Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch 
5. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli 2001
Predigt über Lukas 14, 25-33, verfaßt von Hans-Hermann Jantzen
Liebe Gemeinde,
bitte setzen Sie sich so hin, dass Sie fest sitzen und nicht umfallen können. Halten Sie sich notfalls am Nachbarn fest. Denn das, was Sie gleich zu hören bekommen, ist harter Tobak. Eine Zumutung, die einen umhauen kann.
Der Predigttext für diesen Sonntag steht bei Lukas im 14. Kapitel:
(25) Es ging aber eine große Menge mit Jesus; und er wandte sich um und sprach zu ihnen:
(26) Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.
(27) Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.
(28) Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen?
(29) Damit nicht, wenn er den Grund gelegt  hat und kann’s nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen über ihn zu spotten (30) und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann’s nicht ausführen!
(31) Oder welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen andern König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit Zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit Zwanzigtausend?
(32) Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden.
(33) So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.

Mensch, Jesus, das ist nun wirklich ein Hammer!
Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und nicht zuletzt mich selbst hassen – das ist nicht nur unmenschlich, das ist auch unchristlich. Das passt überhaupt nicht zu dem, was ich sonst von dir gehört und gelesen habe. Gerade noch hast du im Gleichnis vom großen Festmahl erzählt, wie großzügig Gott alle Menschen einlädt; sogar die von den Hecken und Zäunen dürfen mitfeiern! Und jetzt diese harten Worte. Du stößst doch die Leute, die sich um dich versammelt haben, vor den Kopf. Statt dich zu freuen, dass so viele gekommen sind, verprellst du sie nur. Wenn ich das so machen würde, z.B. am Heiligen Abend, wenn besonders viele hier sind, die Menschen wären empört und würden wieder gehen. Also, ich finde das völlig inakzeptabel. Was hast du dir bloß dabei gedacht?
Liebe Gemeinde, es ist unser gutes Recht, gegen die unglaubliche Zumutung des Predigttextes zu protestieren. Das Recht des biblischen Textes ist es, genau gelesen und gehört zu werden. Also nicht gleich beiseite legen, sondern uns darauf einlassen. Was will Jesus eigentlich?
Zunächst ist bemerkenswert, wie Lukas die verschiedenen Traditionsstücke miteinander kombiniert und ihnen damit eine neue, eigene Aussage gibt. Ursprünglich sind die beiden Jesussprüche und die beiden kleinen Gleichnisse getrennt überliefert worden. Die Sprüche finden wir ganz ähnlich auch bei Markus und Matthäus, die Gleichnisse nur bei Lukas. Die Kombination ist die schriftstellerische und theologische Leistung des Lukas.
Auf den ersten Blick scheint beides nicht zusammenzupassen. Fordern die beiden Sprüche gewissermaßen eine rigorose Selbstaufgabe, eine kompromisslose Nachfolge, so geht es in den Gleichnissen eher um Selbstprüfung. Ich muss mich selbst, die eigenen Kräfte kritisch prüfen, bevor ich eine so weitreichende Entscheidung treffe, mein Leben Jesus zu übergeben. Dadurch bekommt das Ganze einen anderen Akzent. Neben das harsche „entweder – oder“ tritt das Abwägen. Am Anfang meines Glaubensweges steht nicht die unmenschliche Entscheidung: Jesus oder Familie, sondern die Frage: Habe ich die Kraft, den Glauben auch in kritischen Zeiten durchzuhalten?
Diese Sicht wird von sprachlichen Erkenntnissen gestützt. Die überlieferten Jesusworte entsprechen semitischer Denk- und Sprechweise. Die bevorzugt kon-träre Gegensätze, die keine Zwischentöne zulassen: Licht und Finsternis; Wahrheit und Lüge; Liebe und Hass. So ist auch das griechische Wort für „hassen“ zu verstehen. Anders als im Deutschen ist es im hebräischen Denken nicht emotional gefärbt, bezeichnet also keine feindselige Haltung, sondern eine nachrangige Wertigkeit gegenüber dem, was ich liebe. So werden z.B. im 5. Buch Mose die Nebenfrauen eines Mannes gegenüber der Lieblingsfrau als die „gehassten“ Frauen bezeichnet. Trotzdem wird ihr Ehemann sie im Regelfall liebevoll behandelt haben. -
Ich habe Ihnen jetzt einige exegetische Überlegungen zugemutet, die normalerweise zu den Vorarbeiten einer Predigt gehören. Ich halte das in diesem Fall für wichtig, damit wir uns eben nicht aus emotionaler Abwehr den Zugang zum Text blockieren, sondern uns mit auf den Weg nehmen lassen. Als Zwischenergebnis halte ich fest: Wer mit Jesus gehen will, muss wissen, was er tut. Er muss sich über die Prioritäten in seinem Leben klar werden. Er kann nicht einfach so weiter leben wie bisher. 
