: Du bist mein!
Doch der Gott, der diesen Satz spricht, ist ein anderer. Er ist in seiner Liebe so weit gegangen, uns Jesus Christus zu schicken. Vergessen wir das bitte nicht. Nach dem Leben und Sterben Jesu Christi kann ich "Du bist mein" nur als uneingeschränkte Liebeserklärung Gottes an mich verstehen. Zwar kann ich das manchmal kaum glauben, wenn ich in den Spiegel schaue, oder wenn ich abends denke, was ich den Tag über anders oder besser getan hätte, aber es ist so: Gott sagt "Du gehörst immer noch zu mir."
Ein Letztes. Und es fällt mir zugleich leicht und schwer, es zu sagen. Wenn uns dieser zentrale Satz des Predigttextes "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein" wahrscheinlich sehr vertraut klang, liegt es sicher daran, dass er am Anfang jeder Trauerfeier bei einem Begräbnis steht. Aber heute, am Sonntag des Taufgedächtnisses, möchte ich mit der falschen Vorstellung aufräumen, als hieße das nichts weiter als: Gott "ruft einen Menschen aus diesem Leben ab".
Gott steht am Anfang meines Lebens und am Ende. Und selbstverständlich auch dazwischen -nämlich "alle Tage", wie es der auferstandene Jesus seinen Jüngern im heutigen Evangelium versprochen hat. Und deshalb: Fürchte dich nicht! Amen.

Peter Kusenberg Pastor und freier Journalist
e-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de