Mit Jesus gehen. Ihm nachfolgen. Als Christ in dieser Welt leben. - Zwei Gedanken möchte ich dazu entfalten:
1. Der Glaube öffnet mir die Augen, meine geistlichen Kräfte realistisch einzuschätzen.
2. Der Glaube befreit mich von falschen Bindungen an Menschen und Dinge.

1: Die eigenen geistlichen Kräfte realistisch einschätzen.
Wer seine Kräfte überschätzt, fällt leicht auf den Bauch. Das gilt im Kleinen wie im Großen; im persönlichen Leben wie in der großen Politik. Die beiden Gleichnisse erzählen so schlicht wie eindrücklich davon. Das erste ist der kleinen Welt eines Bauern entnommen, das andere der großen Welt der Mächtigen. „Könnt ihr euch vorstellen, dass einer unter euch einen Wachtturm baut, ohne vorher genau die Kosten zu kalkulieren? Oder dass einer einen Krieg vom Zaun bricht, ohne vorher seine Soldaten zu zählen?“ Klar, dass jeder, der das hört, mit dem Brustton der Überzeugung antwortet: „Nein, niemals. Kein vernünftiger Mensch würde das tun.“
Was uns für das alltägliche Handeln sofort einleuchtet, gilt auch für den Glauben, für das Christsein. Habe ich die geistliche Kraft, das Vertrauen auf Gott durchzuhalten, auch wenn er mir verborgen bleibt? Oder traue ich doch lieber meiner eigenen Tüchtigkeit? Oder den Einflüsterungen anderer? Habe ich die geistliche Kraft, den Weg Jesu, den Weg der Hingabe, der Nächstenliebe und Vergebung mitzugehen? Oder setze ich doch lieber die Ellbogen ein, um nicht den Kürzeren zu ziehen?
Wenn ich mir solche Fragen ehrlich stelle, merke ich, wie schnell ich an meine Grenzen stoße. Es ist nicht weit her mit meiner Glaubenskraft. Immer wieder muss ich mir eingestehen, dass ich Gott in meiner Lebensrechnung vergessen habe; dass ich andere Menschen gekränkt habe; dass ich gleichgültig vorbei gegangen bin, wenn sie mich gebraucht hätten. Muss ich daraus die Konsequenz ziehen und mich vom Weg des Glaubens verabschieden? Kann ich mit meinen Zweifeln und Schwächen nicht Jesu Jünger sein?
An dieser Stelle kommt alles darauf an, dass wir uns klar machen, wer uns in die Nachfolge ruft. Es ist derselbe, der auch das Gleichnis vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn erzählt – von Lukas nicht zufällig gleich im Anschluss an unseren Predigtabschnitt aufgeschrieben. Jesus lädt ein zum Glauben an den Gott, der uns nachgeht, wenn wir in die Irre gegangen sind; der mit ausgebreiteten Armen auf uns wartet, auch wenn unser eigener Lebensentwurf in die Brüche gegangen ist. Unter diesem Blickwinkel spiegeln die beiden Gleichnisse plötzlich Erfahrungen mit Gott wieder. Und dann lese ich sie so: „Gott gleicht nicht jenem Bauern, der anfing, ein Wirtschaftsgebäude zu errichten, ohne vorher die Kosten zu kalkulieren. Sein Werk mit mir endet nicht als Bauruine.“ Oder: „Gott gleicht nicht dem König, der unter Fehleinschätzung seiner Kräfte einen Krieg beginnt. Er macht sein Friedensangebot aus der starken Position des Liebenden und überwindet so die Unversöhntheit der Welt.
So wird das, was auf den ersten Blick unzumutbar erscheint, zur werbenden Einladung zum Leben. Gerade wenn wir unsere geistlichen Kräfte realistisch einschätzen und mit leeren Händen vor Got treten, können wir die Nachfolge wagen. Weil wir darauf vertrauen können: Gott geht mit uns. Er hält und trägt uns.

2: Freiheit von falschen Bindungen.
Wer sich von Gott geliebt und beschenkt weiß, wird nicht einfach so weiter leben wie bisher: alles wie gehabt, nur ein bisschen Religion als „Sahnehäubchen“ obendrauf. In der Nachfolge Jesu verschieben sich die Prioritäten. Men-schen und Dinge, die bisher für das Lebensglück unentbehrlich schienen, treten in die zweite Reihe. Die Fülle des Lebens, die aus Gott fließt, steht vor allem andern. So dürfen wir das radikale Jesuswort vom „Hass“ auf alle und alles, was uns lieb und teuer ist, deuten. Noch einmal zugespitzt im letzten Vers: „Wer sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.“
In der Geschichte der Christenheit hat es immer wieder Gruppen gegeben, die für sich daraus die Konsequenz gezogen haben, auf jeglichen Besitz und auf familiäre Bindungen zu verzichten. Das griechische Wort für Lossagen  ist in der alten Kirche zum Kennzeichen der Mönche geworden.
Zweifellos kann das ein Weg der Nachfolge sein. Mit seiner kritischen Distanz zum Besitz stand Jesus solchen Bewegungen durchaus nahe. Allerdings hat er kein verbindliches Armutsprinzip verkündet für alle, die ihm nachfolgen wollen. Ihm geht es um die Prioritäten. Wenn ich mein Leben ganz und gar von Gott her verstehe, dann kann ich auch die Menschen, die ich liebe, dankbar aus seiner Hand nehmen. Dann kann ich auch genießen, was Gott mir an schönen Dingen zum Leben schenkt. Ich darf vieles haben und mich daran freuen, so lange es mir nicht den Blick auf Gottes Weg mit mir verstellt. 
Keiner hat das so treffend auf den Punkt gebracht wie der Apostel Paulus: „Haben als hätte man nicht.“ Genau das ist gemeint. Jederzeit loslassen können, wenn ich merke, dass Menschen oder Dinge mich gefangen nehmen und von Gott abbringen. Das ist keine Miesmacherei, sondern eine notwendige Mahnung: Es darf nicht sein, dass die Dinge, die wir besitzen, uns besitzen.
Wie schwer das ist, hat jeder schon für sich erfahren. Wir wissen das auch nicht erst seit Globalisierung und Börsenfieber. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom April dieses Jahres hat erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt, wie viel Reichtum sich in privater Hand angehäuft hat. Auf der anderen Seite leben immer mehr Menschen, erschreckender Weise auch immer mehr Kinder, in unserm reichen Land unter der Armutsgrenze. Da steht es den christlichen Kirchen gut an, die Habenden nach-drücklich an die Sozialpflichtigkeit ihres Eigentums zu erinnern. Und sie können das umso glaubwürdiger tun, je weniger sie sich selber an Privilegien und Besitzstände klammern. -
Nachfolge hat ihren Preis. Die gute Nachricht von der Gnade Gottes ist keine Billigware. Und Jesus ist kein Billiger Jakob, der seine Botschaft verschleudert. Daran erinnert uns der heutige Predigttext mit empfindlicher Deutlichkeit. 
Dennoch: Jesus will nicht abschrecken, sondern einladen. Ihm ist es nicht um eine kompromisslose Jüngerelite zu tun, sondern er wirbt um jeden und jede, die seine Worte hören. In dem Maße, in dem wir uns auf seinen Weg des unbedingten Gottvertrauens einlassen, werden wir es ler-nen, die richtigen Prioritäten zu setzen. Auch als Christen werden wir in dieser Welt nicht ohne Kompromisse auskommen. Aber vom lateinischen Wortsinn her bedeutet das ja ursprünglich: „cum promissionibus“, mit den Verheißungen Gottes leben. Im Vertrauen auf seine Verheißung: „Ich werde bei euch sein. Ich lebe, und ihr sollt auch leben!“ können wir uns getrost auf den Weg machen. Gott wird das gute Werk, das er mit uns angefangen hat, auch vollenden. Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent in Lüneburg
 

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